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Kapitel 5

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Yto Te Vel war der geheimnisvollste Ort, den Racyl je besucht hatte. Er war mit nichts vergleichbar und es kam ihr fast so vor, als begegne sie einer Legende, von der sie zwar schon seit ihrer Kindheit immer wieder gehört, an die sie aber insgeheim nie geglaubt hatte.

Was hatte man ihr damals erzählt? Keine Stadt, eher eine Art Lager. Eine Heimat der Vergessenen, ein Hort der Magie und die Ruhestätte der Vergangenheit. Düster und abweisend für all jene, in deren Adern nicht das reine Blut der Batí floss. Angehörige der anderen Stämme wurden hier genauso misstrauisch behandelt wie Fremdländer und wenn kein Fürsprecher der Batí sie begleitete, so wurde ihnen der Zutritt ganz und gar verwehrt.

Die erste Begegnung mit Yto Te Vels Wächtern hatten sie schon einige Stunden zuvor gehabt. Der Nordwald war so dicht und finster, dass selbst Rahors Schwester die schwarzen Späher erst bemerkt hatte, als sie ihnen in den Weg traten. Sie verneigten sich knapp vor Mondor und Wandan, würdigten weder Racyl noch Mo eines Blickes und sagten in cycalanischer Sprache:

„Wir begrüßen unseren hohen Herrn Mondor und den großen Krieger Wandan. Bürgt ihr für Jene, die obgleich sie unreinen Blutes sind, unsere Stadt zu betreten gedenken?“

Mondor zuckte mit keiner Wimper.

„Dies ist Racyl Req-Nuur, Tochter des Kriegers Celdros und einer Mutter aus dem Stamme der Mituan. Sie ist die Halbschwester des hohen Cas Rahor Req-Nuur. Und bei mir ist auch Mo-Lahan Qin vom Stamm der Enca, Erster Diener im Hause des Cas Balman. Ich bürge für sie und wiederhole ihr Ehrenwort, unsere Gesetze zu achten.“

Wieder verneigten sich die Batí-Wachen.

„So teilet euren Gästen mit, dass ihnen gestattet ist, die Heimat der Vergessenen zu schauen, jedoch dürfen sie nicht allein auf ihren Wegen gehen und sollen die ihnen zugedachte Unterkunft nur verlassen, wenn dies unabdingbar ist.“

Die Wachen machten den Weg, den sie versperrt hatten, wieder frei. Kaum, dass sie außer Hörweite der beiden Späher waren, machte Mo seinem Erstaunen Luft. „Ich dachte immer, du wärst der Oberste Batí von Yto Te Vel, Mondor? Das klang gerade nicht sehr respektvoll.“

„Mein lieber Freund, da irrst du dich. Unsere Regeln hier sind streng und gelten für mich ebenso wie für jeden anderen. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn man mir eine Vorzugsbehandlung gewährt hätte. Im übrigen ist die Wortwahl der Batí, wenn sie auf andersstämmige Besucher treffen, sonst weit weniger freundlich. Wandan kann dies sicher bestätigen.“

Der alte Cas nickte.

„Ja, sie haben sich schon sehr am Riemen gerissen. Wir sollten ihnen zeigen, dass wir ihre Worte und unsere Gesetze dennoch ernst nehmen. Geht nicht aus dem Haus, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Und wenn ihr es tun müsst, so nur in Mondors oder meiner Begleitung. Alles andere wäre eine Beleidigung der hier lebenden Batí.“

Racyl und Mo versprachen, sich an die Anweisungen zu halten, auch wenn beiden immer noch ein wenig unwohl bei dem Gedanken war, gleich einen Ort zu betreten, an dem sie so wenig willkommen waren.

Bald darauf schimmerte Licht durch die dunklen Kiefern und Fichten hindurch. Wachtürme wurden sichtbar, nicht sehr hoch, aber dadurch nicht weniger bedrohlich. Sie waren aus schwarzem Stein gebaut und ungeübten Augen wurden sie erst offenbar, wenn man direkt davor stand. Man konnte nicht sehen, wie viele Batí sich wirklich darin befanden, aber aus schmalen Scharten deuteten silberne Pfeilspitzen geradewegs auf den Weg, der an ihnen vorbeiführte.

Und dann sah Racyl zum ersten Mal in ihrem Leben den sagenumwobenen Ort, von dem sie schon so viel gehört, vom Gehörten aber so wenig geglaubt hatte.

