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Familienporträt

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Stark und haltend. So hat sich der Nachmittagsschlaf auf der Brust meines Vaters angefühlt. Daran kann ich mich noch gut erinnern, wenngleich ich da noch sehr klein war. Das waren – Schnarchen hin oder her –tief entspannte und wohlige Momente für mich. Offenbar für uns beide. Ein Moment der Ausdehnung. Verbunden. Warm und vertraut. Es ist die erste Zugehörigkeit, zu der wir uns einreihen – zu der ich mich einreihe. Meine erste Clubmitgliedschaft sozusagen: meine Familie. Frei Haus. Inklusive iher sämtlichen Pflichten und Annehmlichkeiten. Und auch die all derjenigen, die auch noch dazu gehören: Onkel, Tanten, Omas und Opas, Cousinen und Cousins. Für meine Welt sind die Vorstandsvorsitzenden Mama und Papa. Insgeheim sind das vielleicht auch andere …

»Ich hatte Angst, dich zu zerbrechen«, sind die liebevollen Worte meiner Mutter, die mich im Erwachsenenalter erreichen. Sie waren die Antwort auf meine Frage, warum mein Vater mich als Kind gebadet hat, und nicht sie. Meine leichte und feine Statur hatte meine Mutter dazu bewogen, das ­Baden an ihn abzugeben. Das ist eine mögliche, menschliche Erklärung. Definitiv hat meine Mutter meine Sensitivität gespürt. Mich als pure Reflexion wahrgenommen. Das war ja schon bei der Geburt klar. Vielleicht wäre das Baden und Halten fortführend eine zu große Konfrontation mit ihrer eigenen Sensitivität gewesen …

Grundsätzlich wird ja dem Verhältnis von Kindern und ihren Eltern nachgesagt, dass Mütter & Söhne sowie Väter & Töchter eine besondere Bindung haben. Dass dem Vater im Leben einer Frau eine ganz spezielle Rolle zuteilwird, so wie der Mutter im Leben eines Mannes. Das wird auch in meinem Leben schon ganz zu Beginn deutlich. Mal ehrlich. Hier sind sie wieder: Diese Momente. Es sind Entscheidungen. Beispielsweise die Frage nach den Clubvorsitzenden: Mama und Papa. Kann ich meinen Vater als den Menschen sehen, den ich mir mit all seinen Bedürfnissen, Prägungen und Eigenschaften ausgesucht habe, mich großzuziehen – oder: mache ich ihn zu meinem ganz eigenen Papa. Ist meine Mutter für mich die Frau, die ich mir ausgesucht habe, mich zu unterstützen, groß zu werden, mit meinem tiefen Respekt für ihre Eigenschaften, Werte und Schwachstellen – oder: ist das einfach nur Meine-ich-will-mich-bei-dir-wohlfühlen-sorg-für-mich-Mama.

Mein. Ganz. Eigener. Papa. Meine. Ganz. Eigene. Mama.

Das machen die mit mir ja auch. Unsere Tochter. Was da wohl auch schon für Vorstellungen dran hängen …? Unsere. Tochter. Rums. Das sind Worte, die schon für sich genommen eine große Bürde sind. Für beide Parteien. Ein Brauchen und ein Gebrauchtwerden. Ein Besitz. Ein Feuerwerk an Ansprüchen und Erwartungen. Beladen mit Bildern und Vorstellungen, die uns dann definieren: Rollenbildern. Später wird sich in unserem Zusammenleben zeigen, dass diese vorgefertigten Schablonen die Grundbausteine für gegenseitige Forderungshaltungen sind – und damit auch die Basis dafür, dass ich und/oder meine Eltern potenziell enttäuscht oder begeistert werden könnten. Jedenfalls begründet es eine Art ständige Erwartungshaltung, eine emotionale Bindung. Die hat ja auch wahnsinnig schöne Seiten. Die Verantwortung füreinander zum Beispiel. Bei den Eltern im Bett schlafen, sonntags spazieren gehen, im Garten grillen. Und das genau lieben wir! Naja: Lieben insofern, als es das nächst Beste ist, das uns zur Verfügung steht. Wir greifen nach allem, was uns verbunden fühlen lässt.

