Читать книгу Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez - Страница 29
Einsame Geburt
ОглавлениеIgis, Pfarrhaus, Januar 1931. Tag um Tag verging, und jeden Tag verlor Greti Fruchtwasser.394 Immer wieder hatte sie Schmerzen in der Gebärmutter.395 Dr. Jeklin untersuchte sie und stellte fest, dass das Kind in Steisslage lag. Sie sehnte sich nach Gian und war doch froh, dass er sie in diesem Zustand nicht sah. Liebes, sei Du froh, dass Du nicht hier bist. Es wäre schwer für Dich, untätig meine stumpfe Verzweiflung zu sehen. Tagsüber, im hellen Sonnenschein, geht es, aber wenn es anfängt zu dunkeln und ich immer müder werde, dann muss ich allein sein, stehe in der dunkeln Stube und starre hinaus gegen die Berge, von denen noch ein mattes, blauweisses Licht fliesst.396
Sie mochte nicht müssig herumsitzen und nutzte die Zeit, um an einem Berufsbild für Theologinnen zu arbeiten.397 Darin wollte sie nicht nur begründen, warum sie Frauen für ebenso geeignet hielt wie Männer, um Gottes Wort zu verkünden, sondern auch einen Überblick über die Fortschritte in Sachen Pfarramt für Frauen geben. Sechs Tage nach dem Blasensprung spürte sie beim Erwachen Wasser zwischen den Beinen. Am Freitag morgen fing es an so stark zu gehen, dass ich unserem Kleinen vier Windeln einweihte.398
Ungeduldig wartete Greti auf die Morgenpost, die die Basler Nachrichten brachte.399 Darin fand sie den ersehnten Bericht der Synode: Verwendung der Frau im Kirchendienst400 war der zweispaltige Artikel überschrieben, der die Debatte ausführlich wiedergab und auch die erwartungsvolle Stimmung unter den zahlreichen Frauen auf der Tribüne beschrieb.401 Die Voten waren überwiegend positiv, ebenso das Resultat: Die Basler Kirche schuf ein neues Hilfsamt, Theologinnen durften fortan als Pfarrhelferinnen seelsorgerisch tätig sein und aushilfsweise auch Predigten und alle weiteren kirchlichen Amtshandlungen – Trauungen, Beerdigungen und Taufen – vornehmen. Sie erhielten so einen ähnlichen Status wie ihre Kolleginnen in Zürich, mit dem symbolischen, aber nicht unwichtigen Unterschied, dass die Basler Kirche auch eine Ordination der Theologinnen vorsah.
Der Entscheid befriedigte Greti nicht ganz. Sie wollte sich nicht mit einem eingeschränkten Pfarramt zufriedengeben, sah aber auch, dass sie und ihre Mitstreiterinnen bei der politischen Grosswetterlage kaum auf mehr hoffen konnten.402 Sie arbeitete die Nachricht aus Basel in ihr Berufsbild ein. Mittags schlief sie zwei Stunden tief und fest. Dann setzte sie sich wieder an die Schreibmaschine und schrieb. Als ich die Korrektur403 las, fingen die leisen ersten Schmerzen an, und zwischen den beiden ersten starken Wehen schrieb ich mit zittriger Hand die Adresse. Sie war dankbar, dass das Kind so lange gewartet hatte. Mehr Verständnis kann ich von ihm nie verlangen!404
Dann ging es endlich richtig los.405 Die Wehen wurden schnell heftiger, die Abstände dazwischen immer kürzer. Bei jeder Welle hielt sich Greti mit beiden Händen an einer Stuhllehne fest. Als sie nicht mehr stehen konnte, führte Anny, die Hebamme, sie ins Schlafzimmer und zog ihr ein Nachthemd und das weisse Bettjäckchen an, das die Schwiegermutter aus Pontresina geschickt hatte. Bei jeder Wehe stützte die Hebamme Greti im Rücken. Um halb zehn Uhr abends kam Dr. Jeklin und untersuchte sie. Der Kopf des Kindes sei zuvorderst, alles komme gut. Wie es bei Sterbenden oft vorkommt, so trug ich heftiges Verlangen, aufzustehen, wegzugehen und alles zurückzulassen. Zum Ersatz richtete ich mich mühsam in die Knie auf und stemmte mit den Händen gegen die Bettstatt. Ich hörte den Arzt sagen: «Eine jede sucht sich anders zu helfen.» Nach einer Weile hiess er mich, mich wieder hinzulegen, weil er so keine Kontrolle habe. Ich wartete immer noch darauf, dass die Schmerzen nun so stark werden würden, dass ich schreien müsste. Die Hebamme presste nun Gretis angezogenen Knie gegen ihren Leib. Ganz unten hinaus, fest, so ist’s recht, tief atmen und grad noch einmal, redete sie der Gebärenden zu. Nach einer Weile merkte Greti, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hörte den Arzt sagen: Es verhält irgendwo. Er versuchte nachzuhelfen, drückte vom Darm und von der Blase her, doch ohne Erfolg.