Er war größer als erwartet. Von einem kleinen, unauffälligen Lager konnte keine Rede sein, auch wenn er sich nicht mit einer Stadt wie Semon-Sey messen konnte. Solide Gebäude aus dem so verbreiteten schwarzen Stein waren schon fast ein Teil des Waldes geworden, oftmals überwuchert von Ranken und eingebettet zwischen moosbewachsenen Felsen, dichten Büschen und üppigen Stauden. Es gab keine Straßen, keine gepflasterten Plätze oder auch nur steinerne Wege. Zwischen den Häusern ragten weiterhin mächtige Nadelbäume empor, ein schillernder Bach schlängelte sich mitten durch sie hindurch und teilte dieses Dorf in zwei Hälften, die sich aber durch nichts voneinander unterschieden. Hier lebten offenkundig Menschen, die zwar die Annehmlichkeiten steinerner Behausungen zu schätzen wussten, dem Wald aber nicht mehr abtrotzen wollten, als es unbedingt nötig war. Über den Bach führten in einigem Abstand zwei Brücken und etwas abseits der meisten Gebäude hatten die Batí eine Art Versammlungsplatz angelegt, in dessen Mitte ein prächtiger Altar aufgestellt worden war. Um ihn herum deuteten große Fackeln, die in den Erdboden gerammt worden waren, darauf hin, dass zumindest ein Teil der Zusammenkünfte, bei denen die Batí wohl direkt auf der Erde Platz nahmen, bei Dunkelheit stattfanden.

Obwohl die meisten Häuser nicht besonders groß waren, wirkten sie dennoch nicht ärmlich. Silberbeschläge an Fenstern und Türen aus teurem Holz zeigten, dass man selbst hier oben in der Einsamkeit nicht auf ein gewisses Maß an Luxus verzichtete.

Völlig frei und ohne jegliche Leinen oder auch nur einen Aufpasser, graste eine Mondstute am Bachufer.

Racyl erinnerte sich daran, dass diese Tiere hier im Nordwald lebten und von den Batí gezähmt und zugeritten wurden. Doch alles, was sie sah, erweckte den Anschein, dass das Leben hier einträchtig und zwanglos vonstatten ging, wenn man von einigen Regelungen, die die Menschen sich selbst auferlegt hatten, einmal absah. Sie lebten in einer ganz eigenen Welt.

Und nun beobachteten sie, wie Fremde in diese Welt eindrangen.

Wortlos, mit verschlossenen Mienen hielten sie inne, als die kleine Gruppe ihren heiligen Ort betrat. Sie blieben einfach stehen, unterbrachen sich in ihren Handlungen und starrten die Besucher abweisend und stumm an. Es war eine gespenstische Atmosphäre, die herrschte. Die, an denen sie vorübergingen, verneigten sich vor Mondor und grüßten Wandan mit einem höflichen Kopfnicken. All das geschah ohne ein Wort.

Sie gingen vorbei an mehreren Wohnhäusern, passierten eine Wassermühle und eine Schmiede und gelangten schließlich zu einem etwas abgelegenerem Gebäude, vor dem sich der Bachlauf zu einer Art Teich verbreiterte.

Es war größer als die anderen Bauten, sogar größer als Rahors Domizil im Generalsviertel von Semon-Sey, und es besaß zudem noch einen eigenen kleinen Turm, dessen Dach kuppelförmig war und silbrig glänzte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Häusern Yto Te Vels verfügte es über zwei Stockwerke, von denen das obere sich aber nicht über die gesamte Fläche erstreckte, sondern an dessen Stelle auf einer Seite eine Art Dachgarten angelegt war.

„Leider kann mein bescheidenes Heim nicht mit der Weitläufigkeit Vas-Zaracs dienen. Ich hoffe, ihr werdet euch trotzdem wohlfühlen.“ Mondor lächelte, als sich die Hauptpforte von innen öffnete und ein kräftiger Mann mittleren Alters seinen Herrn mit einer tiefen Verbeugung begrüßte.

„Dies ist Aban, er kümmert sich normalerweise um meinen Haushalt. Wäre es zu viel verlangt, wenn ihr, Racyl und Mo, diese Aufgaben übernehmen würdet, solange ihr hier zu Gast seid?“

„Natürlich nicht!“ sagten die beiden fast gleichzeitig. Und Racyl fügte hinzu: „Das tun wird doch gern.“

„Ich freue mich. Aban, solange die Gäste in meinem Hause weilen, benötige ich deine Dienste nicht. Geh zum Tempel und nimm dort eine Unterkunft an, bis ich dich wieder rufen lasse.“

„Wie ihr wünscht, Herr.“

„Jetzt zeige aber Mo und Racyl zuerst ihre Zimmer. Danach kommst du in mein Arbeitszimmer und berichtest mir alles Wissenswerte. Ich war zu lange fort, als dass es keine Neuigkeiten geben könnte.“

Sie betraten den kühlen Eingangsraum des Hauses, doch Wandan blieb auf der Türschwelle stehen.