Wir brauchen uns gegenseitig, um uns verbunden zu fühlen, weil wir das Zusammengehörigkeitsgefühl auf globalem Grund abgestreift haben. Dieser Ersatz schafft Abhängigkeiten. Menschliche Verbindungen. Die wiederum das gewünschte Zugehörigkeitsgefühl hervorbringen. Es ist aber eine reduzierte Version. Lieben tun wir das im Inneren also nicht wirklich, würde ich meinen. Denn Liebe braucht nichts. Liebe ist. Nur: das Sein ist irgendwann nicht mehr genug. Und dann braucht es diesen Ersatz, die emotionale Bindung an konkrete Menschen, um den Verlust des Gefühls umfassender, universeller Zugehörigkeit und Allverbundenheit kompensieren zu können. Das Ersatzgefühl dafür, dass wir energetisch alle verbunden sind, ewig und unbedingt geliebt, daraus aber eine totgeglaubte Sache gemacht haben. Das klingt in manchen Ohren vielleicht überzogen. Aber seien wir doch mal ehrlich: Genau das ist es, was wir da machen! Oder würden Sie sagen, dass Sie frei von jeder Erwartung innerhalb der Familie, ihrer Beziehung oder ihren Freundschaften wären? Wir knüpfen emotionale Bande. Wir personifizieren, belegen uns mit Erwartungen und Bildern auf Basis dieser emotionalen Struktur, weil wir nur diese Realität sehen: Mensch zu Mensch. Materie zu Materie. Nichts weiter. Nicht: Seele zu Seele. Nicht: Lernschritte im großen Zusammenhang.

Ganz praktisch gesprochen: Selbstverständlich sind das Mama und Papa. Aber: Sie sind vor allem Menschen – inkarnierte Spirits – mit Hausaufgaben! Und sie haben ihre Geschichte. Sie haben ihre Verletzungen, Ängste, etwas falsch zu machen, Vorsätze, etwas besonders richtig machen zu wollen – eben ihr Netz aus ihren Entscheidungen und Prägungen, in das sie sich eingewoben haben. Und alleine die Tatsache, dass ich geboren bin – so sehr beide ihre Liebe für mich haben – so sehr sind sie auch schon mit Wünschen und Erwartungen an mich unterwegs. Wir sind schon beschwert mit Bildern davon, wie wir zu sein haben. Und sei es nur der Fakt, dass ich ein Mädchen bin. Es sind unsere Ansprüche aneinander, die unausgesprochen zwischen uns liegen. Mit welcher Wucht das volle Menschenleben da auf einen einbricht, wenn man auf die Welt kommt!

Ich weiß, dass meine Eltern nicht frei sind, mich einfach nur unterstützen zu wollen und mich frei von ihren Erwartungen in die Welt hinein zu begleiten. Ich hab die beiden ja beobachtet und ausgesucht. Diese Gewissheit schrumpft allerdings mit jedem Tag. Mit jedem Mama- und Papa-Ausruf. Denn ich bediene damit immer das mein. Also den Besitz. Das ist wenig universell. Ich weiß, dass schon bei meiner Geburt auch bei ihnen eine ganz lange Liste von Do’s and Don’ts im Hintergrund stand. Ob die zu mir passen oder nicht, wird von ihnen nur nicht hinterfragt. Ob die zu ihnen selbst passen, haben sie vielleicht ebenso wenig hinterfragt. Weil man das nicht tut. Man ist nur mit Weitermachen beschäftigt. Nie aber mit Anhalten und Nachspüren oder gar Hinterfragen. Denn ob wir einfach weitergeben, was uns beigebracht wurde, oder ob wir es überprüfen und womöglich neue Wege gehen, das wäre eben wieder eine Entscheidung. Die treffen die wenigsten. Da soll noch einer sagen: junges Familienglück!

Während sich meine Intelligenz darauf beruft zu wissen, wann ich Hunger habe oder schlafen möchte – übrigens auch keine durch ein Studium erlangten Fähigkeiten, sondern das Wissen einer tiefen Körperintelligenz. Die Basis dieser Intelligenz hält mich auch noch sensibilisiert für diese Deals, die um mich herum ablaufen, und denen ich möglicherweise schon mit meiner Reinkarnation bereitwillig zugestimmt, oder sie wenigstens billigend in Kauf genommen habe.