Ich kämpfte weiter, das Schwierigste war wieder einmal das Warum in meinem Leben: warum ging es denn nicht vorwärts. Eine Narkose war vollkommen ausgeschlossen, da ich ja alles selber tun musste.406 Dazu waren die Schmerzen ja sehr leicht zu ertragen. Es verrann wieder eine Stunde, da plötzlich, ohne dass ich selber etwas Besonderes spürte, sagte der Arzt: Jetzt haben wir den Kopf und jetzt auch grad das Popeli. Es lag einfach plötzlich da und soll schon mit der Nase geschnuppert haben, bevor es brüllte. Ich sah zwei rosige Beinlein und zwei Ärmlein zwischen meinen Beinen in der Luft herumfahren und hörte zwei kräftige Kläpse klatschen, dann schrie ein hohes Stimmlein zweimal auf.
Sie fingen an, den Nabelstrang zu unterbinden, als ich unsern Sohn mit den Worten begrüsste: Könnt Ihr ihn nicht ein bisschen weiter wegnehmen? Er strampelte mit seinen Füsschen immer gegen meine wunde Stelle, so dass ich ihn von Herzen wegwünschte. Sie schnitten ihn ab und badeten ihn. Er wurde gewogen: Mami durfte ihn auf die Arme nehmen: Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Sie wollte ihn mir bringen, ich schüttelte nur den Kopf, denn die wunde Stelle brannte mich entsetzlich, auch war die Nachgeburt noch bei mir. Nun kamen sie wieder zu mir. Dr. Jeklin machte ein paar Press- und Drückbewegungen auf meinem Bauch und plötzlich ging ein ungeheurer, warmer Blutkuchen ab, und sofort war mir «vögeliwohl». Ich hatte aber noch etwas vor mir: Der grosse Bub hatte mir drei Dammrisse gerissen, sie mussten noch vernäht werden, ich gab aber keinen Laut von mir. Und nun begann ein allgemeines Lob über meine Tapferkeit während der ganzen Nacht. Als ob sie denn wüssten, wie wenig oder wie sehr es wehgetan. Wenn ich kein einziges Mal geschrien, so war dies sicher nur, weil ich eben nicht musste. Als der Dr. sagte: «Es ist doch nicht, dass es ein Bub ist?», antwortete ich: «Ja, aber das nächste muss dann ein Mädchen sein!» Ich dachte also schon an das nächste!
In São Paulo wartete Gian schon seit Tagen auf eine Nachricht. Am 24. Januar frühmorgens war es soweit.407
CABOGRAMMA
M. 1 LANDQUART 12 3.30 24 ZIR
CAPREZ
RUA 7 ABRIL 68 SPAULO
SOHN SAMSTAG 3 UHR BEIDE WOHL
GRETI
Auf dem Weg zum Polytechnikum ging er beim Telegrafenamt vorbei.
GROSSE FREUDE
WUENSCHE GUTE GENESUNG ERWARTE
LETTERTELE JETZTIGES BEFINDEN
FREUNDLICH WORT GIANIN
Im Büro behielt er die Neuigkeit für sich.408 Sie schien ihm zu kostbar, um sie mit jemandem zu teilen. Als er abends nach Hause kam, wartete die erbetene Antwort.
