Читать книгу Harry in love - Christina Masch - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
„Oh Bell!“, japste Harry. Seine Gefühle fuhren in dem Moment regelrecht Achterbahn. Mit einem sehnsuchtsvollen Blick antwortete er auf Isabels Frage: „Dann lass mich Dich glücklich machen oder es zumindest versuchen …!“ Schluchzend warf sie sich prompt an seinen Hals und Harry hielt sie einfach nur fest. Er schloss die Augen und sog ihren lieblichen Duft ein. Er konnte ihren Herzschlag spüren, ihren zerbrechlichen Körper fühlen, der noch immer von ihrem Schluchzen heftig geschüttelt wurde. „Psssst, Liebes, alles ist in Ordnung! Ich bin bei Dir; alles wird wieder gut“, flüsterte Harry an Isabels Ohr, während der gesamte Saal tosenden Applaus gab.
Nach einer Weile nahm Harry langsam wieder den Rest der Umgebung war. Toni hatte erneut eine langsame Runde eingeleitet und den kompletten Saal verdunkelt. Außer dem Funkeln der Discokugel waren nur noch die Bar und der DJ-Bereich in sanftes Licht getaucht. Ebenso die Stufen hinter ihnen. Da alle anderen Gäste bereits wieder tanzten oder sich an der Bar tummelten und ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkten, fragte sich Harry, wie lange sie wohl schon so dastanden. Isabel weinte jedenfalls nicht mehr und ihr Atem an seinem Hals ging ruhiger.
„Wollen wir gehen?“, fragte er vorsichtig, während er ihr zärtlich über den Rücken strich. Isabel nickte, ohne aufzusehen. Harry suchte daraufhin mit seinen Augen den Saal ab, um William, Jane oder Anabel ausfindig zu machen. Alle drei standen gerade bei Toni, dem DJ. Als William Harrys Blick begegnete, nickte dieser nur und machte eine wegschickende Handbewegung und legte gleichzeitig Anabel einen Arm um die Schulter: Jane und William würden sich um Isabels Freundin kümmern und sie heile nach Hause bringen. Harry erwiderte die Geste ebenfalls mit einem Nicken, das zugleich ein ‚Danke‘ beinhaltete. Anschließend nahm er Isabel bei der Hand und ging mit ihr die Treppe hinauf ins Erdgeschoss, wo bereits Martin auf sie wartete. Rasch stiegen sie ins Auto und schon fuhr Martin los.
Isabel sah durch das Fenster in die Nacht hinaus und schien mit ihren Gedanken völlig woanders zu sein. Harry ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, und schwieg. Er war schon überglücklich darüber, dass sie neben ihm im Auto saß und ihre noch immer eiskalte Hand in seiner lag. Harry hatte zwischenzeitlich die Augen geschlossen und lauschte dem leisen Klavierkonzert aus den Lautsprechern. So bemerkte er nicht, dass Isabel nun zu ihm herüberschaute. Erst als sie ihre Finger in seiner Hand bewegte, öffnete er die Augen wieder und sah zu ihr herüber. Eine leichte Schamesröte war ihm auf die Wangen getreten, was ihm sogleich ein schüchternes Lächeln von Isabel einbrachte. Er erwiderte dafür das Lächeln umso breiter.
„Wo fährst Du mit mir hin?“, fragte Isabel vorsichtig, die das Gefühl hatte, als würden sie ziellos durch die Straßen von London ziehen und damit nicht ganz falsch lag.
„Wo immer Du hinmöchtest“, erwiderte Harry.
„Ich würde gerne nach Hause“, bat Isabel. Sofort setzte Martin den Blinker.
Bereits zehn Minuten später waren sie bei Isabels Elternhaus angelangt. Unweit davon fand Martin einen Parkplatz. Er schaltete den Motor ab, stieg aus und ging einige Meter die Straße entlang. Fragend sah Isabel zu Harry.
„Er wahrt nur Diskretion. Außerdem wollte er uns für ein Gespräch allein lassen, denn Du warst die Fahrt über recht still. Magst Du reden oder möchtest Du jetzt lieber in Dein Bett? Wir haben alle Zeit der Welt. Melde Dich, wann immer Dir danach ist, und ich komme dann, wenn Du dies wünscht. Einverstanden?“, fragte Harry.
