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Kapitel 2
ОглавлениеEines Montagnachmittags, an einem Markttag, hatte ich immer noch nichts verdient und darum auch noch nichts zu essen gehabt. Von dem wenigen Geld blieb nie etwas zum Sparen übrig und so musste ich von heute auf morgen leben. Mit knurrendem Magen saß ich auf einer leeren Obstkiste am Marktplatz, beobachtete das Gewühle und wartete auf eventuelle Kundschaft, die mich dafür bezahlen würde, ihr Gepäck zu tragen, oder so, als ich diesen schon etwas älteren Herrn am Rande der Menschenmenge entdeckte.
Er schien, seinem aufrechten Gang nach zu urteilen, körperlich noch recht gut in Form zu sein, was für sein Alter wirklich selten war, besonders bei seiner relativ schlanken Statur. Im Schatten schlich er in seinem schwarzen Kapuzenmantel die Stadtmauer entlang, so als ob er nicht gesehen werden wollte und die anderen Leute schienen ihn auch wirklich nicht zu bemerken. Er musste wohl etwas Wertvolles bei sich tragen...
Ich überlegte. Ich hatte riesigen Hunger. Ich bräuchte das Geld bestimmt notwendiger als er, um mir Kleidung zu kaufen, die mir wirklich passt und nicht an mir herabhängt. Einen Kamm und eine Zahnbürste zu besitzen wäre ebenfalls angebracht, denn wenn ich gepflegter aussähe, käme auch bestimmt mehr Kundschaft.
Fest entschlossen, diese einmalige Gelegenheit in meiner Notlage zu nutzen, näherte ich mich ihm vorsichtig und griff, ohne lange zu überlegen, nach dem Beutel, der an seinem Gürtel befestigt war.
Doch noch bevor ich das Geldsäckchen auch nur berühren konnte, hielt mich der Fremde auch schon am Handgelenk fest. Ein Schock! Seine Augen blitzten auf und er begann zu grinsen, als er mich erblickte.
„Halt ein, mein Junge, das brauche ich noch für jemand anderen“, sprach er deutlich amüsiert. Was hatte das zu bedeuten? Er war mir unheimlich. Jeder andere Mensch hätte in solch einer Situation sofort nach den Wachen geschrien! Natürlich war es besser für mich, dass er es unterlassen hatte. Doch welchen Nutzen zog er daraus? Vielleicht hieß das ja, dass ich mit ihm verhandeln solle...?
„Bitte, Herr, ich habe doch nur Hunger. Ich flehe Euch an, ruft die Wachen nicht!“, bettelte ich. „Ich verspreche...“
Er unterbrach mich: „Ein Dieb verrät seinesgleichen nicht. Das wäre gegen die Diebesehre.“ Ich sah ihn fassungslos an. Er lockerte seinen Griff und ich zog meinen Arm aus seiner rechten Hand, an der er einen großen, wertvoll aussehenden Ring mit einem schwarzen Stein darin trug.
„Du hast Talent, Knabe. Es ist nicht leicht, einen Dieb zu sehen, der unbemerkt bleiben will. Wir brauchen Mitglieder, die so talentiert sind wie du. Also,... wenn du mit deinem bisherigen Leben unzufrieden warst, dann komm zu uns. Wir werden dir einen anderen Weg zeigen...“, schlug er mir vor.
Erschrocken wich ich vor ihm zurück. „Lasst mich in Ruhe!“, verlangte ich.
„Wie du es wünschst...“, meinte er, wandte sich von mir ab und ging seines Weges. Aufgeregt schnappte ich nach Luft, während ich wirr in der Gegend umher sah. Vor lauter Hunger konnte ich nicht mehr klar denken, denn sonst hätte ich nicht versucht, ihn zu bestehlen ...und wäre dem Dieb auch nicht wie ein Hund hinterher gelaufen.
Ich holte ihn gerade noch ein, bevor er in der Menschenmenge verschwand. „Gilt Euer Angebot noch?“, sprach ich ihn erneut an.
„Ich wusste, dass du es dir anders überlegst. Einmal ein Dieb, immer ein Dieb“, behauptete er.