„Entschuldige mich bitte, Mondor. Auch mich zieht es in mein Heim. Sehen wir uns heute abend?“

„Natürlich, Wandan. Bitte sei dann mein Gast, Aban kann uns vor seinem vorläufigen Abschied noch ein Abendessen zubereiten.“

„Ich komme gern. Racyl, Mo, ich hoffe, ihr fühlt euch trotz der Umstände wohl hier. Bis später dann!“

Mondor lebte nicht gerade bescheiden, aber auch nicht über die Maßen verschwenderisch. Er hatte sich in seinem hohen Alter zahlreiche Annehmlichkeiten gegönnt, viele Polster und Kissen, teure Wandbehänge und vor allen Dingen Unmengen an Büchern und Schriften, die sich nicht ganz ordentlich in den Regalen stapelten. Die beiden Gästezimmer, in die sein Diener Aban Mo und Racyl führte, waren einfach, aber nicht karg eingerichtet und boten durch die überraschend großen Fenster einen herrlichen Blick zur Rückseite des Gebäudes hinaus, wo sich der Bach nach einer Schleife in einen kleinen Wasserfall ergoss, neben dem Mondor eine hübsche Laube hatte errichten lassen.

Obgleich sie immer noch die feindseligen Blicke der Batí spürte, fühlte Racyl sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig wohl. Es machte ihr nichts aus, dieses Haus nicht verlassen zu dürfen, auch wenn sie nach einigen Tagen vielleicht anders denken mochte. Aber jetzt fühlte sie auch die Müdigkeit und die Sehnsucht nach einigen Stunden Schlaf. Der Weg hierher war lang und beschwerlich gewesen, sie hatten sich keine Pausen gegönnt und waren zwei Tage lang durchgewandert. Und das niedrige Bett vor ihr mit seinen weichen Decken und seidenen Kissen sah nur allzu verlockend aus.

„Dway hat einen Jungen zur Welt gebracht, der alte Hosmer wurde endlich von seinen Leiden erlöst und die Schäden, die die Herbstunwetter mit sich gebracht haben, sind allesamt beseitigt. Yto Te Vel scheint mich nicht vermisst zu haben.“

Mondor lachte bei seinen eigenen Worten und prostete Wandan mit einem Becher Rum zu. Der Krieger jedoch sah nicht ganz so zufrieden drein.

„Bist du denn gar nicht beunruhigt über das Verschwinden von Yachemon?“

„Beunruhigt? Warum sollte ich? Ich weiß doch, wo er ist.“

„Ach? Ich nehme an, du willst dieses Wissen nicht mit mir teilen?“

„Warum sollte ich es dir verheimlichen? Mit ein bisschen Nachdenken könntest du allerdings auch selbst dahinter kommen.“

„Ich bin nicht in der Stimmung für Ratespiele, Mondor. Das Alter macht sich bei mir bemerkbar. Am liebsten hätte ich es so gemacht wie Racyl und Mo – mich ins Bett gelegt und gründlich ausgeschlafen. Es ist übrigens bedauerlich, dass sie dieses Abendessen verpassen.“

„Der kalte Braten wird ihnen auch morgen früh noch schmecken. Warum hätte ich sie wecken sollen? Aber gut, ich werde dir deine Frage beantworten. Yachemon ist natürlich bei Imra.“

„Wie kommst du darauf?“

„Imra ist ein kluger Kopf. Er weiß längst, dass wir nach Yto Te Vel zurückgegangen sind. Und er möchte gern herausbekommen, was wir hier tun, zumal wir in Begleitung zweier Menschen sind, die hier eigentlich nichts verloren haben. Und natürlich handelt Imra im Auftrag von Lennys, die über unsere Suche auf dem Laufenden bleiben möchte. Er weiß genau, dass es schwierig wird, etwas herauszufinden, es sei denn, er hätte einen Informanten, der sich hier frei bewegen kann.“

„Und das soll Yachemon sein?“ Wandan wirkte skeptisch. „Glaubst du wirklich, ein hoher Tempelpriester lässt sich als Spitzel einsetzen?“

„Gerade ein hoher Tempeldiener ist sich seiner Pflicht besonders bewusst. Wenn Imra ihn davon überzeugen kann, dass es Lennys' Wille ist, uns auszukundschaften, dann wird er das auch tun. Ich kenne ihn. Er will niemanden verraten. Aber wenn es denn sein muss, dann gilt seine Treue der Shaj, mehr noch als mir. Eigentlich ist das auch gut so, wenn man darüber hinwegsieht, dass es unsere Arbeit natürlich erschwert. Du wirst sehen, in ein paar Tagen ist er zurück, vielleicht auch schon morgen. Er wird sich häufig in unserer Nähe aufhalten, uns vielleicht sogar seine Hilfe anbieten und ausgesprochen freundlich sein, sogar zu Racyl und Mo. Yachemon mag ein guter Priester sein, aber es liegt ihm nicht, sich zu verstellen. Er ist nur allzu leicht durchschaubar und somit keine ernste Gefahr für uns.“

„Wie willst du überhaupt weiter vorgehen?“ Wandan nahm sich eine weitere Handvoll getrockneter Beeren aus einer Schale, die er im Laufe der letzten Stunde schon fast zur Hälfte geleert hatte. „Niemand kennt die Tempelschriften besser als du, glaubst du wirklich, du findest dort noch etwas Neues heraus?“