In diesem Gefüge Familie haben alle ihre Kämpfe auszutragen. Wir sind alle mit Schablonen und Ansprüchen konfrontiert, die wir als Menschheit selbst kreiert haben. Was es beispielsweise bedeutet, eine gute Mutter zu sein? Alleine an dieser Frage arbeiten sich Generationen für Generationen ab. Vor allem hält sich die Frage hartnäckig. Weil man es »richtig« machen will, statt einfach nur zu »vertrauen«. Sehen Sie, wie sich dieses verteufelte Richtig & Falsch-Prinzip überall seine Plattform sucht? Als ob es eine Blaupause für’s Menschsein gäbe! So viele Menschen, wie es gibt, so viele Wege muss es geben, Mutter zu sein für das Wesen, das da gerade die Welt neu bzw. er-neu-t betreten hat. Dasselbe gilt für die Väter! Die Frage nach dem guten Vater ist ebenso Thema. Welche Aufgabe hat man als Mann überhaupt? Was ist Mann-Sein? Was bedeutet Intimität im väterlichen Dasein? Als Vorbild? Hat man da seine Finger in der Gestaltung der Erziehung oder nicht …? Alleine die Frage finde ich schon absurd. Wieso nicht? Natürlich sind zur Erziehung beide gefragt! Eigentlich sind alle gefragt, die unmittelbar mit dem Neuling zu tun haben. Erziehung ist eine gemeinschaftliche Angelegenheit, verantwortungsbewusst für das Ausdehnen der Persönlichkeit, dem Lernen und Abbarbeiten der Hausaufgaben dieses Spirits zu Seite zu stehen. Aber das Wörtchen »mein« im Zusammenhang mit »Kind« lässt uns eng werden und reduziert die Erziehung als Aufgabe für Mama und Papa. Damit geht es nicht mehr darum, was gebraucht ist, sondern wer es zu liefern hat. Welch eine Last für Eltern in diesem Modell der Trennung! Deswegen sind ja Eltern immer so stolz, weil sie da was geschafft – vielmehr geschaffen – haben. In dieser Welt der Einzelkämpfer. Sie haben diese Aufgabe gemeistert! Sie haben ein Kind zustande gebracht. Andere leiden ewig darunter, diesem Idealbild nie entsprochen zu haben. Egal, ob die Frage nach der perfekten Mutter oder dem perfekten Vater gestellt wird – diese Idealbilder machen es den werdenden oder seienden Eltern schwer genug. Wir machen es uns schon schwer genug. Verantwortung: Ja! Aber Überfrachtung?! ­Sobald die Autorität über die Antwort auf diese Fragen an das Außen abgegeben wird, an das Richtlinienprinzip derer, die das »Eltern-Sein« vorher schon absolviert haben, ist es verlockend und leicht für Folgeeltern, sich in diese Bilder hineinsinken zu lassen, der Bequemlichkeit nachzugeben, ihre Verantwortung abzugeben und einem bestehenden Rollenbild zu folgen, dem sie von nun an aber auch verhaftet sind. Im Hinblick darauf, dass wir alle zusammenhängen, sind wir damit hoffnungslos verloren. Wir drehen uns im Kreis …

Ich selbst habe keine Kinder. Aber Familien habe ich um mich herum. Und selbst die, die keine Kinder haben, sind ja selbst Töchter und Söhne. Auch denen ist dieses FamilienDings nicht fremd. Wir sind nicht ahnungslos, nur weil wir nicht selbst Kinder gezeugt, geboren und aufgezogen haben. Ich habe tiefen Respekt vor allen, die sich der Aufgabe des Eltern-Daseins stellen! Jede Mutter, die ich kenne, und das gilt auch für die Väter, sagt: »Ich fühle, was mein Kind braucht. Auch im Verhältnis zu anderen Menschen.« Unbedingt! Vertrauen Sie darauf! Tauschen Sie Ihre Autorität nicht gegen eine Unsicherheit ein, weil man Ihnen vielleicht gesagt hat, dass andere es besser wissen, Ärzte oder Lehrer oder andere berufene Autoritäten. Sie wissen es. Vielmehr: fühlen es. Halten Sie an. Spüren Sie nach. Nicht denken. Spüren. Sie kennen die Antwort.

