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Primaballerina in XL

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… viel zu tun! Das ist ein Ausspruch, der das Leben prägt. Ständig. Egal, ob wir dem nachgehen oder nur im Stress sind, weil es so viel zu tun gibt und wir eigentlich gar nichts wirklich dabei tun, außer gestresst zu sein. Dieser Stress des Tuns beginnt ja schon, sobald wir plappern oder laufen können. Da sind sie wieder: die lustigen Bilder oder Ideen der anderen, was wir alles werden sollen. Die Ideen von unseren Mamas und Papas. »Arzt soll er werden oder Künstler.« In meinem Erleben beginnt die Bildung irgendwann mit Blockflöte und Klavierunterricht. Um die Blockflöte komme ich drumrum. Gott sei Dank! Zumindest muss ich nicht selbst drauf rumkauen. Meine Schwester aber. Also bleiben wir vom Klang dieser Tröte doch nicht verschont. Wenn jemand die wirklich spielen kann, ist das ja schön. Aber das Üben …? Unser Hund Anke hat immer schauerlich gejault, wenn »Üben« dran war. Naja. Das Klavier war mir vertrauter. Denn mein Held, mein Papa, spielt auch auf dem Ding. Also lerne ich das auch. In einer Musikschule. So richtig mit Fünf-Mark-Stücken auf den Handrücken und Gerade-Sitzen usw. Bis zu dem Tag, an dem ich die Gershwin-Noten meines Vaters in den Unterricht mitbringe. Das möchte ich spielen lernen! »So etwas unterrichte ich nicht!«, sind die erschütternden Worte meiner Musikschullehrerin. Ein Todesstoß für meine Karriere als Jazzerin. Und auch für die Freude an dem, was mir gefällt – oder womit ich gefallen wollte. Das kann ich schon langsam nicht mehr auseinanderhalten. So oder so: Es trifft mich hart. Ich spiele zwar weiter, aber das hat irgendwie mehr mit »eine gute Tochter sein« zu tun. Und dem berühmten »Spiel mal was vor« (kam nicht oft, aber dennoch). Kennen Sie das? Das ist ähnlich wie: »Sag mal dem Onkel Hallo!« Was aber, wenn ich den Onkel nicht mag, dem also nicht »Hallo« sagen will? Oder gerade nicht den Entertainer am Klavier geben möchte, um der Tanzbär für die Anwesenden zu sein? Damit die humanistische Erziehung meiner Eltern Anklang bei den Zuschauern findet? Mal ehrlich: Welchen anderen Zweck sollte so eine Forderung der Eltern an ihre Kinder sonst haben? Sie ist die Folge eines Familienideals, dem man entsprechen möchte. Wie man gesehen werden möchte. Mehr nicht. Genauso wie die Nummer mit »dem Onkel Hallo sagen«. Mag ich nicht, weil ich fühle, dass mit dem was nicht stimmt. Kann auch meine Tante oder ein Nachbar sein. Nicht, dass jetzt gleich die Schublade »böser, perverser Onkel-Fantasie« aufgeht. Da ist einfach jemand, dem möchte ich nicht »Hallo« sagen. Ich möchte nicht auf Kommando lachen oder Klavier spielen. Darf das einfach so stehenbleiben? Nein. Also meinem eigenen Gefühl zu folgen, ist nicht so up to date. Und weil die Enttäuschung der Großen im Falle der Verweigerung nach einer solchen Aufforderung so niederschmetternd ist, als hätte ich sonst was falsch gemacht, zwinge ich mich – überschreibe mein wahres Gefühl – und gebe brav die Hand. Esse, was man mir gibt. Sage »Danke« und »Bitte« und »Hallo« und »Auf Wiedersehen«, wie es sich eben gehört. Innerlich weine ich gerade, denn das sind all die kleinen Momente, in denen ich einen kleinen Schritt weiter von mir weggegangen bin. Einen Schritt hin zu der vermeintlichen Wahrheit, den Regeln anderer. Ob die für mich stimmen oder nicht. Hauptsache, ich bin noch Teil dieses sozialen Gefüges, in dem ich versorgt und »geliebt« werde. Ich werde mittels meiner eigenen Entscheidungen mehr und mehr zum Tanzbär … Autsch.