Ich folgte ihm zu einem abgelegenen, alten Lagerhaus am Rande der Stadt. Erst sah er sich um, holte dann einen Schlüsselbund, an dem sehr viele Schlüssel mit den verschiedensten Formen hingen, unter seinem Umhang hervor und schloss damit die Tür auf. Drinnen standen viele, mit weißen Leinentüchern abgedeckte, alte Möbelstücke, die anscheinend niemand mehr haben wollte. Nachdem er von innen wieder abgeschlossen hatte, hob er eines der Leinentücher von einem kleinen Nachttisch und öffnete den Schub. Darin befanden sich Kerzen und Streichhölzer. Eine der Kerzen zündete er an, schloss den Schub und deckte den Nachttisch wieder ab. Hinten, in einer dunklen Ecke, stand ein alter, fader, schmuckloser Schrank ohne Schrankbeine. Der Kasten sah sehr schwer aus und ich hätte ihn nicht bemerkt, wäre der Mann nicht darauf zu gegangen. Er öffnete die Schranktüren und leuchtete mit der Kerze hinein. Von innen sah der Kasten sehr geräumig aus. Vielleicht lag das aber auch nur daran, weil er keine Fächer mehr hatte. Dann hob er einen verrosteten Kleiderbügel aus festem Draht vom Boden des Schrankes auf und erst als sich dadurch ein Holzbrett erhob, unter dem sich ein Loch verbarg, erkannte ich, dass das der Griff zu einer Falltür war.
Nun überreichte er mir die Kerze und verlangte von mir, dort hinunter zu steigen, doch ich zögerte. Ich war mir unsicher, da ich Angst hatte, er wolle mich eigens dafür bestrafen, dass ich versucht hatte, ihn zu beklauen und würde mich dort unten einsperren und verhungern lassen.
Er sah mir meine Zweifel wohl an, denn er fragte lächelnd: „Hast du Angst, ich würde dich hintergehen wollen? Ich werde dir etwas sehr Wertvolles aus meinen Beutel als Pfand geben, abgemacht?“
Er griff in seinen Beutel, ohne meine Antwort abzuwarten und holte einen außergewöhnlich großen, in Gold eingefassten, klaren Smaragd heraus. Diesen drückte er mir in die Hand. Widerwillig stieg ich die Leiter hinunter in das ummauerte Loch, während mir durch den Kopf ging, dass er genau so gut abwarten könnte, bis ich dort unten gestorben wäre und sich den Edelstein dann zurückholen könnte. Unten angekommen, fand ich mich in einem steinernen Raum mit einem großen, gemusterten Teppich am Boden wieder. Die kahlen Wände waren mit vielen verschiedenen Wandteppichen verschönert. Auf den meisten war nur ein gesticktes Muster zu sehen. Doch gegenüber der Leiter, vorne in der Mitte, hing ein Teppich, auf dem eine atemberaubend schöne junge Dame abgebildet war. Sie hatte langes, blondes Haar und saß an einem Fenster, das mit Rosen umwachsen war. Einen Augenblick lang war ich von ihrem Anblick gebannt. Ich hätte mich sofort in sie verlieben können, wäre sie nicht nur ein Stück Stoff gewesen...
Ich erwachte aus meiner Trance, als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte und eine Stimme zu mir sprach: „Ich sehe, du hast Geschmack, aber vergiss sie. Sie ist nicht real - zumindest nicht für dich.“
Ich schaute um und war sehr erleichtert, den alten Mann hinter mir zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber der Moment schien mir ebenfalls unpassend, nachzufragen.
„Nun, hier bin ich. Du kannst mir vertrauen, jetzt wo du einer von uns bist“, beruhigte er mich, während er mir den Stein aus der Hand nahm und ihn zurück in seinen Beutel steckte.
Dann zog er den Wandteppich seitlich der Leiter, der, wie ich nun erst bemerkte, an einer Schiene befestigt war, beiseite. Zu meiner Verwunderung verdeckte er eine Tür mit drei untereinander angeordneten, komplexen Schlössern. Nachdem er auch diese mit dem jeweils passenden Schlüssel aufgeschlossen hatte, gelangten wir in eine Art Konferenzsaal mit sehr vielen Tischen und Stühlen. Vorne in der Mitte stand auf einer großflächigen Stufe ein großer, prachtvoller Schreibtisch mit einem Sessel dahinter. Gegenüber der Eingangstür, die an der rechten Seite des Raumes lag, war ein Kamin mit Feuerstelle. Ein Bücherregal stand am hinteren Ende des Saals und der Raum wurde von Fackeln beleuchtet, die an den Wänden entlang angeordnet und an den Säulen, die die hohe Decke des riesigen Saals stützten, in Halterungen steckten. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„So, da wären wir.“ Der Mann atmete auf, zog sich seine Kapuze vom Kopf und blies die Kerze aus. „Na, da staunst du. Den Plan für das Geheimversteck hat Odo entworfen. Er ist unser Technik-Genie und mit gemeinsamen Kräften haben wir es mit all unseren Diebesbrüdern und Schwestern heimlich und unbemerkt erbaut. Das Material dazu wurde selbstverständlich alles gestohlen. Das Lagerhaus wird jetzt schon seit Jahren nicht mehr benutzt. Als Kind fand ich mal den passenden Schlüssel dazu und schlich mich oft hierher, um zu spielen. Wer hätte gedacht, dass daraus mal das größte Diebesnest der ganzen Gegend wird?