NORMALER VORGANG BEGINN NEUNZEHN ENDE DREI UHR
NEUN PFUND BEIDE MUNTER409 FREUDE
GRETI
Immer wieder schaute sich Gian die beiden kleinen Fotos an, die Greti ihm vor einigen Wochen geschickt hatte von sich und dem leeren Korb.410 Liebes, wie hast Du es überstanden, und «er», wie sieht denn «er» aus?, erkundigte er sich. Es ist schon so unrecht, dass ich hier wie ein Murmeltier schlafe und mich so wohl wie nur möglich fühle, währenddessen Du Dich in Schmerzen quälst. Wirst Du diese Nacht wohl schlafen können? Du musst mir dann jeden Abend erzählen, was Du alles erlebt und gefühlt hast, seitdem Du von mir fort bist, sonst verliere ich den Zusammenhang zwischen uns beiden und «ihm», und «es» soll mir doch nicht fremd vorkommen.411
Während Gian diese Zeilen schrieb, brach fast zehntausend Kilometer412 weit weg in Igis der Morgen an. Greti erwachte nach der ersten kurzen Nacht als Mutter. Auf dem Tisch stand ein Strauss roter Nelken, den ihre Freundin Verena mitgebracht hatte.413 Greti fühlte sich sehr müde, aber gleichzeitig munter.414 Neben ihr lag das Kind im Zainli und schlief.415 Komisches Gefühl, dass «es» nicht mehr bei uns ist und «selbständig» und so gross in seinem Korb.416 Sie nahm den Brief zur Hand, den sie drei Tage zuvor angefangen hatte, als sie noch verzweifelt am Warten war, und fügte mit zittriger Schrift ein paar Zeilen hinzu.
Sonntag, 25. Januar 1931
Brüderlein, hast Du mir einen «Gwaltgüggel» mitgegeben! Er ist sehr gross: neun Pfund. Durchschnitt eines Neugeborenen: 6,2 Pfund. Ich hatte nicht gewusst, dass so ein eintägiges Wesen so brüllen kann. Er hat die letzte, seine erste ganze, Nacht gebrüllt von zehn bis vier Uhr ohne Unterlass und von da an ein bisschen ergebener und mit Unterbruch. Brüderlein, wir werden beide fest zusammenstehen müssen, um seinen Starrkopf anheben zu mögen. Von der Geburt schreibe ich Dir morgen. Heute noch zu müde.417
Zwei Wochen später hielt Gian den Brief mit dem ausführlichen Geburtsbericht in Händen. Als er ihn las, war er erleichtert und stolz zugleich. Du gutes tapferes Greti, Liebste, weisst Du denn, welche Freude ich an Deinem Brief habe!418 Ich kauerte vor jedem Satz, las ihn langsam und gespannt und fand mich bald laut lachend, bald misstrauisch abwartend und ernst. Aber Du hast so glänzend geschildert, dass ich es miterlebte, als ob ich auch bei Dir gewesen wäre, dazu wusste ich ja auch, dass es nicht sehr schlimm kommen sollte, was ich, wenn ich bei Dir selbst gewesen, nicht hätte wissen können. Und wie das Kind419 in Nanis Arme gelegt wurde, da merkte ich, dass auch ich feuchte Augen hatte. Dass Du es von Dir weghaben wolltest, begreife ich gut, es freut mich «usinnig», wie Du Dich verhalten hast. Deine Sachlichkeit ist ganz glänzend.420
Noch immer konnte Greti kaum glauben, dass sie dieses Kind empfangen, ausgetragen und geboren hatte. In Gedanken nannte sie die Zeugung das Wunder vom 14. April.421 Dass sie den Zeitpunkt der Empfängnis genau geplant hatte, daran wollte sie sich mittlerweile nicht mehr erinnern. Es ist zu mir gekommen aus Eigenwillen, da wir meinten, sein Dasein noch nicht verantworten zu können. Da «es» nun aber wider unseren Willen uns geworden war, konnte es nicht anders sein als dass «es» uns geschenkt worden.422 Das Wunder hatte jetzt einen Namen: Gian Andrea Caprez. Gretis Vater bedauerte, dass der Enkel nicht Roffler hiess.423 Sie pflichtete ihm insgeheim bei, trauerte aber nicht um den Stammhalter, sondern um die Anerkennung ihres Beitrags an dem kleinen Wunder. Ganz recht ist es nicht: die Mühen haben wir Frauen, aber unseren Namen dürfen wir dem Erfolg der Schmerzen nicht geben. Aber Name ist Schall und Rauch. Wie der Mensch ist, ist die Hauptsache.424 Für beide Grosselternpaare war Gian Andrea das erste Enkelkind. Sie nannten es liebevoll Hans-Hühnchen und wussten sich nicht zu fassen vor Freude.425
