Читать книгу Die Bluthunde von Paris - Christina Geiselhart - Страница 6

2. Kapitel

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1781

Im Frühjahr dieses Jahres saß Karl neben seinem Bruder Charles-Henri, dem ältesten der zehn Kinder des alten Charles-Jean-Baptist Sanson und starrte dumpf auf den leeren Teller, den er vor sich hatte. Die beiden Männer erwarteten ihre vier Brüder, die aus Blois, Tours, Toulouse und Reims zum monatlichen Brudertreff in der rue Neuve-Saint-Jean der Vorstadt Poissonière kommen wollten. Dort bewohnte Charles-Henri ein geräumiges Haus und war von seinem Arbeitsplatz weit genug entfernt, um das Blut nicht zu riechen und gleichzeitig nah genug, auf dem Weg dorthin nicht allzu viel Zeit zu verlieren. Besonders schätzte er es, von seinen Nachbarn respektiert zu werden, was nicht selbstverständlich war, wenn man sein Geld mit dem Tod anderer verdiente. Mit Ausnahme von Karl übten alle das Amt des Scharfrichters aus, und da jeder auf den Namen Charles getauft worden waren – Charles-Herni, Charles-Baptiste, Charles-Martin – redeten sie sich kurzerhand beim Namen der Stadt an, in der sie arbeiteten. Charles-Henri wirkte nicht nur in der königlichen Stadt Paris, er hatte auch den besten Ruf und wurde schaudernd mit „der Herr von Paris“ angesprochen.

Mittlerweile lebte Großmutter Marthe wieder beim Herrn von Paris, da Lea vor Gesundheit strotzte und behauptete, Marthes Hilfe nicht mehr nötig zu haben. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Lea sie einfach nur loswerden wollte. Seit Rosel von der Tollwut dahingerafft worden war, gab es für Lea deutlich weniger Arbeit, denn das Mädchen mit der Hasenscharte hatte beim Essen Tisch und Kleider beschmutzt, beim Sprechen Speichel gespuckt und sich häufig übergeben, weil sie wie ein hungriges Tier alles unzerkaut hinuntergeschlungen hatte. Lea trauerte nicht lange. Schon nach wenigen Tagen fühlte sie den Verlust als ungeheure Erleichterung. Nun konnte sie sich mehr ihrem Lieblingskind widmen, das sie aufgrund seiner Verkrüppelung sehr in Anspruch nahm. Aber nie klagte Lea, nie beschwerte sie sich, wenn die tapsige Philippine den Vorhang herunterriss, an dem sie sich hielt, um ihr Gleichgewicht zu halten. Wenn sie gegen den Tisch stieß, dass dabei Milchkannen umkippten und Teller zerschlugen. Marthe war froh, nicht mehr mit anhören zu müssen, wie Alberta und Frieda für allen Schaden verantwortlich gemacht wurden, den Philippine anrichtete. Der wütende Vater verdrosch jeden Tag ein anderes Mädchen, wagte es aber niemals, Philippine anzurühren. Einerseits war Marthe froh, das Haus verlassen zu können, aber sie ging voller Unruhe, denn sie fürchtete den Hass, der langsam in den Herzen der älteren Mädchen keimte. Wenn er ausgereift ist, wird er Philippine darunter begraben, dachte Marthe und erschauderte bei dem Gedanken, wie leicht es sein würde, den schönen Krüppel zu ertränken oder einen Abhang hinab zu stürzen.

Vor sechs Monaten hatte sie ihre Urenkelinnen zuletzt besucht und vom Hass nichts bemerkt. Die Mädchen schienen gutmütige Geschöpfe zu sein. Sie schienen Philippine zu lieben und der Mutter ihr ungerechtes Verhalten zu verzeihen. Deshalb dachte Marthe heute, im Frühjahr des Jahres 1781, nicht mehr an Philippine, sondern daran, die Herren von Tours, Toulouse, Reims und Blois mit ihren Kochkünsten zufrieden zu stellen. Brot und Wein wurden von Charles-Henris Gehilfen serviert und die Alte wachte darüber, dass diese sich sorgfältig gewaschen hatten und keine Blutspuren an Waden, Armen oder im Gesicht vorwiesen. Sie saß am oberen Ende des Tisches und hörte unkonzentriert der Unterhaltung der beiden Männer zu. Charles-Henri beschwerte sich über seine minderwertigen Arbeitsinstrumente. Er dürfe so nicht weitermachen, aber könne sich anderseits von seinem schmalen Gehalt keine besseren leisten.