Zu seiner Überraschung schüttelte Isabel den Kopf. Verwirrt zog Harry die Stirn kraus. Isabel lächelte sanft. „Magst Du mit raufkommen?“, fragte Isabel vorsichtig. Anschließend musste sie jedoch über Harrys völlig entgeistertes Gesicht lachen: Er blickte zu ihr herüber, als hätte er sich gerade verhört oder bildete es sich nur ein, dass sie ihn doch tatsächlich eben allen Ernstes gefragt habe, ob er mit reinkommen wollte.
„Und was ist mit Deinen Eltern?“, fragte er daher einmal sicherheitshalber nach.
Isabel grinste. „Mein Dad ist auf Tour und meine Mum übernachtet heute ausnahmsweise bei einer Freundin, die ihren 50. Geburtstag feiert. Denn ihr war es nichts, nachts um drei heim zu kommen und keiner ist da. Denn eigentlich sollte ich die Nacht ja bei Anabel verbringen; zumindest war es so geplant“, erklärte Isabel und wurde anstandshalber rot.
Auf Harrys Gesicht zeigte sich umgehend ein breites Lächeln. Irritiert davon sah Isabel Harry fragend an.
„Ich glaube, Anabel fühlte sich in Williams und Janes Gegenwart ganz gut aufgehoben und ich verspreche Dir, dass sie von den beiden auch sicher wieder nach Hause gebracht wird“, erklärte Harry daraufhin.
„Danke“, flüsterte Isabel kleinlaut und senkte den Blick.
„Ach Bell“, seufzte Harry und strich ihr sanft über die rosa schimmernde Wange. Isabel sah erneut zu Harry auf und ihre Blicken trafen sich. „Ich komme gerne noch mit rauf; aber nur, wenn es Dir auch wirklich recht ist?! Wir müssen hier heute nichts übers Knie brechen; vor allem nicht um Mitternacht“, erwähnte Harry.
Für Harry völlig unerwartet, küsste Isabel ihn einfach auf den Mund. Somit war die Frage, ob er nicht doch jetzt lieber fahren sollte, geklärt. Harry half Isabel aus dem Wagen und schon war auch Martin wieder zur Stelle. Ein Blick in Harrys Gesicht und Martin wusste, dass er sich auf eine Übernachtung im Wagen einstellen konnte.
In Isabels Zimmer angelangt, war Harry erneut völlig überwältig von den kunstvoll gestalteten Wänden. Da Isabel lediglich die zwei Beistelltischlampen, die auf ihrer Sideboardreihe standen, angeschaltet hatte, wirkten die Efeuranken und die Elfe auf ihrem Seerosenblatt noch lebendiger als das letzte Mal bei voller Beleuchtung.
„Hast Du diese Kunstwerke an die Wand gebracht?“, fragte Harry auch prompt. Isabel nickte. „Du hättest Innenraumgestalter oder Designerin werden sollen!“
Isabel kicherte. „Nein, das wäre nichts für mich: Denn dort hätte ich nicht nur auf Abruf kreative Ideen haben müssen, sondern diese dann auch noch innerhalb eines bestimmten Zeitfensters fertigstellen sollen. Doch für so etwas brauchst Du Zeit und Muße: Ohne die richtige Stimmung kannst Du das Ganze auch gleich seinlassen! Meine Wandbemalung ist auch nicht von heute auf morgen entstanden. Zum Anfang gab es nur die zwei Sprüche auf gelbem Hintergrund. Irgendwann kamen dann die Efeuranken, welche eigentlich nur als Bordüre gedacht waren, hinzu. Aber irgendwie haben sie sich dann verselbstständigt.“
„Sie sind also gewachsen“, scherzte Harry.
Isabel schmunzelte. „So kann man es auch nennen.“
„Und wann hast Du den Engel oder die Elfe gezeichnet?“, fragte Harry interessiert.
„Den Engel habe ich nach dem Tod meiner Großmutter gezeichnet.“
„Du hingst sehr an ihr, nicht wahr?“, unterbrach er Isabel erneut.