Ich erlebe um mich herum, wie alle das machen. Meine Freunde, meine Schwester, meine Eltern, jeder. Jeder vielleicht auf eine andere Art. Die einen ziehen sich zurück. Die anderen werden laut. Die nächsten werden ganz besonders fleißig, und wieder andere stellen so viel Zerstörerisches an wie nur möglich. Auch eine Art zu brüllen, wie ich im Kindergarten damals.

Naja.

Es gibt ja noch andere, schöne Dinge, die man machen kann. Sport zum Beispiel. Meine ältere Schwester Martina geht ins Ballett. Super! Das versuche ich auch. Nur ist sie eine schlanke Gazelle, und ich habe mich noch nicht »gestreckt«, wie es heißt. Kurz: Ich bin pummelig. Und so erfahre ich auch hier eine jähe Zurückweisung: Ich hopse im Ballett fröhlich mit, turne und liebe mein rosa Outfit. Andere sagen, ich sehe etwas gepresst aus in meinem Tutu. Wieder kommen diese Urteile, bereit, meine Freude an den Dingen zu zerschmettern. Aber ich tanze mit, voller Freude – bis zu jenem Tag einer Aufführung unserer Ballettgruppe … Meine zarte Schwester darf in der ersten Reihe tanzen, »das Pummelchen muss in die letzte Reihe«. Damit bin ich gemeint. Da schneidet das tragische Ausmaß des menschlichen Zusammenlebens und Urteilens tief in mein Fleisch. Ein ganzes Kapitel unserer Menschheitsgeschichte offenbart sich mir in diesem einen Moment. Zwei ach so bezaubernde kleine Wesen – zwei Schwestern – werden: verglichen. Und ob wir das wollen oder nicht: Meine Schwester und ich werden auf das Kampfgebiet der Konkurrenz geschleudert. Die Gazelle und die Primaballerina in XL. Das trifft. Wieder so eine Bewertung, die die anderen vollzogen haben. Und die glauben auch noch, dass sie das »Recht« dazu haben! Wer fragt uns denn, ob wir das wollen? Ich finde das grauenvoll. Ich weine. Ich fühle, dass hier was absolut ungerecht ist. Meine Schwester fühlt sich ebenfalls mies, weiß aber gar nicht so recht, wieso. Denn sie mochte die erste Reihe. Kann sie ja nix dafür, dass ich moppelig bin. Aber dass ich weine, mag sie nicht …