„Nein. Jedenfalls nicht auf dem direkten Weg. Es hat keinen Sinn, die Legenden zu durchstöbern, wir müssen uns an die Tatsachen halten. Yto Te Vel ist dafür wie geschaffen. Hier leben die ältesten Batí-Familien des Landes, viele von ihnen haben diesen Ort seit Generationen nicht verlassen. Sie haben das alte Wissen bewahrt und im Laufe der Jahre umfassende Chroniken angelegt. Da müssen wir ansetzen.“

„Aber wenn es da etwas gäbe, was uns weiterbringt, hätte es dann nicht schon jemand gefunden?“

„Es hat wohl nie jemand danach gesucht. Noch nicht einmal ich. Ich kenne die Geschichte der meisten Linien Cycalas' und auch die der einzelnen Stämme. Und ich kann mit Sicherheit sagen, dass der letzte bekannte Blutsträger keinerlei Spuren auf Nachkommen hinterlassen hat. Ich bin nicht der einzige, der davon überzeugt ist. Aber irgendetwas sagt mir, dass das plötzliche unsichtbare Ende dieser Linie nicht unser Ansatzpunkt sein darf. Wir müssen weiter zurückgehen und dort nach Informationen suchen.“

„Denkst du wirklich, wir können ihn finden? Den Erben? Falls es noch einen gibt, meine ich.“

„Wenn es noch einen gibt, dann werden wir ihn finden, Wandan. Wir müssen alles auf den Kopf stellen, müssen jede überlieferte Zeile prüfen. Und Mo und Racyl werden uns dabei helfen. Gerade, weil sie keine Batí sind, in Racyls Fall zumindest keine reine, können sie das Ganze aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Von wie vielen angeblichen Tatsachen sind Menschen wie wir überzeugt, nur weil wir von Geburt an mit ihnen als Wahrheit aufgewachsen sind? Mo und Racyl können sich kritischer annähern und werden Fragen stellen, auf die wir beide gar nicht kommen würden.“

„Laaaaand!“

Yos sprang außer sich vor Freude hin und her, so dass die Barke heftig schwankte. „Wir haben's geschafft!!! Ich glaub's nich'! Endlich!!!“ Ohne lange zu überlegen, fiel er Sara um den Hals.

Die Heilerin konnte seinen Gefühlsausbruch zuerst gar nicht nachvollziehen, der dunkle Streifen am Horizont konnte ebenso gut eine Gewitterfront sein. Aber sie vertraute auf die scharfen Augen des Sichelländers und ließ sich bald von seiner Freude anstecken. Eigentlich hätten sie die Küste schon längst erreichen müssen, aber bei einer solchen Entfernung, so Yos, könne man sich auch einmal verschätzen.

„Dann haben wir schon fast die Hälfte der Strecke geschafft, nicht wahr?“

„Na, nich' ganz, aber … Mensch, mit so nem Boot den Sichelbogen übers Meer zu befahren, und das im Winter!!! Wenn das mein Onkel hört!“ Yos glühte förmlich vor Stolz. Sara konnte ihm das nicht verübeln, er hatte sich bisher wirklich vorbildlich geschlagen, soweit sie dies überhaupt beurteilen konnte. Doch plötzlich verblasste das strahlende Lächeln des Fährers.

„Was ist?“ fragte sie und versuchte zu erkennen, was an dem Bild in der Ferne Yos plötzlich so ernst werden ließ. Für sie sah der Landstreifen noch genauso aus wie einige Momente zuvor und auch der jetzt orange gefärbte Abendhimmel schien nach wie vor friedlich und ohne böse Überraschungen zu sein.

Yos kletterte nach vorn an den Bug der Barke, als könne er durch diese paar Schritte noch mehr Details erkennen.

„Deshalb also....“ flüsterte er dann erschüttert.

„Was ist los? Yos? Was stimmt nicht?“

Niedergeschlagen ließ sich der junge Mann auf ein paar Decken sinken.

„Wir sind zu weit nach Osten abgetrieben. Der Wind. Ich hab mit'm Meer nich' so viel Erfahrung. Dachte nich', dass es so viel ausmacht. Deshalb hat es so lang gedauert.“

„Was willst du damit sagen?“ Sara fasste ihn hart an der Schulter. „Was meinst du damit, zu weit nach Osten? Wo sind wir?“

„Das da....“ Er streckte seinen Arm aus und deutete auf die dunklen Umrisse, die nun immer deutlicher wurden. Irgendwie sah es so aus, als wären sie nicht zusammenhängend. „Das da is' nich' das Sichelland. Also nich' die Küste am Sichelbogen, mein ich.“

„Nicht die Küste? Was ist es dann? Yos!!! Antworte endlich!“

„Das sind die Drei Wachen von Shanguin.“

„Drei Wachen? Shanguin? Du meinst, wir sind schon am Shanguin-Gürtel? Aber du sagtest doch, wir würden etwa an der Grenze das Land erreichen. Wenn wir jetzt schon weiter sind, ist das doch gut!“

„Gut? Das da nennst du gut? Die Drei Wachen, das sind drei riesige Felseninseln. Ringsherum gibt es Strömungen und Strudel, man wird richtig angezogen und zerschellt dann an den Klippen! Das ist unser Ende!“

Entsetzt starrte Sara wieder nach Süden.