Isabel sah nachdenklich zu Boden. „Es gibt Tage, da vermisse ich sie sehr. Wir waren irgendwie seelenverwandt: Ging es dem einen schlecht, wusste es der andere sofort, auch wenn wir kilometerweit voneinander entfernt waren. Seit sie nicht mehr da ist, fühle ich mich manchmal ziemlich einsam, hilflos und klein. Mein Vater trug natürlich auch einiges dazu bei. Tja, und an einem Tag, an dem es mir besonders schlecht ging, da entstand dann das Bild von der Elfe in meinem Kopf. Kurz darauf zierte es auch meine Wand.“
Harry wollte gerade einen Schritt auf Isabel zugehen und sie in die Arme nehmen. Doch die Worte von ihr: „Setz Dich!“, hielten ihn davon ab und so kam er ihrer Aufforderung nach und setzte sich auf die Bettkante ihres Bettes, zu welchem sie gezeigt hatte. Isabel selbst öffnete derweil ihren Kleiderschrank und zog sich ihre graue, wadenlange Häkeljacke, die sie wie eine Art Kleid über ihrer schwarzen Jeans und ihrem weißen Rolli getragen hatte, aus.
Das letzte Mal, als er dieses Outfit an ihr gesehen hatte, trug sie seine Kette mit der Katze …, ging es ihm durch den Kopf. Er schaute nachdenklich zu ihr herüber.
Als sich ihre Blicken trafen, sagte Isabel: „Du kannst Dich ruhig richtig auf das Bett setzen und Dich an der Wand anlehnen. Ich komme gleich wieder.“ Anschließend verließ sie kurz den Raum.
Harry zog die Beine an und wollte sich nunmehr bequem auf ihr breites weiches Bett setzen. Dabei piekte ihn etwas am Gesäß: Ein schmaler gefalteter Zettel, auf den er sich unbeabsichtigt gesetzt hatte. Er nahm das Blatt Papier in die Hände und faltete es, ohne weiter darüber nachzudenken, einfach auseinander und las die darauf festgehaltenen zwei Zeilen:
„Wenn Dein Vater stirbt, verlierst Du Deine Vergangenheit. –
Wenn Dein Kind stirbt, verlierst Du Deine Zukunft.“
Harry bekam sofort eine eisige Gänsehaut, die sich noch verstärkte, als er plötzlich Isabel vor sich stehen sah. Isabel musste unweigerlich hart schlucken und atmete durch den Mund. Harry sah ihr an, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Komm her!“, flüsterte er mit brüchiger Stimme und klopfte auf die Decke neben sich. Isabel kam Harrys Wunsch umgehend nach. Er nahm sie in seine Arme und strich ihr zärtlich durchs Haar. Isabel kämpfte noch immer um ihre Selbstbeherrschung. Sie atmete schwer.
„Bell, Du musst nicht Stärke beweisen: Wenn Dir zum Heulen zumute ist, dann weine! Es ist doch nur verständlich“, sagte Harry mit sanfter Stimme und schon ließ Isabel ihren Tränen freien Lauf. „Ich bin für Dich da, wann immer Du mich brauchst! Ich hätte schon viel früher für Dich da sein sollen … Aber ich will Dir deswegen keine Vorwürfe machen, ich war ja selbst viel zu feige, mich gegen Deine Bitte aufzubäumen.“
„Du warst nicht feige, Du hast wahre Größe gezeigt. Ich dagegen war einfach nur ignorant! Harry, es tut mir leid, dass ich Dir keine Möglichkeit gegeben habe, mit mir in Kontakt zu treten. Ich weiß von Anabel, dass Du mit der Information genauso überfordert warst wie ich“, erklärte Isabel unter Tränen.