Dieses Schwestern-Ding ist für uns beide eh schon so eine Aufgabe. Seit meinem »Ankommen« ist sie ja nicht mehr die Einzige, die im Fokus steht. Da kam ich eben dazu. Mein Erscheinen hat auch sie vor eine Neuerung gestellt. Nicht, dass meine Schwester ein egozentrisches Biest mit narzisstischen Einschlägen wäre. Definitiv nicht! Aber versetzen Sie sich mal in ihren Wahrnehmungshorizont: Da ist man in dieser Blase des alleinigen Fokus. Das erste Enkelkind im Familienclan überhaupt. Und auf einmal kommt noch wer. Ganz simpel: Ab jetzt wird geteilt. Ob man das mag oder nicht. Vom Eis bis zur Aufmerksamkeit der Eltern. Die einen können das gut wegstecken – die anderen eher nicht so. Da wir heute ein außerordentlich liebendes Verhältnis haben, wird sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich die eine oder andere Episode erwähne, die sich auf unserem Weg zugetragen hat. Also Lernmomente, die wir als Team in unserem Familienverband durchgemacht haben. So prägt beispielsweise bis zum heutigen Tag die Saga unserer Familienanekdoten die Beobachtung meiner Eltern, dass meine Schwester gerne mal in einem unbeobachteten Moment ihren kleinen Kinderdaumen in meine Fontanelle gedrückt hat (das ist die weiche Spalte oben am Schädel). Worauf ich natürlich geplärrt habe, was wiederum die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf uns gezogen hat – und meine Schwester unter Streicheln meiner Wangen tiefe schwesterliche Liebe hat bekunden können. Gemein, finden Sie nicht? Wir müssen aus heutiger Sicht tatsächlich darüber lachen, denn die Situation ist doch total klar. Die bisher ungeteilte Aufmerksamkeit von gleich zwei Menschen muss wiederhergestellt werden, oder zumindest muss erstmal ausgelotet werden, wer wo seinen Platz hat. Und da ist eine gewisse Form des – ich nenne es mal – Konkurrenzprinzips verständlich. Nicht, dass ich das Verhalten entschuldigen möchte! Hat ja wehgetan! Aber ich kann sehen, was dieser drohende Aufmerksamkeitsverlust ausgelöst hat. Da war erst ein Gefühl von Sicherheit: »Mama und Papa sind nur für mich da.« Und auf einmal ist da noch wer. Das beweist ja konsequenterweise nur, dass auch meine Schwester ein Wesen ist, das irgendwo Verträge eingegangen ist. Besitzansprüche entwickelt hat. Meine Eltern, nicht Unsere. Es ist eben nicht nur meine Schwester, sondern wieder ein Mensch – mit Entscheidungen. Sie ist ebenfalls bewegt und belegt von Erwartungen, Bildern und Identifikationen. Und ob sie es wollte oder nicht – vielleicht hat sich da eine Eifersucht eingenistet. Jedenfalls in den Kindertagen. Je nach Gemütszustand, also Wahl der entsprechenden Frequenz, traf mich entweder ihre Liebe oder eben irgendwas anderes. Vice versa, wie sich von selbst versteht. Ich beispielsweise habe entschieden, sie als die Große anzunehmen. Auch alles andere als auf Augenhöhe … Ihr bin ich gefolgt. Ich bin vor ihrer gelegentlichen Dominanz eingeknickt und habe sie idealisiert. Höher gehalten. Weg von der Augenhöhe zwischen uns. Sie ist die Ältere. Beispielsweise gab es in unserem Familienverbund auch einen Hund: Anke. Und wer den Kopf und wer das Hinterteil streicheln durfte, das hat sie entschieden. Wenn sie mir das gesagt hat, war ich eben für den Po und nicht die weichen Ohren zuständig. Eine willensstarke Persönlichkeit! Da es mir aber an Willen ebenfalls nicht gemangelt hat – oder vielleicht waren wir beide einfach nur stur …? – haben wir uns später auch ganz schön gekloppt! Eines muss ich dazu sagen: Wir lieben uns. Und es gilt hier, nicht sie zum Übeltäter zu machen. Im Gegenteil. Wir haben uns eben manchmal auf dem Spielfeld der Individualität gemessen. In anderen Momenten der Verbundenheit haben wir liebend Händchen gehalten und gemeinsam das Dschungelbuch gehört. Oder mit Papa »Auf der schwäb’schen Eisenbahn« geträllert. Es ist hilfreich, das alles so aufzudröseln, denn es macht so viel sichtbar. Gäbe es nämlich nicht die Aufmerksamkeit der Eltern, dieses ganze emotionale Paket rund um den Begriff Familie, gäbe es auch nicht das Bedürfnis nach Individualität, Aufmerksamkeit und Belohnung. Wir würden vielleicht nur Händchen haltend nebeneinander hertraben und unbeschwert durch den Tag trotten. Stattdessen gibt es für uns die Ballettschule. Ab dem Tag nicht mehr. ­Jedenfalls nicht für mich. Ich weigere mich. Das Tutu landet in der Ecke. Macht nichts! Gibt ja noch Tennis.