Die Erziehung war für Greti vom ersten Tag an ein Kampf. Gemäss der modernsten Säuglingspflege sollte eine Mutter ihr Kind alle vier Stunden stillen, angefangen um sechs Uhr früh. Um zehn Uhr abends gab sie ihm die letzte Mahlzeit, danach für acht Stunden nichts mehr. Hebamme Anny blieb die ersten drei Wochen nach der Geburt im Pfarrhaus und unterstützte Greti dabei, den Stillrhythmus einzuhalten. Die Grossmütter zeigten sich skeptisch, ein solch strenges Regime war ihnen fremd. Doch Greti wollte das Kind früh ans Durchschlafen gewöhnen.426 Es sei ja zum Besten für alle, rechtfertigte sie sich vor Gian. Wenn die beiden Nanis erzählen, dass sie bei ihren Kindern ein ganzes Jahr jede Nacht fünf bis sechsmal aufgestanden seien, so will ich lieber jetzt noch ein paar Nächte das Geschrei und die Bächlein meiner Milch, dafür aber nachher Ruhe für mich, Dich und es.427
So leicht, wie Greti gehofft hatte, gewöhnte sich Gian Andrea allerdings nicht an die Stilldisziplin. Hans-Hühnchen versucht es noch jede Nacht, unsere Herzen zu erweichen, berichtete sie Gian am vierten Tag nach der Geburt. Aber weder die «Gluggeri» noch die Mutter sind barmherzig. Sie schweigen, wenn sie auch nicht schlafen können. Freilich wenn man bedenkt, dass er von vier bis halb sechs brüllt, schmatzt und mit offenem Mäulchen in der Luft herumfährt, es an seinen Fäustchen und dem Kopfkissen versucht und unterdessen aus der übervollen Brust der Mutter zwei Bächlein rinnen, so ist dies viel geopfert für den Götzen Erziehung.428 Sie fühlte sich ohnmächtig, und in ihr regten sich leise Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei. Doch dann riss sie sich zusammen. Es muss werden, wir müssen es zum Durchschlafen, zu acht Stunden Ruhe bringen.429
Am sechsten Tag war Greti der Verzweiflung nah. Das Kind brüllte nachts immer noch zwei Stunden, obschon es tagsüber viel trank. Sie befürchtete, die Erziehung werde so nie gelingen.430 Die Nächte waren eine Qual, und auch tagsüber kam Greti nicht zur Ruhe. Der Besuch gab sich die Klinke in die Hand, Gians Mutter hatte sich gleich für mehrere Tage einquartiert. Sie sehnte sich danach, zwei Tage am Stück ganz allein zu sein mit dem Kind.431 Nur über den Besuch ihrer Freundin Verena freute sie sich. Verena, die Weggefährtin, mit der Greti alles besprechen konnte, was sie bewegte: die Arbeit als Theologin, Ehe und Mutterschaft und die Möglichkeit, alles miteinander zu verbinden.
Die beiden waren schon einen langen Weg zusammengegangen. Während des Studiums hatten sie es beide nicht für möglich gehalten, Pfarramt und Familie zu vereinbaren, und im Sommer 1928 hatten beide eine Entscheidung getroffen, die sie für definitiv hielten. Verena wählte die Berufung und trennte sich von ihrem Liebsten, Greti stand kurz davor, das Studium aufzugeben und zu heiraten. Jede bewunderte die andere für ihre Klarheit und versuchte, sie gleichzeitig für die eigene Überzeugung zu gewinnen. In ihren Briefen hielten sie Zwiesprache.
Greti: Wovon träumst denn eigentlich Du, wenn Du träumst? (…) Verena, ich möchte Dich einmal lieben sehen, ganz und ehrlich. Es wäre auch Dir Erfüllung, nicht Erfüllung des demütig liebenden Weibes, aber Erfüllung Deines Menschen, wie es eben auch ein jedem Manne Erfüllung seines Menschen ist.432
Verena: Ich glaube schon, dass die Ehe eine Erfüllung ist. Aber sie ist nicht die Erfüllung des Lebens. Ich denke, für den Christen wird das selbstverständlich sein. Die Ehe, die wirkliche Ehe, ist nichts Naturhaftes, sondern etwas Geistiges433, und deshalb ist sie (…) auch irgendwie Berufung.434
Greti: Was nützt es denn, dass wir diese Ideale haben, wenn der, den wir lieben, nicht so viel verdient, dass wir eine Magd haben können, denn zum Weibtum gehört das Putzen und Windelnwaschen. «Die Dinge sehen, wie sie sind.»435
Verena: Du musst nicht denken, dass ich meinen Weg für eine Lösung der Frauenfrage halte. Das wäre eine höchst verzweifelte Lösung oder vielmehr der grundsätzliche Verzicht auf eine Lösung. (…) Die Lösung der Frauenfrage (…) kann meines Erachtens nur darin liegen, dass es immer mehr auch der im Beruf stehenden Frau ermöglicht wird, zu heiraten.436
Greti: Dass es Dir schwer wird, Deine Kraft, die Du doch für so unendlich Wichtigeres und Grösseres einsetzen kannst, für solche Dinge zu brauchen, begreife ich wohl.437 Die Frage «Frau und Studium» löst sich mir eben so, dass ich mein Leben in die Hand Gottes gegeben.