„Psssst, bitte belaste Dich nicht noch mit Selbstvorwürfen! Du hattest Deine Gründe, weshalb Du nichts gesagt hast. Jeder geht mit einem Schicksalsschlag anders um. Und Du bist nun einmal jemand, der alles eher in sich hineinfrisst als sich anderen anzuvertrauen. Aber leider ist dies ziemlich ungesund. Mensch, Isa, darf ich Dich etwas fragen? Wie viel wiegst Du im Moment?“, wagte sich Harry vorsichtig voran. Isabel biss sich auf die Unterlippe und sah betrübt nach unten. Harry hob mit der Hand Isabels Kinn wieder an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. „Kätzchen, ich mache mir arge Sorgen um Deine Gesundheit! Als wir uns das letzte Mal sahen, hattest Du schon drastisch abgenommen, aber jetzt … Isabel, Du musst unbedingt wieder etwas essen!“
„Auch wenn Du es mir nicht glauben magst, aber das tue ich! Nur dass mir meist bereits der dritte Happen im Halse stecken bleibt“, erklärte Isabel kleinlaut. „Mein Körper reagiert leider schnell auf psychische Belastung: Nicht nur, dass ich Dein Kind verloren habe und Du Dich unbedingt mit meinem Vater anlegen musstest; obwohl Du wusstest, dass er Euch Royals nicht leiden kann! Nein, an genau diesem Abend erlitt meine Mutter auch noch einen Herzinfarkt.“
„Oh mein Gott!“, rief Harry entsetzt aus. „Und wie geht es Lindsay jetzt? Ich gehe davon aus, wieder gut, sonst wäre sie wohl kaum auf einer Geburtstagsfeier?!“, überlegte Harry laut.
Isabel nickte. „Ja, es geht ihr wieder gut und sie hat auch, Gott sei Dank, keine bleibenden Schäden erlitten. Sie ist quasi ganz die Alte. Aber all das hier, innerhalb so kurzer Zeit, war einfach zu viel für mich!“
„Und dann noch allein mit einem gewalttätigen Vater unter einem Dach …“, kam es Harry in den Sinn; nur dass er aus Versehen diesen Gedanken ebenfalls laut ausgesprochen hatte. Prompt wurde er knallrot. „Bitte verzeih, so war das nicht gemeint …“
„Doch, genau so war es gemeint! Und Du hast ja damit auch noch nicht einmal Unrecht: Mein Dad war über neun Jahre lang jemand völlig Fremdes für mich. Er versank in Selbstmitleid und fing an zu trinken, wenn er nicht gerade auf Tour war oder einen guten Tag hatte. Aber wenn er getrunken hatte, dann erhob er auch schon mal die Hand gegen meine Mutter oder mich. Aber nicht, dass Du jetzt denkst, dass er zum Schläger wurde und uns grün und blau schlug. Das war nie der Fall! Im Grunde tat es ihm anschließend immer sofort wieder leid und dann trank er noch mehr; leider“, erzählte Isabel offen.
„Du sprichst in der Vergangenheit. Ist es denn jetzt anders?“, fragte Harry aufhorchend nach.
„Ja. Nachdem Lindsay den Herzinfarkt erlitt, muss sich irgendein Schalter bei ihm umgelegt haben: Eines Abends saß er in der Küche und war wie ausgewechselt; so wie vor dem Motoradunfall meiner Mutter vor zehn Jahren. Erst bin ich dem ja skeptisch entgegengetreten. Aber bis heute hat er kein Glas Alkohol mehr angerührt; nicht einmal sein Feierabendbier trinkt er mehr. Und er kümmert sich rührend um meine Mum und auch um mich. Vor allem lässt er mir jetzt mehr Freiraum und ich stehe nicht mehr ganz so unter seinem Kontrollzwang.“
„Das freut mich zu hören. Hast Du deswegen Deine Haare wachsen lassen und sie braun gefärbt?“, fragte Harry.
Isabel musste schmunzeln. „Nein, das hatte ursprünglich einen anderen Grund: Alexander, Anabels Bruder …“
„Alexander, ist das der junge Mann, der heute mit Dir Gitarre gespielt hat?“, unterbrach Harry Isabel wieder einmal.