Aber auch da hat naturgemäß Martina schon zuerst die Füße auf den Platz gebracht. Sie ist ja die Ältere. Und siehe da: Sie ist großartig darin! Ein Ansporn und Vorbild für mich, das auch zu können. Diese Aussage ist natürlich schon tief verblendet durch die Kraft der Konkurrenz. Aber da ich das nicht sehen kann, weil ich schon tief drin verwickelt bin, ist es eben meine Lebensrealität. Das mit dem Tennis läuft soweit also ganz gut. Trotz meiner leichten X-Beine treffe ich die Bälle und tue mein Bestes. Aber auch das findet ein jähes Ende. An dem Tag, an dem ich die Hoden meines Trainers abgeschossen habe. Ich schwöre: Das kann man nicht absichtlich! »Hecke! Runter vom Platz!! Ich will dich hier nie! wieder! sehen!« Hm. Also fand auch meine Tenniskarriere ein abruptes Ende. Dick und ungeschickt. Es sind andere, die über mich richten.

Ich bin hochsensibel. Sonst würde ich das alles gar nicht mitbekommen. Das ist kein Talent, das ist eine Grundausstattung! Die Grundausstattung von uns allen. Wir sind alle hochsensibel. Mädels wie Jungs. Auch die Jungs. Weiß ich! Mit denen verbringe ich nämlich in meinen Kindertagen viel mehr Zeit als mit den Mädchen. Aber vor deren Mamis würden die nie weinen. Machen die einfach nicht. Gehört sich nämlich nicht. Jungs heulen nicht. »Immer stark sein«, sagen die Papis. Boah – ist das anstrengend! Und wieso wissen wir das? Weil wir Kinder uns in Momenten noch erlauben, uns gegenseitig wirklich zu zeigen, wie es uns geht, und zuzulassen, was wir wahrnehmen. Wir reden ehrlich über das, was wir erleben, unabhängig von dem, was offensichtlich ist. Nicht alle. Aber da gibt es zwei. Zwei Jungs aus meiner Grundschulklasse. Wir reden darüber, dass, wenn wir nachts Monster unter unseren Betten gesehen haben – dass die da waren! Wir wissen, dass die Erwachsenen nicht mehr sie selbst sind, wenn sie Alkohol getrunken haben. Da gucken uns Monster an aus den Gesichtern unserer Eltern. Und wir lieben sie trotzdem. Weil wir sie hinter den Fratzen sehen können. Ich halte diese Liebe. Eine ganz lange Zeit. Und ich lasse nicht zu, dass mich die Bilder und die Reduktion auf die Realität, die Beschränkung auf eine Geschlechterrolle, erdrücken. Aber je älter wir werden, desto mehr werden wir reguliert. Was man zusammen machen und was man nicht machen darf, wer mit wem spielen darf und wer nicht. Jungs mit Mädchen oder nicht. Wir sind also schon als Kinder aufgefordert, uns mit diesen Schablonen auseinanderzusetzen. So passe ich also nicht in die Mädchen-Schablone, nicht in die Tennis-Schablone und offensichtlich auch nicht in das Ballerina-Prinzessinnen-Kleid. Scheiß-Spiel! Entdecke ich eben was anderes für mich.

Reiten! Ein Pferd, das frisst und seine Äppel ablegt und keine Fragen stellt. Nicht manipuliert und nichts erwartet. Außer Hafer vielleicht. Oder mal ein paar Möhren. Das ist irgendwie ehrlich. Der perfekte Ort für mich. Da entladen sich meine Spannungen. Und doch ist es ein Ort, der zu meiner aktuellen Gemütslage passt. Es ist eher ein Zufluchtsort als ein Ort des Wachstums. Ein Ort, an dem ich immer wieder zu mir zurückfinde, wenn ich gar nicht mehr durchblicke. Oder ist es einfach der Ort, an dem ich mich nicht hinter einer Fassade verkrümele …? Meine Gefühle sind zu der Zeit so durchwachsen, dass ich das nicht mehr genau sagen kann. Aber etwas gehört zum Reitstall dazu. Etwas, das immer geholfen hat: die Natur. Die urteilt nämlich nicht. Hat Nietzsche schon gesagt: »In der Natur fühlen wir uns so wohl, weil sie kein Urteil über uns hat.« Kaulquappen züchten, auf Bäume klettern, draußen herumstreunen: Das sind die Wohlfühlmomente meiner Kindheit. Die Natur als Anker im Strudel des menschlichen Daseins …