„Was meckerst du denn? Du musst ja nur aufs Beil achten!“, murrte sein jüngerer Bruder. „Ich aber habe unterschiedliche Geräte, die sich verziehen und schnell Rost ansetzen. Es ist eine Mordsarbeit, alles instand zu halten und die Gehilfen machen sich ihren Spaß draus. Die Zangen, mit denen ich Finger und Zehen zusammendrücke, sind auch nicht das was sie sein sollten. Erst gestern hat meine Daumenschraube durchgedreht und dem Unglücklichen den Daumen zu Brei zermalmt.“

„Warum hackst du den Daumen nicht gleich ab, statt armselig herumzuschustern?“

„Wir haben unsere Vorschriften, Bruder!“ Karl zog an der ledrigen Haut seines Unterlids. „Zerbrechen von Gliedmaßen, Abzwicken von Fingern oder Zehen und Augenausstechen ist nach der neuen Ordnung für ‚peinliche Befragung’ verboten.“

„Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als sie Cartouche aufs Rad spannten!“, erzählte Marthe mit gesenktem Kopf. „Keiner ließ sich das schaurige Schauspiel entgehen. Es konnte vorkommen, dass Gott eingriff und ein Gemarterter lebend vom Rad fiel. Seine Verletzungen wurden behandelt, er kam mit dem Leben davon, blieb aber für immer ein Krüppel. Damien jedoch ..“ Beim letzten Wort hob sie den Blick und senkte ihn in Karls Augen. Der reagierte nicht. Teilnahmslos saß er auf seinem Stuhl, abgebrüht glotzte er sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Er ist seelenlos und hirnlos, dachte Marthe. Wie ist es möglich, dass solch ein Gimpel der Vater eines schönen Kindes sein kann? Und der Verdacht, den sie seit dem Tag hegte, an dem sie Lea glückstrahlend und fiebrig vom Holzholen hatte zurückkehren sehen, regte sich erneut in ihr. Schnell verscheuchte sie ihn und steuerte dem Gespräch ein wenig Vergangenheit bei: „Ich war so blöd und hab an jeden Unsinn geglaubt, die mir die Alten wie Zuckerwasser einflößten. Auch an den verteufelten Satz des Dorfpfaffen: Um den bösen Buben zu wehren, muss man Räder, Galgen, Kerker, Peitschen, Beil und Henker haben.“

„In der Tat muss man ein dickes Fell haben, sonst kann man solche schweren Aufgaben nicht ordentlich erledigen.“

„Und dieses Fell hast du, Bruder Karl!“, grinste Charles-Henri und dachte für sich, dass nicht nur Karls Nerven und Empfindungen abgestumpft waren, sondern auch sein Verstand wie ein ungeschliffenes altes Messer vor sich hinrostete. Zu nichts nutze. Indessen erzählte Marthe weiter.

„Mein Großvater hat die Hinrichtung Damiens mit angesehen. Ein starker junger Mann war er, bevor sie ihn gerädert haben. Er hat den Zangen getrotzt, die ihm das Fleisch herausrissen, auch dem heißen Blei, das sie in seine Wunden gegossen haben. Vielleicht hätte er sogar die Pferde ausgehalten. Aber das Rad hat er nicht überstanden. Gott hat ihm nicht geholfen, weil er ihn herausgefordert hat.“

„Gott herausgefordert?“, nuschelte Karl. „Aber er hat doch den König morden wollen, nicht Gott.“

„Lieber Karl!“, sagte Charles-Henri, wobei er allerdings lieber gesagt hätte: dummer Karl. „Wenn du dich am König vergreifst, ist das, wie wenn du Gott erschlagen wolltest. So eine Sünde muss streng bestraft werden. Der Täter muss, damit die schwere Sünde gereinigt wird, schon auf Erden durchs Fegefeuer. Sozusagen. Nur töten wäre eine Gnade für den Frevler, der ein Heiligtum besudelt hat.“

„So ist es! Ja, ja, so ist es!“, brummte Marthe. „Der König darf sich alles erlauben. Er hat eine Madame Pompadour, die ihm junge Mädchen ins Bett legt und es ist ihm ganz egal, was aus seinem Volk wird. Genau so ist es mit Gott. Es kümmert ihn einen Dreck, wenn wir verrecken.“

„Großmutter, wir sind im Jahre 1781 und unser König ist nicht mehr Ludwig XV mit seinen zahlreichen Maitressen. Unser jetziger König liebt nur seine Frau und die Hirsche im Hirschpark. Du solltest wahrhaftig nicht so gedankenlos daher reden.“

„Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist, Charlerie!“ Marthe zog den Namen Charles-Henri absichtlich zu einem Charlerie zusammen, weil es weniger aristokratisch klang. Charles-Henri Sanson antwortete nicht.