„Aber … warum sitzt du dann hier herum? Los, steh auf, wir versuchen nach Osten abzudrehen, dann müssten wir doch wieder in sichere Gewässer kommen!“

„Das schaffen wir nich'. Der Wind is' viel zu stark, da kannste rudern, wie du willst! Sogar bei Windstille bräuchten wir ewig, um von hier aus die Küste zu erreichen. In der Zeit hat uns die Strömung längst auf die Wachen getrieben!“

„Du kannst doch nicht einfach nur zusehen, wie wir ...du kannst doch nicht einfach sterben wollen, Yos! Steh auf, wir versuchen, sie zu umfahren! Notfalls müssen wir noch weiter nach Westen aufs Meer!“

„Noch weiter? Spinnst du? Es wird bald dunkel! Da kannste auch gleich ins Wasser springen und losschwimmen!“

„Warum hast du nicht aufgepasst? Du hättest merken müssen, dass wir zu weit nach Westenkommen!“

„Du wolltest unbedingt übers Meer! Ich wollt' ja an der Küste bleiben, aber dir konnt's ja nich' schnell genug gehen! Hab dir gesagt, is 'n Risiko!“

Schon jetzt spürte Sara, wie die Strömung stärker wurde.

„Lass uns nicht mehr streiten, Yos, wir müssen etwas tun!“

„Und was? Nach Westen isses zu weit! Nach Osten – ne, noch weiter fahr ich nich' aufs Meer 'raus, das kannste vergessen!“

„Können wir nicht... Es sind doch drei Inseln! Können wir nicht zwischen zweien hindurchfahren?“

„Nee, da is' alles voller Felsen! Da laufen wir sofort auf Grund oder zerschellen!“

„Wir müssen es wenigstens versuchen! Oder hast du eine bessere Idee?“

Yos sah nach Westen. Kein Land in Sicht. Nach Osten. Nur das weite, hoffnungslose Meer. Nach Süden. Die drei Felsinseln. Seine Gedanken rasten.

„Zwischen.... zwischen der mittleren und der westlichsten Wache... da is' ein Durchgang, hab' ich mal gehört. Aber... aber das is' fast nich' zu schaffen. Man muss genau wissen, wo die Riffe sind.“

„Ist es unsere einzige Chance?“

Er nickte. Seine Augen waren angsterfüllt.

„Worauf warten wir dann noch? Wie weit müssen wir nach Westen? Ist das dort die westlichste Wache?“

„Ich glaub schon. Eins....“ Er kniff die Augen zusammen um die Umrisse der einzelnen Inseln besser erkennen zu können.“Z... zwei... und drei. Ja, das muss sie sein. Aber... bei Ash-Zaharr, siehst du, wie eng das ist? Wenn wir zu weit 'rüber getrieben werden, dann...“

Er musste nicht weiter reden. Inzwischen waren sie so schnell geworden, dass selbst Sara schon genau erkennen konnte, was sie bei einem einzigen Fehler erwartete. Spitz wie Nadeln, aber so dick wie Türme ragten die Felsen schon weit vor den Inseln aus dem Meer. Die Sicht wurde verschwommen von dem Gischt und den Wellen, die sich an den Klippen brachen. Niemand konnte das überleben.

„Hol das Segel ein!“ schrie Yos. „Der Wind ist zu stark, wir brauchen Zeit! Und dann rudern wir. So schnell wir können! Nach Westen rüber, bis wir auf Höhe des Durchlasses sind. Auf keinen Fall weiter, sonst zieht uns die Strömung direkt auf die äußerste Insel zu!“

Noch schneller als Sara befürchtet hatte, wurden die steinernen Wächter immer größer. Zugleich versank die Sonne am westlichen Horizont und das wenige Licht, dass sie noch verstrahlte, ließ das Meer so schmutzig-grau erscheinen, dass es sich kaum noch von dem Himmel darüber unterschied.

Ihre Arme brannten, so schnell ruderte sie gegen die Strömung an, es war fast unmöglich, mit Yos, der viel kräftiger war, in einem Rhythmus zu bleiben. Ihr Rücken schmerzte und der Schweiß rann ihr von der Stirn in die Augen, so dass die Umgebung immer mehr verschwamm.

Plötzlich wirbelte ein donnernder Schlag das Boot zur Seite. Ein hässliches, fast schmerzendes Kratzen ertönte, so laut, als würde der gesamte Boden der Barke aufgerissen.