Fortan habe ich Stunden im Reitstall verbracht. Pferde geputzt und Ställe ausgemistet. Das hatte was sehr Erdendes. Sollten Sie mal nicht richtig wieder auf die Füße finden: Ein Spaziergang in der Natur hilft immer. Die Verbindung zu sich selbst aufzunehmen, geht draußen am besten. Da haben Sie, wenn Sie so wollen, einen ehrlichen Spiegel. Beständigkeit, Ruhe, Wachstum. Die Vergänglichkeit als Kreislauf … Sommer, Herbst, Winter; Frühling – und wieder von vorne … Das reflektiert die Natur zu jeder Jahreszeit, zu jeder Tageszeit. Im Angesicht dieser Einfachheit lösen sich die schwierigsten Fragen des Kopf-Karussells. Oder fragen Sie beim nächsten Bauernhof mal nach, ob Sie einen Stall ausmisten können. Oder wüten Sie in Pflanzkübeln. Dreck und frische Luft. Das beste Mittel gegen die Zentrifugalkraft des Leistungsprinzips, gemäß dem wir immer mehr versuchen, all unsere Gefühle wegzurationalisieren. Denn das, was wir in der Stille, der Begegnung mit uns selbst offenbart bekommen – und da ist die Natur ein unermüdlich ehrlicher Spiegel – ist ja nicht immer schön. Da fliegen unsere Kompromisse auf, und all die Bewertungen und Urteile, die andere über uns fällen – die zu fühlen wir weggedrückt haben – werden spürbar. Ich weiß als Kind oft gar nicht, wohin mit all den Eindrücken.

Das erlebe ich auch in der Schule. Da entdecke ich, dass Wissen gut ankommt. Meine Schlussfolgerung: Bin ich eben gut. Entscheide ich für mich. Meine Grundschullehrerin, Frau Bücher, und ich finden uns da. Ich liebe diese Frau. Und sie mich offenbar auch. Wir haben da eine Frequenz, auf der wir uns verstehen. Wieder bis zu jenem einen Tag … Sie empfiehlt meinen Eltern, mich eine Klasse überspringen zu lassen, »damit ich mich nicht langweile«. Ich bin zu fix. Eine solche Em­pfehlung ist was Besonderes! So werten es die Großen. Ich, draußen auf dem Schulhof, habe nicht den Hauch einer Ahnung, was da drinnen zwischen meinen Eltern und Frau Bücher verhandelt wird. Das einzige, was ich weiß ist, dass wenige Tage später die Liebe zwischen Frau Bücher und mir beendet ist. Mit dem Tag, an dem sich meine Eltern gegen die Empfehlung ausgesprochen und mich im Jahrgang belassen haben. »Ich könnte ja später Probleme mit dem Altersunterschied bekommen.« So heißt es. Ich sage Ihnen: Es ist eine Verzweiflung, nicht ernst genommen zu werden! Es wird einfach über mich hinweg entschieden. Und alle sind sich sicher: Sie tun das Beste im Interesse des Kindes. Ich könnte heulen. Aber gut. So ist es jetzt eben. Was mich das aber wirklich lehrt, ist: Es sind hier nicht freie Menschen, die Entscheidungen treffen. Es sind persönliche Verletzungen, die der Türöffner für irrationale Handlungen sind. Wenn Energie alles steuert – aus welchem Pool werden also unsere Gedanken und Handlungen gefüttert, wenn wir uns schon in der Zurückweisung oder Ablehnung wähnen? Schaffen wir es, den Weitblick zu behalten, oder wollen wir ab da nur noch das Ich versorgen? Offenbleiben oder eng werden? Seele oder Geist? Wer gewinnt? Diese Fragen tangieren alle Lebensbereiche, also tangieren sie letztlich uns. Wir sind es ja, die im Leben sind.