Ich habe die Diebesgilde gegründet. Darf ich mich vorstellen? – Ich bin Alessandro, der Herr der Diebe, höchstpersönlich. Einen besseren, geschweige denn erfahreneren Dieb als mich gibt es nicht! ...Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
Irgendwie hatte es mir die Sprache verschlagen. Auf was hatte ich mich da eigentlich eingelassen? Doch nun schien es kein Zurück mehr zu geben... „Ich... weiß es nicht“, stammelte ich. “Ich kann mich an meinen Namen nicht erinnern. Ich weiß gar nichts mehr von meiner Vergangenheit. Vor etwa einer Woche bin ich verletzt an einem Flussufer aufgewacht und habe mich einfach bis zur nächsten Stadt geschleppt. Seitdem bin ich hier.“
Wir setzten uns und der Herr der Diebe sah mich nachdenklich an. „Ich verstehe“, meinte er nach einem kurzen Moment der Überlegung. „So kann man das natürlich nicht lassen. Du brauchst einen Namen. Wie würdest du denn gerne heißen?“, wollte er von mir wissen.
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, antwortete ich ihm, verwundert über mich selbst. „Ich glaube, ich habe darauf gehofft, dass mich einer von den Menschen in der Stadt erkennt und in mein altes Leben zurückholt.“
„Ich wüsste vielleicht einen Namen für dich. Wie gefällt dir Leander?“, fragte er mich. Ich zuckte nur mit den Schultern und nickte. „Gut, dann ist dein Name ab jetzt Leander“, bestätigte er. „Sobald unsere Diebesbrüder und Schwestern von ihren Streifzügen zurück sind, werde ich dich ihnen vorstellen. Mit dir sind wir jetzt zu achtzehnt. Als wir das hier gebaut haben, waren wir natürlich noch mehr, ganze zweiundfünfzig, doch die, die nicht mehr hier sind, sind entweder tot oder einige wenige von ihnen sitzen irgendwo bei irgendwem im Kerker. Du kannst bestimmt viel von denen, die übrig geblieben sind, lernen, denn sie waren die begabtesten und talentiertesten unter all denen. Aber auch ich persönlich werde dich unterrichten und ausbilden, werde dich lehren zu kämpfen, dir Diebeslektionen und akrobatische Tricks beibringen, die dir bei deinen Streifzügen ungeheuer nützlich sein werden. ...Und ich werde dir zeigen, wie man mit einem Dietrich umgeht, dem wichtigsten Werkzeug eines Diebes überhaupt. Aber bis die anderen zurück sind, führe ich dich erst mal durch das ganze Gebäude.“
„Was?!“, rief ich erstaunt. „Es geht noch weiter?“
„Natürlich. Wir brauchen doch auch einen Ort zum Schlafen, Wohnen und Trainieren und eine Schatzkammer, in der wir unser gestohlenes Diebesgut aufbewahren können“, erklärte er.
„Aber ab hier geht es doch nicht mehr weiter. Ich sehe keine Tür...“, stellte ich fest.
„Leander, du musst noch viel lernen“, belehrte er mich. „Eine der wichtigsten Lektionen lautet: Der Augenschein kann trügen. Nur weil du etwas nicht sehen kannst, heißt das noch lange nicht, dass es nicht da ist.“
Er stand auf, ging zu dem Bücherregal und schien ein Buch herauszuziehen. Doch dann stellte sich heraus, dass das Bücherregal an einer dahinter versteckten Tür befestigt war, die in einen Geheimgang führte! Eine tolle Tarnung!
„Odo?“, fragte ich nach, worauf er nickte. „Das Buch ohne Titel, merk es dir gut. Solltest du am falschen Buch ziehen, wird eine Falle aktiviert, die einen Steinbrocken auslöst, der dich gewiss nicht verfehlen wird. - Auch Odos Idee...“ Ich folgte ihm schnell in den Gang hinein.