„Nach Osten!“ befahl Yos. „Wir kommen zu weit ab, wir laufen auf Grund! Los, schneller!“

Noch war das Boot nicht ernsthaft beschädigt, aber es kostet sie alle erdenkliche Kraft, von den unsichtbaren, unter der Wasseroberfläche liegenden Felsen los- und in freiere Gewässer zu kommen.

Die Inseln rasten ihnen entgegen.

Dann ein neuerlicher Schlag, diesmal direkt von vorn. Die Wucht des Aufpralls schleuderte Sara kopfüber in Richtung Bug. Ohne den Schmerz in ihrer rechten Schulter richtig wahrzunehmen, rappelte sie sich wieder auf und tastete nach ihrem verlorengegangen Ruder, als sich plötzlich eine eisige Welle über sie ergoss. Hinter ihr prustete auch Yos, schrie irgendwelche unverständlichen Kommandos und deutete immer wieder in die südöstliche Richtung, die er scheinbar momentan für die sicherste hielt.

Nach Luft ringend und nicht mehr imstande, den Unterschied zwischen Wasser und Fels zu erkennen, rammte Sara das Ruder ins Meer, kämpfte blind gegen die Gewalten an und versuchte so, dem ständigen Schlagen, Fauchen und Krachen zu entkommen, das das Boot immer mehr in Mitleidenschaft zog.

Es wurde immer dunkler, jedoch nicht, weil der Horizont die Sonne verschluckte, sondern weil die Wachen sich nun direkt um sie herum drohend bis weit in den Himmel erhoben. Es gab weder ein Vor noch ein Zurück, kein Gedanke mehr an sicherere Wege und Durchgänge. Ein Überlebenskampf begann, in dem nur der Moment zählte. Diesen einen noch schaffen. Dann noch einen.

Sie wusste nicht, ob die Inseln vor oder neben ihnen lagen. Wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ob es ihr eigener Atem oder eisiges Wasser, das in ihren Lungen brannte, ob Wogen oder Felsen sie in der Barke herumschleuderten. Sie wusste nicht, ob Yos noch da war. Alles um sie herum war ein einziges Tosen und Brüllen, ein wuchtiger Schlag nach dem anderen, sie wurde zu Boden geschleudert und dann wieder fast über Bord gespült.

Es war wie ein endloses Ringen mit dem Dämon selbst.

Der letzte klare Gedanke, den Sara hatte, war der, dass Lennys wohl niemals erfahren würde, was mit ihr geschehen war.

Sie liebte dieses Bild. Der aufgehende Mond, der sich silbern im Wasser spiegelte und so dem See seinen Namen gegeben hatte.

Es war vielleicht der einzige Ort im Mittelland, den sie wirklich mochte. Er erinnerte sie an Zuhause. Gedankenverloren hob sie den Kelch an ihre Lippen. Er war genauso warm wie das Blut, das er enthielt. Die zweite Belohnung dieses Tages, diesmal noch viel köstlicher als einige Stunden zuvor. Es war in den Adern eines Mannes geflossen, der ihr nicht zum ersten Mal begegnet war. Sie kannte seinen Namen nicht, doch nie würde sie sein Gesicht vergessen. Er gehörte zu den wenigen, die ihr jemals ernsthafte Schmerzen zugefügt hatten. Ein gewöhnlicher Mittelländer, wie viele dachten. Sie wusste es besser.

Er war ganz allein gewesen. War an dem kleinen Steg gesessen, der über den See hinausragte, in der Hand eine einfache Angel. Als hätte er auf sie gewartet.

Nein, das hatte er nicht. Wäre er weggelaufen, hätten sie sich vielleicht keine Mühe gemacht und ihn entkommen lassen.

Aber er war nicht geflohen. War nur dort gesessen. Und dann hatte er sie erkannt. Und sie ihn. In diesem Moment wusste er, dass sein Leben gelebt war. Keine Gnade. Kein schneller Tod.

Die Cas ahnten nicht, welchen Genuss ihr das Spiel wirklich bereitete. Ihm erst die Sehnen zu durchtrennen, so dass er wehrlos am Boden liegenbleiben musste. Sein Blut zu trinken während er – nach wie vor klar bei Verstand – dabei zusah. Grauenerfüllt. Welch eine Genugtuung.

Und dann die Krönung. Ihn mit ihrem eigenen Dolch zu zeichnen. Gleiches mit gleichem zu vergelten. Die Schlange würde sein Sterben begleiten. Wieder hatte sie den Kelch gefüllt. Und noch immer musste er ihr zu sehen.

Sie hatte ihm angeboten, ihn von dem Anblick zu erlösen. Aber das hatte er nicht gewollt. Vielleicht hätte er besser zustimmen sollen. In wenigen Momenten hätte der Dolch ihm das Augenlicht genommen, doch er klammerte sich daran fest, als könne er damit alles andere verhindern.

Wie du willst, hatte sie gesagt. Dann wirst du mir weiterzusehen.

Sein Winseln störte sie. Ein kurzer Schnitt genügte, um daraus ein kraftloses Röcheln werden zu lassen. Seine Stimmbänder brauchte er ohnehin nicht mehr.