Sie nickte und erzählte weiter: „Alex hat eine Band, die Bax’ Toys, und Anabel ist die Sängerin. Vor kurzem fand ein Band-Wettbewerb statt und Alex’ Band hatte dazu eine Teilnahmebestätigung. Allerdings lag zu diesem Zeitpunkt Anabel mit einer Bronchitis, die sich anschließend zu einer Lungenentzündung verschlimmerte, im Bett. Ich bot mich an, Anabel zu vertreten. Damit dies jedoch nach außen hin nicht auffiel, ließ ich mir meine bereits stark gewachsenen Haare noch etwas länger wachsen. So sah ich Anabel noch ähnlicher“, erklärte Isabel gänzlich ruhig.
„Und da Anabel braune Haare hat, hast Du Dir dann Deine Haare umgefärbt, verstehe“, schlussfolgerte Harry.
„Das ist nur eine Intensivtönung; die wäscht sich mit der Zeit wieder heraus! Etwas anderem hätte mein Vater auch nicht zugestimmt und ich wollte nicht gleich wieder unser gutes Verhältnis zerstören.“
„Und wie sieht es mit unserem Verhältnis aus?“, wagte sich Harry zu fragen.
„Mein Dad wird weiterhin nichts von unserer Liaison erfahren.“
Harry musste breit grinsen. „Das meinte ich zwar gerade nicht, aber Du hast mir damit trotzdem meine Frage beantwortet.“ Isabel sah irritiert zu Harry herüber. „Es ist schön zu hören, dass Du unserer Beziehung eine zweite Chance gibst“, erklärte Harry.
Isabel wurde prompt rot und sah betreten nach unten. „Es tut mir leid, dass ich, statt mich Dir anzuvertrauen, vor allem davongerannt bin und Dich allein im Regen stehen lassen habe. Das war nicht fair. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen?!“, flüsterte Isabel und sah vorsichtig wieder zu Harry herüber.
Harry lächelte sie verschmitzt an und haute einfach mit einem Schulterzucken heraus: „Hey, ich warte im Regen und steh auf Dich!“ Isabel verstand nicht gleich und sah Harry irritiert ins Gesicht. Harry sah ihr derweil tief in die Augen und in seinem Blick lag so viel Liebe, dass Isabel prompt Schmetterlinge im Bauch bekam. Vorsichtig näherte sich Harry ihrem Gesicht und zärtlich fanden sich seine Lippen auf ihren wieder. Noch einmal und noch einmal. „Oh Bell, ich habe Dich so vermisst!“, hauchte Harry.
„Ich Dich doch auch!“, wisperte Isabel. Abermals sammelten sich Tränen in ihren Augen.
„Psssst. Nicht weinen, ich bin ja jetzt da! Alles wird wieder gut.“
„Alles?“, fragte Isabel, obwohl sie genau wusste, dass eines sie ihr Leben nicht wieder loslassen würde.
Harry seufzte. „Weißt Du, Isabel, Jane hat da ihre ganz eigene Theorie: Sie ist der Ansicht, dass es einen guten Grund gab, weshalb unser Kind nicht leben durfte. Vielleicht war irgendetwas nicht in Ordnung und der Embryo war nicht lebensfähig oder eben Deine Gesundheit war in Gefahr? Nur der liebe Gott weiß, warum, wieso, weshalb wir jetzt nicht Eltern werden sollten. Aber wenn man das Ganze aus dieser Perspektive sieht, ist es einfacher mit dem Schmerz klarzukommen.“
„Mir persönlich ist die schlichte Erklärung des Arztes lieber: Dass ein natürlicher Abbruch in den ersten drei Monaten recht häufig vorkommt; die meisten wissen dabei noch nicht einmal, dass sie überhaupt empfangen haben. Ich habe es aber leider schon gewusst …“
„Als Du erfahren hast, dass Du Mutter werden wirst. Was ging da in Dir vor: Hast Du Dich darauf gefreut oder hattest Du eher Angst und hast mir deshalb nichts davon sagen wollen?“, fragte Harry direkt.