Es ist nur die Ausrichtung auf ein Perfekt, eine Ich-habe-es-gemacht-Identifikation, die uns beständig antreibt und uns damit voll in die Bredouille bringt. Auch die perfekte Familie ist so eine an Emotionen, Bildern und Erwartungen überfrachtete Vorstellung! Es ist die Definition von Erzeuger, Nachkommen und Vorfahren. Blutslinien. Mögen oder Nichtmögen spielt hier oft keine Rolle. Respekt und Wertschätzung: soweit wage ich mich gar nicht vor. Wenn mein Vater gestresst aus dem Büro kam und wir Kinder rumgealbert haben, dann landete schon mal seine Faust donnernd auf dem Tisch, gefolgt von einem energischen »Silencio!« Kann man ja verstehen. Er war angespannt, und wir waren laut. Ich bin trotzdem jedes Mal zusammengefahren und hatte Angst. Angst vor dieser Gewalt. So hat es sich damals angefühlt. Meine Mutter nahm das, wenig begeistert, hin.

Unter dem Dach der heiligen Familie geschehen die un­glaublichsten Dinge. Dafür, dass wir sie so hochhalten, geschehen – statistisch gesehen – interessanterweise die meisten Verbrechen im Familienverbund: häusliche Gewalt, seelischer und körperlicher Missbrauch. Bluttaten. Rachetaten. Kämpfe ums Erbe. In manchen Kulturen wird die Familie sogar zum Ort für Fehden, Mord und Verstümmelung, wenn etwas dem traditionellen Familienbild nicht entspricht. Da darf man das. Die Familie ist von außen unangreifbar, und wir – also die Familienmitglieder selbst – schützen sie entsprechend im Innenverhältnis. »Blut ist dicker als Wasser«, solche Sprüche zementieren das Bild Familie. Das ist eine ganz eigene Clubmitgliedschaft. Da wollen wir am wenigsten wahrhaben, wenn etwas schiefläuft. Es ist vertraut, familiär also. Und deshalb schauen wir gerne weg oder lassen uns ­täuschen. Da verzeihen wir weit mehr, als wir es je in Freundschaften täten. Die vermeintliche Sicherheit im Familienverbund, des Wir gegen die anderen oder die Gesellschaft, ist ein trügerisches Netz aus selbstgeschaffenen Idealen. Einmal verhaftet in diesem Bund, den wir auf die entsprechenden Beteiligten reduziert haben, sind wir ihm nahezu ausgeliefert. Zumindest als Kinder. Das Idealbild der perfekten Familie hat uns fest im Griff. Der Anspruch auf Perfektion kann allerdings nur scheitern. Wie eingangs erwähnt: Perfekt gibt es nicht! Denn die Welt dreht sich. Entscheiden Sie etwas, sind im nächsten Moment schon die nächsten Schritte angefragt. Es gibt keine Pausen. Von Moment zu Moment, Atemzug zu Atemzug vertieft sich alles. Nicht Perfektion, vielmehr Expansion. Das erfordert Präsenz und Wachsamkeit. Und vor allem Offenheit. Das Gegenteil zur Enge von manchem Familienporträt.