Nur sein Herz und sein Gehirn würde sie noch eine Weile schonen, bis sie von selbst aufgaben.

Ob er wüsste, wie schön Gedärme im Mondlicht glänzten, hatte sie gefragt. Aber er konnte ja nicht mehr antworten. Die Todesangst in seinen Augen berührte sie nicht.

Also zeige ich es dir, wenn du es nicht weißt.

Warmes Blut strömte über ihre Hände, als sie ihm die Bauchdecke aufschnitt.

Sie hätte ihm gerne noch vieles gezeigt, was er in seinem Leben noch nicht gesehen hatte. Und er wollte doch sehen, nicht wahr?

Wieder tänzelte die Klinge vor seinen Augen.

Sie konnte gar nicht genug von seiner Angst bekommen. Du wirst für deine Schuld bezahlen. Aber das hier reicht noch nicht.

Das Blut eines Sterbenden ist etwas Besonderes. Ob er das nicht wüsste. Und seines sei viel süßer als das der Hantua. Ob er nicht verstehen könne, dass sie mehr davon wollte.

Seine Augenlider flatterten.

Nein, hatte sie gesagt. Ich bestimme, wann die Zeit deines Todes gekommen ist. Nicht du. Und du sollst ihm bei vollem Bewusstsein begegnen.

Kurz bevor seine Besinnung ihn verließ, jagte sie ihm die Sichel in den Hals. Ein langes, qualvolles Ende für ihn. Ein viel zu kurzes Spiel für sie.

Die letzte Erinnerung an dieses Spiel leuchtete nun rot auf dem Grund des Kelches. Sie war allein auf dem Steg. Saß an der gleichen Stelle, an der er gesessen hatte. Und betrachtete den Mond.

Beinah wie Zuhause.

Sie hörte ihr eigenes Blut rauschen. So laut, dass sie nichts anderes wahrnahm. Es war wie Musik. Musik und ein strahlender Mond. Eine Last war von ihr abgefallen. Im Grunde nur ein Symbol, dass sie verborgen immer bei sich trug. Verborgen, weil es ein Zeichen ihrer eigenen Niederlage gewesen war.

Nun war derjenige, der sie ihr beigebracht hatte, tot.

Jetzt tat es nicht mehr weh, an damals zurückzudenken, als er gesiegt hatte. Er war nicht besser gewesen als sie. Nicht stärker, nicht schneller. Er hatte nur einen einzigen Vorteil gehabt. Hatte vermutlich selbst nicht einmal gewusst, dass es einer war. Hatte bis heute wohl nicht einmal geahnt, was er damals wirklich getan hatte.

Eine Niederlage, von der nur sie selbst wusste und nicht der, der dafür verantwortlich war und auch nicht der, der ihm dabei zur Seite gestanden war und jetzt tot am Ufer des Mondsees lag.

Jetzt war es keine Niederlage mehr.

Wie seltsam, ihn gerade hier zu treffen. Es ist wie Zuhause, dachte sie. Mein Platz. Mein Revier. So wie ich damals in seinem war.

Vor den Stadtmauern Goriols. Wo man die Verräter hängte und wo das Gesindel ausgepeitscht wurde. Da hatte er auf sie gewartet. Auf sie und auf die anderen. Er hatte den General aus Orio begleitet, doch damals hatte sie noch nicht gewusst, dass sich unter dessen Kapuze Iandal verbarg. Iandal, der noch mehr Anteil an ihrem Schmerz gehabt hatte, doch dieser Mann hier hatte ihm dabei geholfen. Hatte sie festgehalten, obgleich sie schon in Ketten gelegen hatte. Hatte das Eisen in die Glut gehalten.

Er war ihr im schwächsten Moment ihres Lebens begegnet und hatte sie noch schwächer gemacht. Im Dienste einer Fürstin, die damals nicht geahnt hatte, welchen Gefallen er ihr dadurch tat.

Sie roch noch das Feuer. Das verbrannte Fleisch. Niemals würde sie diesen Geruch vergessen. Als sie von den Wachen auf den Platz geschleift worden war, war es dieser Geruch gewesen, der ihr gezeigt hatte, was sie erwartete.

Feuer ist der größte Feind der Sichelländer.

Das wussten sogar die Mittelländer. Und sie machten es sich zunutze. So wie dieser hier.

Jetzt war er tot.

Und mit ihm das Gefühl, unterlegen gewesen zu sein.

Jemand war da.

Hinter ihr.

Sie fühlte es, aber sie drehte sich nicht um. Sie wollte nicht gestört werden. Diese Erinnerung zum ersten Mal ohne Bitterkeit zu durchleben, war ein Genuss. Ein letztes Mal noch hob sie den Kelch und ließ die letzten Blutstropfen die Kehle hinabrinnen.

