Читать книгу Die Bluthunde von Paris - Christina Geiselhart - Страница 5

1. Kapitel

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Frühjahr 1774

Als Philippine zur Welt kam, war ihr Vater im Begriff die Waden eines Häftlings zwischen die Eisenplatten des Spanischen Stiefels zu spannen. Der Verhörvollstrecker ließ sich vom Gewinsel des Verurteilten nicht erschüttern. „Hab Erbarmen, sonst komm ich in meiner Todesstunde auf allen Vieren daher. Mein Sohn Albano aber soll mich aufrecht in Erinnerung behalten“, bettelte das Opfer gequält. Doch Karl schüttete heißes Blei nach und drehte fester.

Charlemagne Sanson, von Familie und Freunden Karl genannt, bekleidete seit drei Monaten das Amt des Verhörvollstreckers in Paris. Dass seine Frau heute niederkam, hatte er vergessen, denn sie kam fast jedes Jahr nieder. Zwei von den fünf Kindern waren mittlerweile gestorben, weshalb also sollte er sein Herz an ein weiteres hängen? Wichtiger war sein Beruf.

Er brachte ihm 3000 Livres pro Jahr ein und sicherte ihm, kraft des königlichen Erlasses, viele Lebensmittel umsonst. Jede Eierfrau, die ihm über den Weg lief, schuldete ihm ein Ei, jedem Milchverkäufer durfte er ein Viertel Milch abnehmen, dem Obst- und Gemüsehändler zwei Äpfel oder zwei Tomaten und dem Bäcker einen Laib Brot. Schwieriger war es gewesen, ein Dach über dem Kopf zu finden. Das abergläubische Volk fürchtete ihn. An seinen Händen klebte Blut, seine Arme peitschten, schlugen, seine Finger rissen Haare aus, fügten Brandwunden zu. Diesen finsteren Mann zu beherbergen, kann von Gott nur bestraft werden, sagten sich die Bürger von Paris und verschlossen ihre Türen, wenn Karl anklopfte. Deshalb begnügte sich der Folterer nach gewisser Zeit mit einem baufälligen Haus im Norden, nicht mehr als achthundert Meter von der Stadtgrenze entfernt. Ein geräumiger Holzschuppen lehnte an der südwestlichen Mauer des Gebäudes, während sich seine Südfront zu einer weiten Wiese hin öffnete, die zum Seineufer abfiel. Er lebte gut und träumte davon, einen Gehilfen einzustellen. Ja, er lebte gut, dennoch war er ruppig, argwöhnisch, immer schlechter Laune.

*

Freitagabend. Erschöpft stapfte Karl durch die Tür des einfachen Hauses in Saint-Ouen. Bei seinem Eintreten verstummte das Geplapper der Kinder und unbeweglich wie kleine Statuen blickten sie auf den finsteren Mann. Ohne nach seiner Frau zu fragen, setzte sich dieser an den gedeckten Tisch. Großmutter Marthe hatte Huhn im Topf zubereitet und der würzige Dampf, der von seinem Teller aufstieg, steigerte Karls Appetit. Heißhungrig tauchte er den Löffel hinein. Jetzt durften auch die Kinder zu ihrem Besteck greifen und ohne Lärm zu machen, löffelten sie brav ihre Suppe. Außer Karls Schmatzen und dem Kratzen des Bestecks im Teller war nichts zu hören.

Normalerweise lebte Großmutter Marthe bei ihrem ältesten Enkel, dem Henker von Paris. Doch Karls Not hatte sie herbeigerufen. Zum ersten Mal schien seine Frau Lea unter einer Schwangerschaft ernsthaft zu leiden sodass sie zu nichts mehr taugte. Die letzten Wochen vor der Niederkunft hatte sie weder gewaschen, noch die Stube geschrubbt, nicht geputzt und gekocht, kein Holz gehackt, keinen einzigen Eimer Wasser getragen und sich schon gar nicht um die Mädchen gekümmert, die allmählich verdreckten und Läuse bekamen. Lea lag schwer atmend herum. Alles, was sie zustande brachte, waren Häkel- und Strickarbeiten. Das wiederum gelang ihr sehr gut. Es entstanden hübsche Leibchen mit Blumenmuster. Da aber auch diese Tätigkeit von ihrem andauernden Stöhnen und Röcheln, von Jammern und Tränen begleitet wurde, fürchtete Marthe das Schlimmste. Am Tag der Geburt lag Lea leichenblass im Laken und atmete kaum. Ihre Hände wirkten abgestorben, das herrliche Haar farblos, die Lippen blutleer, und die grünen Augen blickten wie schwarze Tümpel.