Im wahrsten Sinne und mal mit Liebe betrachtet, ist Familie nämlich vor allem eins: Teamwork. Es ist eine ständige Gruppenarbeit. Ein möglicher Platz, um an unseren Hausaufgaben zu arbeiten. Von und mit allen Beteiligten – das sind definitiv nicht zwangsläufig alle mit derselben DNA – und ständig. Und das ist großartig! Weil ein jeder in seiner Essenz großartig ist! Es fordert von uns allen nämlich vorrangig eins: Die Erlaubnis an uns selbst, Fehler zu machen. Mir ist lieber, alles als Potenzial zu sehen. Mit Entscheidungen Erfahrungen machen zu können. An Lernaufgaben zu wachsen. Statt diese als Fehler zu betiteln. Seine eigenen »Verträge« aufzulösen, sich von Bildern zu lösen und die Größe einzunehmen, zu der oder dem zu stehen, die oder der man ist. Egal, was die Gesellschaft oder die Verwandten dazu sagen. Denn die Frage nach dem, was in jedem Moment die Wahrheit ist, kann uns eh niemand abnehmen. Da wir aber gerne bequem sind und es leichter ist, sich etwas abnehmen zu lassen bzw. abzugeben, suchen wir nach Orientierung im Außen. Dem »Normal«. Dem Hinterhertrotten. Der entscheidende Punkt aber ist, dass alles eine Sache des Vertrauens und der Bereitschaft ist, Verantwortung zu übernehmen – sich also von dem freizumachen, was oder wie andere über unser Handeln »urteilen« würden. Das Vertrauen in die innere Stimme aufgegeben zu haben, hat uns unfrei gemacht. Es ist folglich die Verantwortungslosigkeit, in der wir leben, in der wir Zuflucht suchen. Das klingt sarkastisch? Aber ist es nicht so, dass wir bei positivem wie negativem Ausgang einer Situation die Option schätzen, sagen zu können: »Das hab ich von soundso« (Buch, Lehrer, Freunde etc.). Vor allem bei negativem Ausgang finden wir gerne einen Schuldigen oder wenigstens einen Mitverantwortlichen. Weil uns oft nicht so gut schmeckt, selbst die Verantwortlichen zu sein! Das bevorzugen wir nach meiner Wahrnehmung nur aus einem einzigen Grund: Bei positivem Ausgang einer Situation warten der Ruhm und der Erfolg auf uns. Dann sind wir die Helden, werden ausgezeichnet, kurz: Wir werden gesehen. Das ist es, was wir so vermissen. Denn Wertschätzung scheint sich auf Bezahlung, Auszeichnungen und Erfolg zu reduzieren.

Ein kleiner Ausflug in die Praxis: Es gibt Menschen, die mit »Anomalien« zur Welt kommen. Ob physisch oder psychisch. Also: nicht normal: passt zu keiner Schablone. Das kann schon eine Fehlstellung in der Wirbelsäule sein oder ein nicht ausgebildetes Körperteil. Schon geht die Panik los: »Was haben wir (fragen sich die Eltern) falsch gemacht?« Was, wenn Sie, liebe Eltern, gar nichts falsch gemacht haben? Was, wenn einfach nur jedes Wesen genau die Form einnimmt, die es zur Weiterentwicklung braucht? Das meine ich mit der für den Verstand undurchdringlichen Ordnung, die zu akzeptieren uns so wahnsinnig schwerfällt. Ich komme beispielsweise mit einem »zu engen Hüftbild« auf die Welt, und man verpasst mir relativ bald eine Spreizhose, und meine winzig kleinen Füße werden eingegipst. Offenbar mochte ich das nicht besonders, denn diese kleinen Gipsstiefel habe ich konsequent am Fuß­ende meines Bettchens kleingetreten. Die Entscheidung meiner Mutter, dem Rat der Ärzte in diesem Fall nachzugehen, sollte sich in dem Fall als eine gute erweisen, denn ich kann heute aufrecht und gerade laufen – ohne Hüftprobleme. Gut, ich habe keine Ahnung, ob ich mich auch ohne Spreizhöschen aufrecht entwickelt hätte, aber diese Entscheidung ist damals eben gefallen. In manchen Fällen wäre es vielleicht nicht die richtige Wahl gewesen. Was entscheiden wir beispielsweise, wenn ein Zwitterwesen geboren wird – Penis ab oder Uterus raus? Wonach wird diese Entscheidung gefällt? Womöglich nach dem, was uns nachträglich mit dem Gütesiegel »richtige Entscheidung« ausstatten wird? Wer immer über Richtig & Falsch dann urteilt …