„Falls du Hunger bekommst“, sagte er und zeigte nach rechts, wo ein Durchgang in eine Küche führte, in der am hinteren Ende des Raumes sogar ein Rohr gelegt war, durch das ständig Wasser floss. „Einen Fehler hat Odo gemacht:“, begann er zu erzählen, „Er hatte etwas falsch berechnet und wir stießen beim Graben auf Wasser. Das Leck ließ sich nicht mehr dichten und zuerst dachten wir, die Höhle würde nach und nach überfluten und die ganze Arbeit wäre umsonst gewesen. Doch dann stellten wir fest, dass der unterirdische Bach, auf den wir gestoßen waren, schräg abwärts floss und schließlich in den Fluss mündete. Und nachdem wir den Abfluss, der beim Graben verschüttet worden war, wieder frei geschaufelt hatten, hatten wir zusätzlich sogar einen Zugang auf sauberes, fließendes Wasser. Danach behauptete Odo, es wäre Absicht gewesen.“ Bei dem Gedanken an Odo verdrehte der Herr der Diebe die Augen und auch ich musste grinsen.
Nach dem Durchgang, wieder rechts waren noch zwei Türen, diesmal nicht verschlossen. Hinter der ersten verbarg sich eine Rumpelkammer. Auch hier floss das Wasser durch. Die zweite Tür führte in einen Waschraum, wo natürlich ebenfalls Wasser floss. Hier war ein großes, breites Becken angebracht worden, durch das das Wasser auch wieder abfließen konnte.
Links entlang des Ganges waren ebenfalls drei Türen. Hinter der ersten, die der Küche gegenüber lag, war ein großer Trainingsraum mit vielen schmalen Tischen an der Wand, auf denen die verschiedensten Waffen lagen. Pfeil und Bogen, Armbrust, Wurfsterne, Wurfmesser, Dolche, Schwerter,... Zielscheiben und lebensgroße Puppen aus mit Stroh gefüllten Säcken zum Üben waren auch darin.
„Waffen benutzen wir nur in den aller größten Notfällen!“, belehrte er mich. „Wir sind schließlich Diebe, keine Mörder!“
Hinter der zweiten Tür auf der linken Seite des Ganges war ein Verlies mit drei Zellen. „Hier könnten wir notfalls jemanden einsperren. Es wäre für Verräter oder Ähnliches gedacht“, erklärte er.
Durch die dritte Tür gingen wir nicht. „Dahinter ist ein Labyrinth, welches zu unserer Schatzkammer führt - ein weit verzweigtes Tunnelsystem, auf das wir zufällig beim Graben gestoßen sind. Keiner weiß, wie es entstanden ist. - Wohl eines der unerklärlichen Wunder der Natur. Die Schatzkammer, deren Standort Odo und ich gemeinsam ausgesucht haben, ist der einzige Raum, den wir ohne die Hilfe der anderen Diebe erbaut haben. Nur wir beide wissen also den richtigen Weg zur Schatzkammer. Wenn du dich darin verirrst, kommst du nie wieder heraus, das garantiere ich dir, es sei denn, er oder ich finden dich zufällig noch rechtzeitig, bevor du verhungert bist“, machte er mir klar. Ich musste schlucken. Allein schon bei dem Gedanken lief mir ein kalter schauer den Rücken hinunter.
Nun waren wir bei der letzten Tür, am Ende des Ganges, angekommen. Dahinter befanden sich viele Stockbetten, von denen jedes zwei große Truhen bei sich stehen hatte. Der Schlafsaal, eindeutig.
„Such dir ein freies Bett aus“, forderte er mich auf. „In der leeren Truhe daneben kannst du deine Sachen aufbewahren - und mach dir keine Sorgen, dass eines Tages etwas davon weg sein könnte, denn das wird nicht passieren. Wir sind zwar Diebe, aber wir würden uns niemals gegenseitig bestehlen. Wir sind wie eine große Familie, da keiner von uns mehr eine echte Familie besitzt. Außerdem würde dir ein Schloss an deiner Truhe sowieso nichts nützen, weil es jeder von uns knacken könnte.“
Er öffnete einen Schrank, in dem sich viele Kissen und Decken befanden, während ich mir ein freies Bett, oben, aussuchte, wo das untere schon belegt war und es kaum mehr erwarten konnte, zu erfahren, mit wem ich das Stockbett teilen würde.