„Sie macht es nicht mehr lange. Es wäre also anständig von dir, nach ihr und dem Neugeborenen zu sehen, bevor sie das Zeitliche segnet.“ Marthe hatte Karl kommen hören und stand nun vor ihm. Bei ihrem plötzlichen Erscheinen verbrannte er sich die Lippen an der Suppe.

„Ist es wieder ein Mädchen?“, schlürfte er ungehalten. Marthe nickte und bekreuzigte sich.

„Verdammt und Teufel noch mal! Hab’ ich nicht schon genug Weiber im Haus? Wir brauchen einen Kerl, einen, der mithilft. Ich schaffe es nicht, alles allein zu besorgen, und ein Gehilfe frisst mir nur die Haare vom Kopf!“

„Dummes Geschwätz. Du verdienst genug mit deinem abscheulichen Handwerk, um dir einen Gehilfen leisten zu können.“

„So abscheulich wie zu deiner Zeit, Großmutter, ist mein Beruf nicht mehr!“ Karl schlug auf den Tisch, dass der Teller einen Satz machte und die Brühe überschwappte. „Die Methoden sind sanfter. Es wird nicht mehr gerädert. Das Radebrechen nenn’ ich ein abscheuliches Handwerk. Zuerst wurden dem Verurteilten mit Krammen und Brecheln die Gliedmaße zerschmettert, damit er sich leichter in die Speichen des Rades einbinden ließ. Dann richtete man das Rad auf und übergab den Unglücklichen seinem Schicksal. Das heißt, er verfaulte am Rad oder wurde von Tieren zerfetzt. Gegenüber solch grässlicher Folter ist die Daumenschraube oder der Spanische Stiefel ein Zuckerlecken.“ Karl neigte sein von Narben verunziertes Gesicht wieder über den Teller, löffelte und schlürfte weiter, während Marthes Kopf erregt herumfuhr:

„Hast du etwa heute den Spanischen Stiefel angelegt?“

Karl hörte auf zu schlürfen und glotzte mit offenem Mund seine Mutter an:

„Und wie ich ihn ihm angelegt habe, dem armen Lump. Da krachte die Wade und kam ganz schön ins Schwitzen, aber erst als ich heißes Blei dazu goss, hat der Hund geredet.“

„Himmel, Kreuz und Donnerwetter, noch mal! Du bist dümmer als jeder vierbeinige Hund!“

„Warum, zum Teufel? Mit dem Kerl hatte ich keine Gnade.

Er ist der Chef einer Räuber- und Mörderbande, die sich in Bürgerhäuser einschleicht und alles niedermacht, was ihnen begegnet.“

„Tut er es für einen guten Zweck oder bereichert er sich nur selbst?“

„Er hält sich für den Cartouche unserer Zeit, einen Retter der Armen und hat sich vorgenommen, genauso zu leiden, wie vor über fünfzig Jahren Cartouche, der Bandit.

Der tapfere Kerl hat trotz fürchterlichster Qualen keinen einzigen seiner Kumpane verraten.“

„Cartouche hat auf seine Leute gezählt und auf der Place de Grève ein Wunder erwartet. Aber die Feiglinge haben sich nicht blicken lassen. Und dein Gefangner? Ist er an der Folter gestorben, der arme Kerl?“

„Nein!“ Karl sah kurz auf, hielt den gefüllten Löffel vor den offenen Mund und sagte, bevor er ihn hinein schob: „Aber sein Fuß ist zu einem Klumpen geschmolzen und nun hinkt das arme Schwein. Ein Kerl, der flink wie ein Wiesel durch die Wälder jagte, von Baum zu Baum kletterte und mit seinen emsigen Füßen immer ein gutes Versteck fand: dieser Kerl hinkt für den Rest seines Lebens, wenn er nicht aufs Schafott kommt.“

Marthe stand böse blickend neben ihm und schien nicht mehr zuzuhören. Ihre tiefdunklen Augen mit dem Silberrand starrten nun zur Tür hinter der die Mutter und das Neugeborene lagen. In den Gesichtern der Kinder bewegten sich nur die Augen. Sie folgten Marthes Blick und ahnten, was sie dachte. Denn die drei Mädchen hatten den Säugling gesehen und waren bei seinem Anblick furchtbar erschrocken.

„Wann hast du ihm den vermaledeiten Spanischen Stiefel wieder abgenommen und den verkrüppelten Fuß gesehen?“

„Du stellst Fragen!“ Karl rülpste. „Irgendwann vor ein paar Stunden. Was tut es zur Sache? Jedenfalls quäle ich ihn seit gestern. So ein Fuß schmilzt nicht in Sekunden.“

„Verflucht seist du, dummer Kerl! Warum wurden in unserer Familie solche Halunken geboren?“ Sie spuckte den Zahn aus, auf dem sie schon seit dem Morgen herum kaute. Jetzt hatte sie nur noch zehn. In großen, für ihr hohes Alter ungewöhnlich energischen Schritten, strebte sie auf die Tür zur Schlafkammer zu. Bevor sie dahinter verschwand, drehte sie sich um und spie ihrem Enkel mit glühenden Augen entgegen.