Die Ausgangslage ist aus meiner Sicht: Unsicherheit, die wir mit dem Bedürfnis nach Sicherheit kompensieren. Es ist das Klammern an der Möglichkeit des Richtig. Angesichts des Wunsches nach Sicherheit ist es ja auch ein dickes Ding, die Herausforderung zwischen »Sich-Einlassen« und »Es-vermeintlich-im-Griff-Haben«, dem Richtig & Falsch, auszutarieren, letztlich das Bedürfnis nach Kontrolle immer mehr loslassen zu können. Denn die große Illusion – das ist das Gefühl von Sicherheit – hat uns alle irgendwann eingewickelt. Es beginnt mit dem ersten Erleben von Verletzung und damit dem Bedürfnis nach Schutz. Da nehmen wir die ersten Schritte in die Abhängigkeit. Jedenfalls ins Gefühl von Abhängigkeit. Beispielsweise zurück zu dem Moment auf der Brust meines Vaters beim Mittagsschlaf: Da bin ich – auf ganz menschliche Bedürfnisse reduziert – abhängig. Fakt. Ich »brauche« nun mal jemanden, der mich windelt, füttert, warmhält und mir hilft, mich zu entwickeln. Ich weiß, dass ich ohne die »Großen« aufgeschmissen bin.

Alleine der Gedanke macht mich allerdings nachhaltig traurig. Heute. Denn was ich verstehen kann – und es ging mir ja lange nicht anders –, ist, dass die Reduktion auf die vermeintliche Endlichkeit unserer Existenz und die damit verbundene Emotionalität in Beziehungen einem schier keine andere Wahl lassen, als sich diese als Fixpunkte zu suchen. Alles immer richtig machen wollen oder glauben, beeinflussen zu können: wissen zu können. Aus Angst um das Ende einer Beziehung, Panik, keinen Einfluss auf die Zuwendung oder Abneigung eines anderen zu haben.

Ich weiß. Das klingt unromantisch. Aber ich sage Ihnen: Genau das Gegenteil ist der Fall! Denn heute kann ich sagen, dass ich diese beiden Menschen mit Namen Martin und Inge, meine Eltern, wirklich liebe. Für das, was sie sind – wer sie in ihrem Wesen sind. Ihre Qualitäten. Nicht die Rollen, die sie versucht haben auszufüllen, also was sie je getan haben oder was sie mir gegeben oder nicht gegeben haben. Ich habe den Abstand gewählt und von da aus die emotionalen Verträge gelöst, die Abhängigkeit verlassen: das Mein–Dein–Band durchtrennt. Nur dadurch habe ich die wahre Liebe für sie wiedergefunden. Ich habe mich entschieden, sie wieder zu sehen. Das ist für mich schön. Und wahr. Romantik ist nur der menschliche Ersatz für die energetische Wahrheit von ehrlicher Liebe. Und die musste ich für mich zurückerobern, indem ich sicherheitsgetriebene Emotionen Stück für Stück erspürt, aufgedeckt und geheilt habe. Das war ein langer Prozess. Je mehr ich mich da herausgeschält habe, umso mehr konnten und können auch meine Eltern nachziehen. Das war deren freier Wille. Hätten sie ja auch bleibenlassen können. Denn zuvor hatten wir ja zu jedem bisschen Ja gesagt, das diese Abhängigkeit je begründet hat. Jede Verletzung, jeder Vorwurf wurde und wird auf seine darunter liegende Anspruchshaltung meinerseits überprüft. Heißt eigentlich nichts weiter, als dass ich meine Verantwortung wieder übernommen habe. Heilen sagt hier also nichts anderes als: loslassen. Damit konnte ich mich aus dem emotionalen Netz lösen, das all meine Beziehungen nachhaltig beeinflusst hat.

Alle …!