Meinem Gefühl nach ist der Dschungel aus Ich-Ich-Ich zu dicht. Es ist kein Durchdringen. Meine Liebe zu Frau Bücher bleibt ab diesem Tag also unerwidert, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum. Die Entscheidung meiner Eltern ist für sie vielleicht eine zu große Zurückweisung ihrer Kompetenz. Ich bleibe spekulierend zurück. Denn die Frage nach dem ­Warum wird mir nie ehrlich beantwortet.

Wie ich Ihnen das alles so beschreibe, wird klar: Ich bin schon mitten drin im Kreislauf des Irdischen. Mein Weitblick ist also geschrumpft. All die vielen kleinen Schritte hinein in das Chamäleon-Dasein, das konsequente Anpassen an das Außen, lassen mich nur noch das Menschliche sehen. Das, was aber bleibt, ist die Kluft zwischen dem, was ich fühle, und dem, was lebbar ist. Was einstmals nur einen kleinen Riss zwischen meiner Wahrnehmung und meinem Sein dargestellt hat, erodiert immer mehr zu einem Spalt. Irgendwann werde ich diesen Spalt sogar als den Grand Canyon empfinden. Da bin ich kein Opfer. Nochmal: Ich habe das alles, was dazu beigetragen hat, entschieden. Manches Mal war es das bloße Anpassen und Mitmachen, manches Mal eine Form der Nichtentscheidung, manches Mal die Entscheidung dafür, dass eben alles andere hat stattfinden können. Wozu ich nicht aktiv Ja sage, ist folglich das Spielfeld für all das, was ich dann mit mir habe machen lassen. Der Wunsch, gesehen zu werden, bloßes Überleben, mitspielen zu wollen: Motivationen, die ich nachvollziehen kann. Dieses liebevolle Verständnis erlaubt mir aus heutiger Sicht eine klare Perspektive auf mich selbst und gibt mir damit die Kraft, alte Verletzungen zu überwinden, loszulassen und neu zu entscheiden. Allerdings setzt der Blick in den Rückspiegel voraus, dass ich ehrlich mit meinen Gefühlen und Projektionen bin. Bereit, für all meine Entscheidungen die Verantwortung zu übernehmen. Und das geht gar nicht ohne die anderen! Ich brauche ja einen Spiegel. Im eigenen Saft brät man oft lange und erkenntnislos vor sich hin.