Eine Weile blickten sie einander an, dann sahen sie zur Tür, lauschten auf das Rasseln eines Fuhrwerkes, auf Schritte, die sich näherten, doch am Haus vorbeigingen.

Die Herren von Tours, Reims, Toulons und Blois ließen auf sich warten.

„Welche Köpfe lagen heute im Korb und wie viele?“, fragte Marthe unvermittelt.

„Es gab sechs auf einen Streich, am Nachmittag. Sechs Verurteilte mit Brandmarkung ergeben rund gerechnet 200 Sous. Dazu kommt der Zuschlag von 20 Sous pro Person, weil es sechs auf einmal waren. Für den Nachmittag ist das ein recht gutes Geschäft.“

„Schön, meine Junge, aber erzähl mir heute nicht, was die armen Menschen angestellt haben. Viel wird’s nicht gewesen sein.“

„Hab’s sowieso vergessen. Aber ich hab’ gemerkt, dass das Hackbrett von einem schlechten Schlag und schartig ist. Hab’s von Seine-et-Oise. Aufgefallen ist mir auch, wie übel das Hackebeil arbeitet. Viermal musste ich zuschlagen, bis der Kopf abging.“

„Bei allen sechs?“ Großmutter riss ihre Augen auf, schwarz mit silbrigem Rand, wie die eines Tintenfisches.

„Ach, was nur bei einem. Aber ich war unaufmerksam und dann fiel der Junge vom Gerüst.“

„Es gibt genug Gesindel, das dem Henker helfen will“, brummte Karl. „Ich merke es, wenn ich Kerle zum Foltern anheuere. Die rennen mir die Tür ein.“

„Gesindel kann ich nicht brauchen. Gesindel ist teuer. Auch die Weidenkörbe für die Köpfe haben sich verteuert. Die Stricke zum Binden sind nichts wert. Und wenn ich dran denke, ein neues Hackbrett kaufen zu müssen, vergeht mir der Hunger.“

Trotz dieser Bemerkung und obwohl die Brüder noch nicht eingetroffen waren, gab Marthe dem Gehilfen das Zeichen, den Hühnereintopf zu servieren.

Sie nahm den Deckel ab und der würzige Dampf weckte in Sanson Erinnerungen.

„Da fällt mir ein, dass ich heute einem bösen Weib, einer Magd, den Kopf abschlug. Sie hat ihrem Kind den Hals umgedreht wie einer Henne. Es sei schon das vierte, das der Herr Graf ihr gemacht habe, hat sie eiskalt gesagt. Und allen Kindern habe sie den Hals umgedreht, weil es ja ein Elend sei mit Kindern von einem Herrn, der sie schlägt, wenn sie dick wird. Bleibe sie aber schlank, dann sei er nett und gäbe ihr auch manchmal sogar einen Louisdor.“

„Du aber machst mit sechs Köpfen noch lange keinen Louisdor.“

„Es wird nicht besonders üppig nach Köpfen bezahlt!“, spuckte Karl verächtlich aus. „Der König bestreitet die Kosten der Scharfrichter und Verhörvollstrecker, aber der König ist ein Knicker, er zahlt wenig. Wenn er aber seiner lieben Königin Marie-Antoinette eine Freude machen will, ist ihm nichts zu teuer.“

„Ob zehn Köpfe oder zwei, das Gehalt erhöht sich nicht wesentlich. Gehört der Kopf aber einem reichen Landsmann, bringt er uns seine Schuhe, seine Kleidung und hin und wieder etwas Schmuck ein.“

„Ach was, Charlerie! Du köpfst doch nur arme Schlucker.“ Auf Marthes Ausspruch hin versanken alle drei in nachdenkliches Brüten. Nach einigen Minuten hob Karl den Kopf und ein mörderisches Funkeln blitzte in seinen blöden Augen.

„Es wäre doch zu schön, würden eines Tages die Edelleute geköpft. Die haben es verdient. Die tanzen seit Jahrhunderten auf uns herum und kommen vor Langweile um. Und jeder Kopf bringt viel Schmuck, seidige Kleider und Schuhe! Ja, richtige, schöne Schuhe und wir könnten unser unbequemes Fußwerk, das uns die Zehen verkrüppelt und Beulen verursacht, von uns schleudern.“

„So darfst du aber nicht reden, Karl. Soweit kann es niemals kommen. Da stünde ja die Welt Kopf.“

Pferdegetrappel war zu hören und ein lautes Quietschen direkt vor dem Eingang.

„Fangt an zu essen! Eure Brüder kommen!“, sagte Marthe, die zur Tür gegangen war, um die Herren von Tours, Reims, Blois und Toulons hereinzulassen.

Die Bluthunde von Paris

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