„Und wage es nicht, deine Tochter mit deinen blutigen Händen zu streicheln. Es reicht, wenn du sie anschaust. Das wird dir ohnehin zu denken geben, wenn du überhaupt denken kannst, du Dummkopf.“

*

Im Nebenzimmer richtete sich Lea auf. Die lauten Stimmen hatten sie aus dem erholsamen Schlummer geweckt und nun betrachtete sie ihr Kind, das in einer grob geschnitzten Holzwiege auf dicken Kissen lag. Es hatte der Mutter das Gesicht zugewandt und blickte sie aus großen Augen an. Im Schein der beiden Kerzen funkelte der Blick des Kindes geheimnisvoll und fasziniert beugte sich Lea weiter vor, um die Züge des Neugeborenen studieren zu können. Sie waren anmutig, ebenmäßig. Die glatte Haut schimmerte, das spärliche Haar glänzte wie dunkles Gold.

„Du bist ein schönes Kind!“, seufzte Lea. „Zum ersten Mal habe ich fast schmerzlos ein schönes Kind geboren. Und dabei habe ich während der Schwangerschaft so sehr um dich gebangt. Ich möchte dich in meine Arme nehmen und küssen.“ Doch als sich Lea anschickte, aus dem Bett zu steigen und den Säugling hoch heben wollte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie ließ ihn los und fiel aufs Kissen zurück. In dem Moment trat Marthe ein.

„Dein Mann ist ein Schmierlappen!“, war ihr erster Satz, dann fixierte sie streng die junge Frau.

„Was treibst du überhaupt? Wieso bleibst du nicht brav liegen, wie es die Hebamme verordnet hat? Du hast viel Blut verloren. Das Kind war eine schwere Geburt. Du bist ermattet. Wenn du nicht zu Kräften kommst, erlischt dein Lebenslicht in den nächsten Tagen, warnte die Hebamme!“

„Oh, nein. Nein! Die Geburt war so leicht wie keine zuvor. Mir geht es gut!“

„Leicht? Das redest du dir nur ein. Es ging Stunden. Sehr ungewöhnlich für eine Mutter, die schon fünfmal geworfen hat. Die Hebamme und ich haben während der Geburt ständig gefürchtet, du stirbst uns unter den Händen weg, so grün und leblos hast du ausgesehen.“

„Aber Großmutter! Ich werde doch nicht sterben, nachdem ich solch ein schönes Kind geboren habe. Alle meine Mädchen sind hässlich. Frieda hat ein hässliches Mahl auf der Wange, Rosel eine Hasenscharte und Alberta will nicht wachsen. Dieses Kind aber ist schön wie eine Rose.“

„Schön? Bist du toll?“ Erregt wickelte Marthe das Neugeborene aus den Tüchern und hielt es Lea nackt vor die Nase. „Da hier, schau dir das an! Ist das schön?“

Lea blickte nur in das Gesicht des Kindes.

„Philippine soll sie heißen!“, sagte sie mit leuchtenden Augen. „Sie ist die Sonne, das Leben, die Schönheit, die Freiheit auf dem Rücken eines Pferdes.“

„Du hast zu viel Blut verloren. Dein Verstand liegt brach wie ein Acker im Winter. Es ist wahrhaftig ein Kreuz mit euch. Mein Enkel Charlerie ist Henker, Karl ist ein Wüstling, deine Kinder sind hässlich, aber das hier ist der Gipfel. Das Ding ist doch nichts wert.“ Bei diesen Worten fing Philippine aus Leibeskräften an zu schreien und schnell wickelte sie Marthe wieder in die Tücher. Lea bäumte sich auf, doch fiel alsbald ins Laken zurück.

„Du bist böse, Großmutter! Es ist der Verstand deines Enkels, der zu mir spricht und nicht dein Herz. Schau dir das Gesicht des Mädchens an. Seine Augen, das goldene Haar. Es sieht aus wie ein Engel.“

„Pahh, Engel. Könnte es fliegen, wäre die Sache gewonnen, aber so ...“. Seufzend legte Marthe das kleine Wesen in die Wiege zurück. Eine Weile betrachtete sie es, dann traten ihr Tränen in die Augen und erstickt flüsterte sie: „Ja, deine Mutter hat recht. Du hast das Gesicht eines Engels, in deinen Augen strahlt die Sonne, doch was nützt uns das, wenn dir dein Körper nicht gehorchen wird? Du kannst keine Wassereimer tragen, keine Wäsche aufhängen, kein Holz holen und aufschichten. Wozu wirst du gut sein? Zum Angucken?“