Meiner Reitleidenschaft folgt eines sonntäglichen Nachmittages ein Familienausflug irgendwo Richtung Eisenach, wo wir Doraldo – einen 1,80 Meter Stockmaß großen Fuchswallach – aus dem Polizeidienst gekauft haben und den ich ab diesem Tag zu meiner Wohlfühloase gemacht habe. Das war meine Lebensrealität. »Da kann ich sein.« Dachte ich. Ab dem Tag jeden Tag draußen, im Stall, in der Natur. Frei. So fühlt es sich an. Zwar kommen auch hier Druckwellen auf mich zu, denn einfach nur durchs Gelände reiten und die Seele baumeln lassen wird von außen auch wieder kritisch gesehen. Dressurreiten, Turniere besuchen, Springreiten. Egal. Hauptsache, es ist was mit Leistung. Zunächst versuche ich auch da mitzuspielen. Denn ich will ja mit anderen sein. Mit ihnen spielen. Mich mit ihnen messen. Ich bin ein Geselligkeitstier. Ein Rudelvieh. Also schmeiße ich mich auch da voll rein. Aber wieder spüre ich unter der Haut diesen kleinen Riss, den Spalt, der sich immer mehr vertieft. Irgendwas an all dem Zusammensein stimmt nicht. Wo ist die Wahrheit? Wo ist die Intimität in der Gemeinsamkeit – neben der Tatsache, dass wir in kleineren oder größeren Gruppen Dinge teilen? Ja, gut. Da trifft man sich. Aber ich suche immer nach dem tieferen, ehrlicheren Kontakt. Folgerichtig ist auch das mit den Turnieren für mich nix. Ich entziehe mich dem, so gut ich kann. Ein bisschen Unterricht muss sein, denn das Pferd muss auch trainiert bleiben. So heißt es. Doraldo hat Schwächen an den Hufen. Das erfordert eine gewisse Aufmerksamkeit und eine spezielle Pflege. Ich erkenne, es ist nicht nur meine Rückzugsdomäne, mein stiller Support, ein Ort, an dem ich mich für eine Weile vergessen kann – ich muss auch was zurückgeben. Aktiv bleiben. Wachsam. Also gehe ich auch diszipliniert in die Reithalle. Während ich Ihnen das alles beschreibe, erschrecke ich selbst ein bisschen über das bereits unglaubliche Ausmaß der Entfremdung von mir selbst. Denn letztlich bin ich vor Menschen geflohen. Es ist auch eine Art Isolation, wenn man nur mit sich und einem Pferd durch die Welt trabt. Oder einem Hund. Wir sind Liebe-Suchende. Und die finden wir bei den treuen Gefährten, weil wir sie bei Menschen schon nicht mehr zu finden glauben. Ist das nicht erstaunlich …? Da bin ich bei der Geburt ein noch in der ärgsten Bedrohung ruhendes, sanft atmendes Wesen – und schon mit neun Jahren ein davon gänzlich degeneriertes Menschenkind. Und in diesem Aggregatszustand nicht die Einzige! Welche Entscheidungen wir also schon in jungen Tagen getroffen haben! Das gemeinsame Fliehen in die lineare (also weltliche) Realität und damit in die Ereignisse, wie Sport zum Beispiel oder Tatort-Gucken oder eben Pferdereiten, hat ja auch was Verbindendes. Aber das bleibt eben oft an der Oberfläche. Man teilt Ereignisse. Ja. Aber ob da wirklich Intimität, Austausch und eine wahre Begegnung stattfinden, bleibt oft fraglich.

Wie oft habe ich gehört, dass die moderne Psychologie ­an­geboten hat, eine »Verantwortung« bei den Eltern, den ­Geschwistern, den Lehrern – eben sämtlichen äußeren, menschlichen Einflüssen – für die individuelle Entfremdung zu suchen. Meine Güte: Wozu? Verantwortung liegt bei mir selbst. Das hätte ich gern mal gehört. Aber eben nicht nur als Disziplinarmaßnahme oder Wellnessprogramm einmal pro Woche. Sondern als ehrliches Lebensmodel. Eine gelebte Wahrheit, an die ich mich hätte anlehnen können, um mich wieder an mir selbst anzudocken. Es war stattdessen meine Wahl, unter den Urteilen, den Manipulationsversuchen und Zurückweisungen durch Dritte nach und nach einzuknicken und langsam, aber sicher, ebenfalls in den Mitmachmodus abzugleiten. Und woher habe ich das? Na, von den anderen. Durch die Reflexion, dass das eben der Weg ist, den wir gehen. Dass so das Mensch-Sein funktioniert. Wir haben ja ein anderes, großes Spielfeld, auf dem wir alle Platz haben: das Feld des Wettkampfes. Da messen wir uns eben in Fragen rund um Erfolg, Geld, Lebensqualität, Aussehen etc. Nur wer sich selbst wertschätzt, muss sich nicht messen. Und der kann das auch in anderen wieder wachrütteln. Aber das finde ich eben nicht …

Ich will mein Leben rückblickend gar nicht schwarzmalen. Ich hatte ja bei alldem einen Heidenspaß! Je mehr ich von mir weg bin, desto mehr hatte mich das ganze Spiel am Wickel. Und es ist ja auch alles darauf ausgerichtet, Spaß zu machen. Sonst würden wir ja nicht seit Jahrtausenden daran festhalten! Wir lieben diese Party! Doch insgeheim glaube ich, dass alle mal gerne eine Pause hätten. Einen Moment des Innehaltens, des Wahrhaftig-Werdens. Das ist nach Hunderten von Gesprächen sogar mehr ein Resümee als eine verzerrte Idee.