Das befreit ungemein. Ob Sie das als Tochter/Vater/Mutter/Sohn etc. wählen oder nicht. Fest steht aber, dass wir einander in voller Größe brauchen! Um an- und miteinander wachsen zu können. Und manchmal muss man dabei eben auch unbequem sein. Das heißt: die Bequemlichkeit des Bekannten, Gewohnten, Erwarteten überwinden. Liebe heißt vor allem: Grenzen zu setzen! Oder genauer gesagt: für mich und meine Grenzen einzustehen. Und das erfordert Mut. Mut, Nein zu den emotionalen Verstrickungen zu sagen und stattdessen die innere Anbindung an das Bewusstsein aus dem Körper heraus als solides Fundament zu etablieren. Kurz: mir also treu zu sein. Und damit »gefühlt« gegen den Strom zu schwimmen. Und das ist innerhalb der Familie oft sehr herausfordernd, weil man schon lange und tief drinsteckt. Auch außerhalb von Familien.

Apropos schwimmen. Zum Thema Papa & Tochter möchte ich ein Erlebnis mit Ihnen teilen. In den vergangenen Tagen war ich schwimmen. Und wie ich da so zum Abschluss noch am Rand des Beckens meine Wassergymnastik (sehr zu em­pfehlen übrigens) mache, betritt ein Mann mit seiner Tochter die Schwimmhalle. Die Kleine reicht ihm kaum bis zum Knie und ist mit ihrer Aufmerksamkeit voll bei ihrem Papa. Die beiden kommen also in das 25-Meter-Becken. Der Vater hangelt sich am Beckenrand entlang, während das kleine Mädchen brustschwimmenderweise darum kämpft, das andere Ende des Beckens zu erreichen. Eine kleine weiße Badekappe ragt da aus dem Wasser. Kaum ist das Kind am Ende angekommen, fallen vom Vater, der einen sanften und liebevollen Eindruck macht, folgende Worte: »Fein, mein Schatz! Dafür bekommst du nochmal zwei Herzen und Pferdeaufkleber für dein Album. Ganz toll!« Das Kind freut sich sichtlich – zittert dabei allerdings wie eine Pappel im Wind. Die Lippen schon blau. Der Vater: »Schaffst du noch eine Bahn?« Das Mädchen mit klapperndem Kiefer: »Ja, Papa!« Die beiden zogen also von dannen. Ich spüre noch einen Moment lang nach, was ich da gerade erlebt habe. Und mir kommen die Tränen. Definitiv hat der Vater nichts falsch gemacht. Es gibt ihm nichts vorzuwerfen. Er bringt seiner Tochter das Schwimmen bei. Aber was ich tatsächlich wahrnehmen konnte, war, wie ein Vater seiner Tochter beigebracht hat zu überleben. Auch wenn der Körper bibbert und bebt, die Erschöpfung schon spürbar ist, gilt: weitermachen. An die Grenzen und über sie hinaus. Es gibt auch für alles eine Belohnung. Und ob es für das Mädchen gestimmt hat oder nicht, haben beide überhaupt nicht hinterfragt oder überprüft. Der Mann hat nicht mal gesehen, dass seine Tochter nur im Erfüllungsmodus für Papa ihre Bahn abgestrampelt hat. Atemnot, Panik und Kälte wurden vollkommen ignoriert. Und nicht, weil es aus Böswilligkeit geschah, sondern einfach nur, weil man es so macht, weil ein tradiertes Muster nicht überprüft wurde. Die Qualität dieser Lehrstunde des Lebens war deutlich. Dem Mann hat man das Schwimmen vermutlich genauso beigebracht, und so hat er es wiederum seiner Tochter weitergegeben. Der Vater selbst war gefangen in dem, was er einst gelernt hat. Das war für mich so offensichtlich. Und das Mädchen wollte dem Papa gefallen und gesehen werden. Hauptsache überleben – das war die Einigung der beiden. Wenn auch für die beiden alles andere als offensichtlich. Das ist ja das Gemeine an unbewussten Strukturen – dass sie uns eben nicht bewusst sind. Nicht sichtbar sind. Denn mein Auge hätte keinen Fehler finden können. Aber ich konnte fühlen, das Unbewusste spüren. Und so wurde für mich an diesem Beispiel sichtbar, wie wir ständig ungefiltert Traditionen oder Lehren weitergeben, ohne sie je überprüft zu haben. Wir ergeben uns dem Funktionieren, dem So-macht-man-es-halt.