Verena: Ich glaube, dass auch die Theologie noch weiter irgendwie einen Anspruch an Dich hat. Siehst Du, es ist doch etwas vom Allerwichtigsten438, dass es innerhalb der Ehe, gerade unter den Hausfrauen, Menschen gibt, die nicht darin aufgeben.439 Dann werden die Grenzen, die Du Deiner Wirksamkeit als Frau steckst, schon nicht zu enge werden, auch wenn Du gar nichts Theologisches mehr treibst. Wir brauchen Dich, Dein Mitwissen, Deine Teilnahme, Dein Verständnis.440
Schliesslich hatten sie beide, jede für sich, gespürt, dass eine Beschränkung auf das Eine oder das Andere nicht das Richtige wäre. Verena war zu Walter zurückgekehrt, Greti hatte weiter studiert. Und irgendwann war in ihnen die Überzeugung gereift, dass Ehe und Beruf zu vereinen sein müssten, und dass, wenn andere es nicht für möglich hielten, sie es ihnen beweisen würden. Nun, da sie Abschluss und Trauschein441 besassen, standen sie vor der Frage, wie sie ihre Utopie verwirklichen konnten. Verena träumte davon, mit ihrem Mann zusammen ein Pfarramt zu übernehmen. Zusammen hatten sie sich in Hundwil im Hinterland des Kantons Appenzell Ausserrhoden beworben – er als Gemeindepfarrer, sie als seine Mitarbeiterin. Zunächst sah es eigentlich gut aus für sie. Der Kirchenvorstand zeigte sich offen, wollte aber vor der Zusage die Meinung der Kantonalkirche einholen.442 Der Kirchenrat und die Synode reagierten positiv, mahnten aber, die Theologin dürfe nicht zu oft predigen. Zu weit wollte man nicht gehen, ein halbes Pfarramt solle in Hundwil nicht entstehen. Trotz dieses verheissungsvollen Signals entschied sich die Kirchgemeinde schliesslich für einen Pfarrer, der im Dorf schon länger bekannt war.443 Zur Zeit versuchten es Verena und Walter im glarnerischen Mollis, wo die Pfarrstelle schon länger verwaist war.444 Grosse Chancen rechnete sich Verena jedoch nicht aus.
Greti betrachtete Verena, die an ihrem Bett sass. Sie war bis jetzt immer influenzakrank. Sie hat auch ganz magere Hände. Überhaupt ist sie müde und deprimiert.445 Offensichtlich zermürbte der Kampf die Freundin. Doch sie war zäh. Den Kopf in den Sand zu stecken, kam für sie nicht in Frage, auch darin waren sich die beiden Frauen ähnlich. Verena liess keine Gelegenheit aus, für ihre Sache zu weibeln. Ihren Vortrag über die Mithilfe der Frau in Kirche und Gemeindedienst konnte sie an vielen Orten halten, und er stiess auf grosses Interesse. Diskutierte irgendein kirchliches Gremium über die Zulassung von Pfarrerinnen, nahm Verena dazu Stellung, in einem direkten Brief an die Verantwortlichen oder einem Leserbrief.446 Ausserdem wollte sie den Austausch unter Kolleginnen fördern. Vor Kurzem hatte sie die Schweizer Theologinnen zusammengerufen, am Rand der Generalversammlung des Schweizerischen Verbands der Akademikerinnen in Zürich. Auch Greti war dabei gewesen, hochschwanger.447 Zu sehen, wie viele sie schon waren und wie jede an ihrem Ort für die gleiche Sache kämpfte, gab ihnen neuen Schwung.