Isabel atmete kurz tief durch und erklärte dann: „Erst war ich etwas durch den Wind, aber im Grunde habe ich mich gefreut. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie oder ob ich Dir das überhaupt sagen sollte. Deshalb hast Du damals diese etwas verwirrende SMS bekommen. Ich brauchte einfach ein wenig Zeit, um das Ganze überhaupt zu begreifen. Nicht einmal meine Eltern wissen etwas davon und so wird es auch bleiben! Aber da ich irgendwann mit der Wahrheit herausrücken musste, wollte ich es Dir an dem Wochenende nach dem nächsten Termin mitteilen. Zusammen mit dem ersten Ultraschallbild von unserem Kind. Aber dazu kam es dann leider nicht mehr …“
Harry überkam sogleich eine eisige Gänsehaut, was auch nicht vor Isabel verborgen blieb. Diesmal war sie es, die Harry in den Arm nahm. Am Ende lagen beide mit verheulten Augen auf Isabels Bett. Isabels Kopf lag auf Harrys linkem Arm und beide schauten gedankenversunken zu dem naiv dreinblickenden kleinen, dicken Engel auf seiner Schäfchenwolke.
„Darf ich Dich etwas fragen?“, stellte Isabel wieder einmal ihre berühmt berüchtigte Einleitungsfrage. Harry schmunzelte und nickte. „Musstest Du im vergangenen Monat wieder auf einen Auslandseinsatz oder hast Du Dich freiwillig gemeldet?“
Harry stutzte. „Woher weißt Du davon???“
Isabel wurde sogleich rot und räusperte sich. „Von Jane. Wir hatten uns an dem Abend bei dem Band-Wettbewerb im Club getroffen und uns eben auch unterhalten.“
„Schön, dass Jane so redselig ist; nur mir hat sie verschwiegen, dass ihr aufeinandergetroffen seid“, brummte Harry.
„Nun ja, ich war diejenige, die um ihre Verschwiegenheit bat“, gestand Isabel. „Ich war der Ansicht, dass es besser wäre, wenn wir uns nie wieder sehen würden. Als ich jedoch erfuhr, dass Du wieder einmal dort unten warst, da traf es mich wie ein Messerstich mitten ins Herz.“
„Weil Du mich noch immer geliebt hast?!“
„Nein, weil ich Dich noch immer liebe; das ist mir jetzt klar! Deshalb überkam mich ja vorhin auch diese Panik, dass mein Entschluss, unsere Beziehung für immer zu beenden, der größte Fehler meines Lebens sein könnte. Zumal mir da noch so viel Unausgesprochenes auf der Seele brennt.“
„Aber das müssen wir nicht alles heute klären, oder?“, warf Harry besorgt in den Raum.
Isabel musste unweigerlich kichern und schüttelte den Kopf. „Beantwortest Du mir trotzdem noch meine Frage?“
„Ja, ich hatte einen Antrag gestellt“, sagte Harry wahrheitsgemäß.
Sofort setzte sich Isabel stocksteif auf und starrte geschockt zu ihrem Freund herunter.
Harry seufzte und setzte sich ebenfalls auf. „Ich musste einfach raus, versuchen, den Kopf frei zu kriegen. Denn ich gab mir die Schuld daran, dass ich meine letzte Chance, wieder näher an Dich heranzukommen, mit dem Schlag in Deines Vaters Gesicht verspielt hatte. Das fraß mich auf und ich konnte nichts mehr mit mir anfangen. Doch bevor ich irgendeinen Blödsinn anstellen konnte, habe ich meinen Vorgesetzten gebeten, mich wieder nach Helmand zu entlassen.“
„Und da keiner weiß, was beim letzten Mal tatsächlich passiert ist, hat er Deinem Antrag stattgegeben“, schlussfolgerte Isabel.
„Nein.“
„Nein?“
„Nein. Mein Vorgesetzter hat den Antrag abgelehnt. Er hatte mitbekommen, dass ich in letzter Zeit nicht ganz Ich selbst war und vor irgendetwas davonlief. Ich bin auf anderem Wege nach Afghanistan gekommen.“
„Und der wäre, sofern Du mir dies erzählen möchtest?“
„Ich bin für meinen Vater nach Helmand geflogen, um unsere Truppen dort zu besuchen. Doch statt wieder zurückzufliegen, bin ich schlicht und ergreifend einfach dageblieben. Meine Großmutter, mein Dad sowie auch William und Jane waren mehr als auf hundertachtzig! Aber um der Presse nicht ein neues, gefundenes Fressen zu liefern und damit auch meine Identität im Kunduz nicht zu verraten, hielten sie darüber Stillschweigen.“
„Jane sagte mir, dass Du sogar sechs Wochen wegbleiben wolltest, statt nur drei?!“, erwähnte Isabel.