Ans Anhalten habe ich überhaupt nicht gedacht! Mir waren die wildesten Pferde die liebste Herausforderung. Keines zu schwer zu bändigen. Es liegt nahe, dass ich in meinem Drang nach Ausdehnung dem dörflichen Leben so schnell wie möglich entfliehen und selbstständig werden wollte. Irgendwann war ein Motorrad mein Schlüssel zur Freiheit. Es liegt etwas Anziehendes in dem Gefühl, die Dinge dominieren zu können. Ob das wilde Pferde, Motorräder oder andere gefährliche Situationen sind … Schnelle Autos, Fallschirmspringen … Es gibt das Gefühl von Kontrolle. Von Macht über eine Situation. Von Freiheit. Frei, es mit dem Himmel und den Mächten aufzunehmen. Mal schauen, wo die Grenzen sind! Jedenfalls in der Version von Freiheit, die der dreidimensionalen Perspektive auf das Leben entspringt. Also der Freiheit innerhalb der bereits kollektiv gewählten Enge eines linearen Daseins. Einem Bewusstsein, das auf stete Wiederholung und Stimulation aufgebaut ist. Cool sein, anders sein: rebellieren. Sind das nicht die treibenden Kräfte unserer Menschheitsgeschichte? Die Geschichte gibt zu verstehen: Haben wir uns gegenseitig irgendwo unterdrückt, kam die Revolution. War es zu brav, wurde es exzessiv. War es zu exzessiv, wurde es wieder gediegener. Immer anders als die anderen, die Generation unserer Eltern. Spüren Sie die Trägheit dieses Jo-Jo-Effekts, in dem wir uns bewegen? Und dabei glauben wir auch noch, dass wir uns entwickeln. Weiter entwickeln. Naja: bei einem Jo-Jo machen wir das auch: einwickeln, entwickeln, um uns wieder einzuwickeln, um uns wieder zu entwickeln … Es ist aber immer wieder dieselbe Spule, die wir auf- und entwickeln. Und da denken wir, wir gehen voran! Kurzer Rückblick zu Kapitel 2: Wir gehen gar nirgends hin. Loslaufen am Alexanderplatz = Ankommen am Alexanderplatz. Wir leben in Kreisläufen, ja. Aber dabei sind wir gefragt, uns zu vertiefen. Aufwickeln – nächstes Thema. Und nicht ein und dasselbe vorwärts und rückwärts. Einmal diesen Mechanismus durchdrungen, hätten wir die Chance, die Abläufe zu entlarven. Das würde aber voraussetzen, dass wir alle willens wären, die Tatsache anzuerkennen, dass es mehr gibt als nur Materie. Mehr als nur diesen einen Körper. Das eine Leben – das irgendwann zu Ende ist. Dass es immer einen nächsten Schritt zu nehmen gibt. Ein nächstes Leben, das auf uns wartet. Ein Leben in Kreisen mit ständiger Weiterentwicklung. Nicht im Jo-Jo-Prinzip. Also die Dualität unseres Seins wieder als gegeben anzuerkennen. Dualität meint hier Körper Und Geist/Seele. Ausgerichtet auf die Endlichkeit einer einzigen Realexistenz, ist es doch logisch, dass wir versuchen, es uns schön zu machen. So lange oder kurz, wie wir da sind, muss das Leben Spaß machen. Jo-Jo-Spielen eben.

So haben auch mir all die vielen Beschäftigungen Spaß gemacht, denen wir so gerne nachgehen. Ich verliere mich in stundenlangen Ausritten, beim Eisessen mit Freunden oder Spiele spielen. Aber letztlich sind all diese Dinge nichts weiter als Ablenkungen vom Wesentlichen. Das fällt nur kaum einem auf, da es alle machen. So wie ich mit meinem Reitsport, dem Tennisversuch oder meiner kläglich gescheiterten Ballerina-Karriere.

Mal ehrlich

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