Das meine ich mit der »Arbeit«, die es für uns zu leisten gilt: den Blick weit zu halten und die ständige Bereitschaft zu kultivieren, auch zu hinterfragen. Nicht nur mein Papa, meine Mama, meine Familie zu sehen. Stattdessen: uns immer wieder zu öffnen, neu hinzuschauen, offen für uns selbst und unser Gegenüber zu bleiben. Sich von Urteilen und Schablonen freizumachen und also auch sich selbst nicht ständig zu ver­urteilen, wenn mal was nicht so läuft. Oder sich nicht zu überschätzen, weil mal was richtig gut läuft. Das ist wahre Stärke aus meiner Sicht. Nicht dieses protektive »Ich-kann-alles«– Gehabe.

Ich sage nicht, dass wir alles über Bord werfen und nur noch im Schäfchenwölkchenland rumtanzen sollen. Im Gegenteil. Füße auf den Boden und Augen auf. Vielmehr: Herz auf. Was nehmen wir wirklich wahr?!? Und: stehen wir auch dazu? Erfahrungen und Prägungen zu hinterfragen und dann auch noch zu überwinden, ist eine Aufgabe! Allein, was Verletzungen in Kindheit oder Partnerschaft schon alles angerichtet haben! Aber eines sage ich Ihnen: Einmal der Wahrheit wieder zugewandt, dass alles zusammenhängt, haben Sie gar keine andere Chance, als Eigenverantwortung zu übernehmen. Und auch andere um Unterstützung zu bitten, wenn Sie mal nicht weiterkommen. Andere haben Ihnen wehgetan? Ja! Definitiv. Mir auch. Aber haben Sie entschieden, die Lernaufgabe darin für sich zu verstehen, oder haben Sie entschieden, an dieser Verletzung festzuhalten? Es zu Ihrer Verletzung zu machen? Die jetzt Ihnen gehört. Zu Ihnen gehört. Möglicherweise ewig die Entschuldigung dafür sein wird, dass Sie sich nicht wieder einlassen, nicht wieder vertrauen können …? Verstehen Sie, was ich sagen will: Wir Entscheiden! Wir sind weder Opfer noch Täter. Es gibt Situationen, da möchte man nicht mehr an Gerechtigkeit oder Zusammenhänge glauben. Aber eines ist sicher: Alles kommt zu einem zurück. Niemand ist dafür da, den Dreck von anderen aufzuräumen. Das muss schon jeder selbst machen. Das ist, als würden Sie selbst mit einer Handlung einen Dominostein anstoßen, und durch die Kettenreaktion fällt Ihnen irgendwann wieder einen Klotz auf den Kopf. Das mag sogar manchmal erst in einem anderen Leben sein. Oder statt im Beruf dann in der Gesundheit oder der Beziehung – an einer Stelle, die Ihnen zunächst zusammenhanglos erscheinen mag. Aber die Quittung kommt. In beide Richtungen. Das gilt auch für die Liebe und die Wahrheit, die Sie bereit sind zu leben. Das Universum vergisst oder verliert nichts. Das Schöne an diesem weiten Bogen rund um das Zentrum der Eigenverantwortung ist, dass es tausend kleine Momente gibt, die uns immer wieder zum selben Rückschluss kommen lassen: Es liegt bei Ihnen. Das ist, wie durch Frankreich zu fahren und alle Wege beschildern die Richtung: Paris. Egal, von wo Sie auf die Dinge schauen: Es kommt immer wieder zu Ihnen zurück …

Mit unserem Hirn können wir so unendlich viel entschuldigen, begründen, verteidigen oder erklären – um eben nicht fühlen zu müssen. Diese sich ständig wiederholende Art des Denkens, des Entschuldigens und Sich-wieder-Verstrickens ist die ultimative Medizin, um die Trennung vom großen Ganzen nicht fühlen zu müssen. Die schnelle Lösung. Aber langfristig nicht die ultimative Antwort. Diese Trennung erfahre ich damals als Kind im Nachmittagsschlaf auf der Brust meines Vaters nicht. Da schlafen wir eben beide satt und wohlig. Mein Pa und ich. Aber auch ohne, dass wir das damals vielleicht wollten, wussten wir schon: Da gibt es viel zu tun …

Mal ehrlich

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