„Jane ist wirklich ein olles Plappermaul …“, grummelte Harry. „Schlimm nur, dass sie mir gegenüber schweigsamer ist als Dir gegenüber!“ Isabel musste unweigerlich grinsen. Harry schmunzelte ebenfalls. „Ja, Jane hat Recht: Ich wäre dort gerne noch weitere drei Wochen geblieben. Nicht nur, dass ich abgelenkt wurde und eine Aufgabe hatte. Ich konnte mich auch sammeln und wieder klar denken; da wusste ich natürlich noch nicht, was ich heute verpasst hätte, wenn ich länger fortgeblieben wäre …“ Isabel hielt prompt den Atem an. „Aber ich hatte die Rechnung ohne Charles gemacht. Er holte mich nach drei Wochen höchstpersönlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ab. Das Donnerwetter, das daraufhin hier zu Hause folgte, war gewaltig!“ Isabel atmete erleichtert wieder aus und legte Harry ihre rechte Hand auf seine Wange, welche er sofort mit seiner linken umschloss und zu Ende sprach: „Anschließend stand und stehe ich noch immer unter der Fuchtel meiner Großmutter. Warum sie mir ausgerechnet heute Ausgang gewährte, weiß ich selber nicht so genau?! Aber ich sollte ihr, wie auch meinem Dad, noch einmal nachträglich dafür danken. Denn so habe ich die Gelegenheit bekommen, wieder mit Dir zusammenzukommen … Wäre ich nämlich länger fortgeblieben, hätte ich es bitterlich bereut und ich möchte lieber erst gar nicht daran denken!!!“, gestand Harry und sah Isabel tief in die Augen.
„Und ich möchte zudem Gott dafür danken, dass Du heute in der Disco warst“, flüsterte Isabel und kuschelte sich prompt an ihren Freund, der sie nur zu gerne in seinen Armen willkommen hieß und sich mit ihr wieder nach hinten fallen ließ.
„Es war wohl tatsächlich eine himmlische Fügung …“, stellte Harry in den Raum und hauchte Isabel zärtlich einen Kuss auf die Stirn. Anschließend küsste er sie auf die Nasenspitze, ehe seine Lippen ihre fanden. Sofort legte Isabel ihre Arme um seinen Hals und zog ihn näher an sich heran. Nach einem kurzen Moment der Sinnlichkeit beendete Harry jedoch das liebliche Werben wieder, indem er Isabels Hände aus seinem Nacken löste. Verwirrt schaute Isabel zu Harry auf. „Es wird Zeit, dass Du etwas Schlaf kriegst und ich sollte jetzt auch nach Hause fahren; bevor Elisabeth eine Vermisstenanzeige aufgibt“, erklärte Harry ruhig.
„Bitte bleib, geh nicht!“, bat Isabel und eine leichte Panik machte sich in ihr breit und Tränen wollten ihr in die Augen steigen.
Harry nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste ihr zärtlich auf beide Schläfen. „Pssst! Ganz ruhig: Ich werde jetzt nicht sofort aufspringen und verschwinden. Ich bleibe noch so lange, bis Du eingeschlafen bist; ist das ein Kompromiss?“ Isabel biss sich auf die Unterlippe. Harry musste unweigerlich schmunzeln. „Ich weiß, dass Du es schöner fändest, wenn ich die ganze Nacht bei Dir bleiben würde und ich auch noch hier wäre, wenn Du wieder erwachst. Mir geht es im Grunde ja nicht anders. Aber leider müssen wir dies auf einen anderen Tag verlegen.“
„Versprichst Du mir das?!“
„Versprochen!“
„Und auch keine heimlichen Ausflüge mehr ins Kriegsgebiet???“
„Ja, auch das. Schließlich werde ich im eigenen Land viel mehr gebraucht …“, erwiderte Harry mit einem verliebten Blick in Isabels Antlitz. Isabel schluckte schwer und kämpfte mit ihrem dicken Kloß im Hals. Harry wischte ihr eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel und wisperte: „… und ich brauche Dich!“ Zärtlich küsste er daraufhin Isabel aufs Haupt, ehe er sie fest in seine Arme zog und bestimmend von sich gab: „So, und jetzt schlaf!“
Isabel kuschelte sich eng an ihren Freund und fragte: „Und wann werden wir uns wiedersehen?“
„Bald, mein Liebes, bald.“ Harry küsste Isabel abermals aufs Haupt. Isabel seufzte und kuschelte sich gleich noch ein bisschen fester an seine Seite und schloss die Augen. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Kein Wunder, denn es war bereits vier Uhr durch.