Ihr Blick, der zärtlich auf Philippines Gesicht geruht hatte, streifte hinunter zu den Beinen und blieb dort mit Schaudern hängen. „Ach was, sag ich? Ein Mannsbild guckt dir nicht nur ins Gesicht und wenn du zum Arbeiten nicht taugst, hält er sich an deinem Hintern schadlos. Oh, Kind. Welche Zukunft!“

„Schweig, Marthe! Bring mir lieber Suppe, statt düstere Zukunftsbilder zu malen. Ich fühle mich schon etwas besser.“

Vorsichtig richtete sich die junge Mutter im Bett auf. Marthe schüttelte ihr das Kissen zurecht und Lea lehnte sich gegen die hölzerne Kopfleiste des Bettes. Die beiden Frauen musterten einander, ohne ein weiteres Wort. Im nervösen Spiel der zerrupften Brauen, an den zuckenden Lippen, den funkelnden Augen konnte man ahnen, was hinter Marthes runzeliger Stirn vorging.

Es war allerdings nicht nötig, die Zeit mit Ahnungen zu verschwenden, denn die Alte tat sich keinen Zwang an und sagte rundheraus was sie dachte. Lea indessen verbarg ihre wahren Gedanken. In den ersten Jahren nach ihrer Hochzeit hatte sie klaglos neben einem rohen Mann dahinvegetiert, seine blutverkrusteten Kleider gewaschen, die er nachlässig trug, hatte für ihn gekocht, geputzt, genäht, gestrickt. Sie hatte erduldet, wenn er sie bestieg, und sie ertrug den Anblick seiner Kinder, die sie ebenso hasste wie den Mann. Ihre Energie, ihre Kraft wurde von diesen vier Menschen aufgesogen und ihr Körper rächte sich dafür mit glanzlosem Haar, fahler Gesichtshaut, stumpfen Augen. Sie hatte dies alles zugelassen, bis sie eines Tages eine überirdische Begegnung hatte. Sie saß am Bach nahe der Hütte, in der sie damals hausten, und sah im brackigen Wasser die Augen ihrer Mutter.

Fest blickten sie Lea an, ließen sie nicht mehr los, zogen sie an sich. Und da plötzlich erhob sich vor Lea die ganze Gestalt der Mutter. Aufrecht, schön, stolz und selbstbewusst wuchs sie in die Höhe. Dies war nicht derselbe Mensch, den Lea aus ihrer Kindheit kannte. Dieser Mensch erstand aus dem morastigen Gewässer als käme er nochmals zur Welt. Ihre Mutter war nackt. Eine Hand lag auf ihrer Scham, die andere zeigte zu Lea und eine hohle Stimme rief: „Wir sind keine Mähren, die man zu Tode reitet! Wir sind Prachtpferde und Prachtpferde werden von guten Reitern bestiegen und nicht von Ochsen. Merke dir das, mein Kind und setze deine Pracht richtig ein. Liebe deinen Hintern, liebe deine Scham und lass ihnen nur Gutes zukommen. Pflege deine Haut, dein Haar, deine Zähne und wenn dich dein Mann daran hindert, tritt ihm kräftig in die Stelle, die ihm besonders teuer ist. Fürchte ihn nicht. Er ist ein Quäler. Er ist ein Schwächling. Viel schwächer als du!“

Von diesem Tag an hatte Lea ihrem Körper viel Gutes getan und dazu brauchte sie andere Männer. Sie war nicht wählerisch. Schönheit interessierte sie nicht, aber jung musste er sein und er musste sein Geschäft verstehen. Schon nach wenigen Monaten erblühte ihr Körper von neuem und bekam ihr Haar frische Farbe.

Heute nun, am Geburtstag der jüngsten Tochter, war sie noch schöner geworden. Wieder war ein Stück von der alten Haut abgeblättert. Philippines Geburt hatte sie zwar viel Blut gekostet, aber keinen einzigen Zahn. Ihre Augen flammten auf, als habe das Kind, dem sie das Leben schenkte, auch ihr Lebenslicht neu entzündet. Während ihr düsterer Ehemann, die gute Großmutter und die einfältigen Kinder glaubten, ihr Herz höre bald auf zu schlagen, regte sich überschäumende Energie in ihr. Damit wollte sie Frankreich erobern, alle Männer auf die Knie zwingen, ihnen soviel Geld abnehmen, um eines Tages mit der schönen Tochter in einem Schloss zu wohnen. Niemand, auch sie selbst nicht, konnte ahnen, welch zerstörerische Kraft dieser Energie innewohnte.

Die Bluthunde von Paris

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