Die Zahl der Theologinnen wuchs von Jahr zu Jahr. Zwar sassen die Studentinnen an den theologischen Fakultäten in Zürich, Bern und Basel immer noch allein oder höchstens zu zweit im Seminar.448 Doch zusammen mit den ausgebildeten Theologinnen waren sie nun schon über ein Dutzend, verstreut über die ganze Schweiz.449 Verena trug sich darum mit der Idee, einen Rundbrief zu initiieren, ein Forum für den Austausch zu praktischen Fragen, aber auch zum taktischen Vorgehen im Kampf für das Pfarramt.450
Als Verena abgereist war, versank Greti wieder im Trübsinn. Es geht uns beiden nicht sonderlich gut, berichtete sie Gian niedergeschlagen. Das Kind schlief immer noch nicht durch, und es wollte partout nicht zunehmen. Sie hatte starke Blutungen und befürchtete, ein Teil der Nachgeburt stecke noch in der Gebärmutter. Drei Wochen nach der Geburt reiste auch Schwester Anny ab, unter deren Fittichen sich Greti einigermassen sicher gefühlt hatte. Sie kam sich verlassen und hilflos vor wie ein verlorenes Kind.451 Die gut gemeinten Ratschläge von Mutter und Schwiegermutter halfen ihr nicht weiter. Die beiden Nani geben sich nun grosse Mühe, mir die Seligkeit des Kinderhabens und die Süssigkeit des Windelnwaschens klarzumachen und die Pflicht, das selber zu tun. Und ich habe es fast geglaubt. Abends, als ich dann allein war, hatte ich Moralischen und habe ein bisschen geheult, weil ich dachte, ich werde eine sehr schlechte Mutter werden.452
Mitten in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung hatte Greti einen brutalen Traum.453 Gian und sie feierten in einem Hotelzimmer in Zürich ihr Wiedersehen. Es sah genauso aus wie das Zimmer, in dem Gian Andrea und ich jetzt hausen. Wir zogen uns aus und legten uns zu Bett, ich gegen die Wandseite. Mein Herz war voll gespannter Erwartung und heisser Freude, nun würde all das wieder kommen, was früher gewesen. Da merkte ich, dass Du zögertest, dass Du zwar auch wolltest, Dich aber etwas hinderte, und dass Du mir dies doch zugleich gerne verborgen hättest. Und plötzlich sah ich es: Dein rechtes Bein war verstümmelt, es endete beim Knie in einem schmerzenden, roten Stummel. Eine Welle heisser und echter Liebe durchflutete mich, und ich suchte Dir zu zeigen, dass ich Dich so nicht weniger lieb hätte, beugte mich über Dich und streichelte und tröstete Dich unablässig. Wir waren beide traurig, als ich plötzlich eine grosse Freude spürte, Du schautest verwundert in meine freudestrahlenden Augen. Ich sagte fast jubelnd: «Jetzt muss ich nie mehr Angst haben, dass Du …», ich schwieg. Du verstandest sofort: «Dass ich auf einer verwageten Ski- oder Bergtour ums Leben komme und Dir so genommen werde.»
Ich lag so halb auf Dir, als plötzlich die Türe aufging, das Zimmermädchen hereintrat und schrie, wenn wir so beieinander seien, hätten wir sofort das Zimmer zu räumen. Ich war mit einem Satz zum Bett hinaus und stand bebend vor Zorn vor ihr, weil sie uns gestört im Heiligsten, da wir uns doch eben erst wieder seelisch einander fürs Leben neu gewonnen und verbunden hatten. So schrie ich sie an, sie hätte hier gar nichts zu suchen, wir wären verheiratet, im Übrigen sei das egal und gehe sie nichts an. Sie öffnete den Kasten, um meinen Pass zu suchen und daraus meinen Civilstand zu ersehen. Ich wurde noch wütender, da sie offenbar so zu Dir stand, dass sie es wagen durfte, Dir über den Kasten zu gehen – Jäh erwachte Greti. Unvermittelt wurde ihr bewusst, wie sehr sie auf Gian angewiesen war. Gerade jetzt, in diesem Moment, wo sie sich mit dem Kind so furchtbar allein fühlte, hätte sie ihn nötig gehabt. Das Bild des verkrüppelten Mannes stimmte sie froh, denn es besänftigte ihre Angst: Seit der Geburt spürte sie das Kind wie einen Klotz am Bein, es machte sie unfrei und von Gian abhängig. Mit seinem schmerzenden roten Stummel musste nun auch er bei ihr bleiben.
Jahrzehnte später wird sich Gretis Traum auf schreckliche Weise bewahrheiten: Nicht ihr Mann, sondern ihr Sohn Gian Andrea, der jetzt an ihrer Brust liegt, wird bei einem Lawinenunglück ums Leben kommen, mit knapp über fünfzig Jahren.