Eine halbe Stunde später stieg Harry aus ihrem Bett und deckte sie mit ihrer Tagesdecke vorsichtig zu. Zärtlich strich er ihr ihre neuen schulterlangen, brünetten Haare aus dem Gesicht und hauchte ihr noch einen sanften Kuss auf die Schläfe. Isabel regte sich, kuschelte sich dann aber mit einem zufriedenen Lächeln wieder in die Kissen.
„Schlaf gut, Glöckchen, und träum süß“, flüsterte Harry und knipste auf seinem Rückzug die beiden Lampen auf den Sideboards aus. Dabei kam er wieder an Isabels antiker Schreibmaschine und dem beigefarbenen Blatt Papier vorbei. Spontan griff er sich eines, zückte seinen goldenen Stift und schrieb eine kleine Botschaft für Isabel. Das gefaltete Blatt Papier stellte er auf ihren Nachttisch. Mit einem verliebten Blick betrachtete er noch einmal Isabels Gesicht und konnte es irgendwie noch gar nicht ganz begreifen, dass sie jetzt doch wieder zusammen sein sollten. Aber genau so war es und sein Herz machte einen kleinen Satz vor Freude. Mit einem überglücklichen Lächeln verließ er Isabel nun endgültig und machte sich auf den Weg zum im Auto schlummernden Martin.
Als Isabel am nächsten Morgen erwachte, war sie sich nicht ganz sicher, ob sie geträumt hatte oder ob Harry tatsächlich vergangene Nacht bei ihr gewesen war. Sie sah sich in ihrem Zimmer um und sogleich fiel ihr Blick auf das aufgestellte Blatt Papier auf ihrem Nachttisch, mit ihrem Namen darauf. Es trug Harrys Handschrift. Sofort bekam Isabel Schmetterlinge im Bauch. Mit Herzklopfen griff sie nach dem Papier und faltete es auseinander:
Guten Morgen, Kätzchen.
Na, gut geschlafen?
Nein, dies ist kein Traum, es ist wahr: Ich liebe Dich und danke ebenfalls Gott dafür, dass wir gestern Abend wieder zueinandergefunden haben. Ich bin überglücklich und hoffe, dass Du es auch bald wieder sein wirst …
Übrigens, was ich Dir gestern noch sagen wollte: Mir gefällt Deine neue Frisur, auch wenn sie etwas gewöhnungsbedürftig ist. Aber ich finde, sie macht Dich weiblicher, weicher, wenn auch etwas zerbrechlicher – was sogleich Beschützerinstinkte in mir wachruft!
Was ich demnach nicht gutheißen kann und was ich Dir auch bereits gesagt habe, ist Dein restliches Aussehen:
Isabel, bitte iss wieder einen Happen mehr – ich möchte Dich nicht auch noch verlieren! Das würde ich nicht verkraften, dafür liebe ich Dich viel zu sehr!!!
Also dann, ich wünsche Dir noch einen schönen Sonntag, und bitte bestelle Deiner Mum einen lieben Gruß von mir. Ich wette, sie sieht Dir gleich an der Nasenspitze an, dass irgendetwas anders ist als die letzten zwei Monate.
Vielleicht solltest Du ihr auch einmal sagen, was vorgefallen ist; wenn Du möchtest, begleite ich Dich bei diesem schweren Gang …
Bell, ich bin für Dich da; wann immer Du mich brauchst!
Tausend Küsse!
In Liebe, Dein Harry.