„Du hast bestimmt Hunger“, unterbrach der Herr der Diebe meinen Gedanken. „Hol dir ruhig was aus der Küche.“
Vor lauter Aufregung hatte ich glatt vergessen, wie hungrig ich war und folgte darum seinem Vorschlag. Dann setzte ich mich mit Brot, Trockenfleisch und einem Tonkrug voll Wasser in den Konferenzsaal, um zu essen. Ich konnte mein Glück kaum fassen! Ich durfte mich satt essen! Seit den Tagen, die ich auf der Straße verbracht hatte, war ich keinen Tag mehr satt geworden und hatte auch an keinem Tisch mehr gegessen. Das Essen schmeckte unheimlich gut, aber wahrscheinlich lag das daran, dass ich den ganzen Tag noch nichts hatte, darum schlang ich es förmlich hinunter.
„Hey, hey, langsam, nimmt dir doch keiner weg! Bei uns wirst du nie wieder hungern müssen“, erklärte mir der Herr der Diebe, der mir amüsiert zusah. Dann setzte er sich zu mir und fing an zu erzählen: „Weißt du was? - Du erinnerst mich an mich selbst, als ich in deinem Alter war. Meine Familie war arm und darum stahlen meine Eltern nachts heimlich, wenn ich schlief. Doch eines Tages wurden sie geschnappt und ab da wurde ich von meinen letzten Verwandten, meinen Großeltern väterlicherseits, aufgezogen. Ich hatte auch sie sehr gern, doch als ich etwa in deinem Alter war, starben beide ziemlich schnell nacheinander, da sie schon sehr alt waren. Von dort an war ich auf mich allein gestellt.
Das Geld, das ich noch besaß, reichte nicht lange und auch ich begann zu stehlen. Ich weiß noch, das erste, was ich jemals gestohlen habe, war ein Apfel vom Obststand am Marktplatz. Doch irgendwann brauchte ich auch neue Kleidung. So stahl ich ab und zu auch mal einen Geldbeutel. Das ging dann immer so weiter. Ich verstand mein Handwerk eben und lernte bei jedem einzelnen Diebstahl etwas dazu, das ich vielleicht für den nächsten gebrauchen könnte. Ich war fleißig und hab irgendwann angefangen, mir jede einzelne Lektion aufzuschreiben. Solltest du dir mal durchlesen, nur mal so ein kleiner Ratschlag nebenbei, falls du lesen kannst. Inzwischen habe ich weit über tausend Diebstähle getätigt - und wurde noch nie geschnappt. Das muss mir erst mal einer nachmachen.
Als ich 17 war begegnete ich dann Odo, der damals zwar erst 14 war, es aber faustdick hinter den Ohren hatte. Er selbst führte immer nur Amateurdiebstähle aus, aber zusammen waren wir ein unschlagbares Duo. Er kannte die richtigen Leute, die großes Interesse an Wertsachen zeigten, die aber schon jemandem gehörten und ich beschaffte sie ihnen, gegen gute Bezahlung selbstverständlich. So bauten wir uns einen Kundenkreis auf und das Stehlen wurde zu unserem Geschäft. Sieh es einfach als deinen Beruf an. Ab dort begann ich also für Kunden auf Auftrag zu stehlen.
Dann, als ich 20 war und mir inzwischen ein kleines Vermögen zusammengespart hatte, begann ich arme, obdachlose Kinder ohne Familie, die ich beim Klauen beobachtete, von der Straße aufzusammeln und sie, zusammen mit Odo, auszubilden. Erst wohnten alle bei mir im Haus meiner Großeltern. Doch da es immer mehr wurden, mussten wir sie bald woanders unterbringen. Da fiel mir das Lagerhaus wieder ein. Odo plante und berechnete alles und wir begannen mit vereinten Kräften mit dem Bau des Geheimverstecks, welches so sicher ist, dass es bis heute noch nicht entdeckt wurde. So entstand die Diebesgilde und wie du siehst war sie so erfolgreich, dass sie heute noch, sprich 26 Jahre später, besteht. Und das Beste ist, wir müssen hier unten keine Steuern zahlen, da niemand etwas von uns weiß!
Tja... stehlende Straßenkinder gehen eben nie aus, genau so wenig wie reiche, habgierige Menschen. Da habe ich wohl eine Marktlücke gefunden...“
Ich hatte ihm aufmerksam zugehört. „Doch habt Ihr denn keine Bedenken, dass die Lage des Geheimverstecks von einem Neuzugang verraten werden könnte?“, interessierte es mich.
„Da müsste derjenige aber schön blöd sein...“, fand der Herr der Diebe. „Damit würde er nämlich wieder ohne Geld und Essen auf der Straße sitzen. Überhaupt vertraue ich auf meine Überzeugungskraft.“