Der Jemand hinter ihr nahm ihr das Gefäß aus der Hand. Es ist genug, hörte sie ihn sagen. Er sprach ganz leise. So weit weg. Durch das Rauschen kaum zu verstehen. Aber sie widersprach nicht.

Der Mond flimmerte vor ihren Augen, als das Wasser durch einen Reiher aufgewühlt wurde. Doch auch als es sich wieder beruhigte, hörte das Flimmern nicht auf. Da war jetzt nicht mehr die silberhelle Scheibe, sondern tausende von Sternen, die über den See tanzten.

Der Jemand hinter ihr legte die Hände auf ihre Schultern. Sie waren das einzige, was fest blieb. Der Steg auf dem sie saß, schien in die Tiefe zu fallen. Die Hände zogen sie nach hinten, bis sie sich gegen einen Körper lehnte. Jemand kniete da. Begann ihre Schultern zu massieren.

„Wir sollten bis morgen früh hierbleiben.“ sagte eine angenehm tiefe, sehr vertraute Stimme. „Es ist schön hier am See.“

Sie schloss die Augen und sah immer noch die Sterne, die umherwirbelten.

„Wer war das?“ fragte die Stimme jetzt. „Er war etwas Besonderes, nicht wahr? Du hast dir viel Zeit mit ihm gelassen. Und… hast viel von ihm genommen.“

Als sie antwortete, spürte sie, wie schwer ihre Zunge war und ihre eigene Stimme hörte sich fremd und weit entfernt an.

„Er war ein Nichts. Aber er hat etwas getan, wofür er bezahlen musste. Vielleicht... erzähle ich es dir... irgendwann...“

„Du solltest schlafen gehen.“

„Ich wäre jetzt gern im Sichelland...“ Sie gab jegliche Körperspannung auf und ließ es zu, dass sie jetzt nur noch von dem, der hinter ihr kniete, gestützt wurde. Seine Hände lockerten weiter ihre Muskeln und sie versank in einen barmherzigen Zustand der Gleichgültigkeit.

„Du hast einen Krieg zu führen, Lenyca. Ein ganzes Volk braucht dich.“

„Seit wann nennst du mich so?... Das hast du lange nicht getan...“

„Ich glaube, das habe ich noch nie getan. Ich spreche jetzt aber zu dir als meiner Herrscherin. Ich sehe, wie du dich immer weiter von uns entfernst. Auch von deinem Land. Ich möchte dich daran erinnern, zurückzukommen.“

„Ich bin doch hier...“

„Dein Körper ist mitten unter uns, Shaj der Nacht. Aber dein Geist ist es mit jedem Tag weniger. Das Blut unserer Feinde schärft unser Bewusstsein, aber deines wird davon genommen. Mit jedem Kelch ein wenig mehr.“

„Vielleicht will ich es so...“

„Vielleicht weißt du gar nicht mehr, was du noch willst.“

Es folgte ein langes Schweigen.

Fast glaubte der Jemand, sie sei eingeschlafen, aber dann sagte sie leise:

„Warum bist du hergekommen, Rahor? Warum lässt du mir nicht diesen Moment, in dem ich endlich einmal frei von allem bin?“

„Weil du dir selbst etwas vormachst. Viele Menschen haben Angst vor dir, Lenyca Ac-Sarr. Aber ich habe Angst um dich. Du bist nicht wie dein Vater. Das, was in ihm war, ist auch in dir. Aber in dir ist es stärker. Und es macht dich stärker, aber zugleich raubt es dir auch deine Kraft.“

„Warum sprichst du von ihm? Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“

„Das kann ich nicht. Ich habe geschworen, mein Leben für deines zu geben, wenn es notwendig sein sollte. Ich möchte wissen, wie viel Leben wirklich noch in dir ist.“

„Du unterschätzt mich. Ich kann euch alle besiegen. Iandal... Log... ich werde sie alle ins Verderben schicken. So etwas kann kein Toter.“

„Kannst du es wirklich? Wie viel braucht es noch, um dich ins Verderben zu schicken? Du bist der Hölle vielleicht näher als wir alle....“

„Ich bin die Hölle, Rahor. Ich bin das, was ihr am meisten fürchtet...“

„Im Augenblick bist du vor allen Dingen berauscht von viel zu viel Blut. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht in Momenten wie diesen mit deinem wahren Ich spreche.“

Sie lachte leise. Rahor fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Dieses Lachen, das so selten zu hören war, ließ ihn erschauern.

„Was ist mein wahres Ich, großer Krieger? Wenn ich es nicht kenne, wie könntest du es dann?“

„Bist du ein Mensch, Lennys? Bist du wirklich ein Mensch?“

„Was sollte ich wohl sonst sein?“

„Warum ist in dir dann so wenig, was einen Menschen ausmacht?“

„Ich vermisse nichts.“

„Ich glaube schon. Es gibt viele Dinge, die wichtig sind. Freude und Trauer... und... auch etwas viel Tieferes. Gefühle, Lennys. Hast du die noch?“

Sie lachte wieder.

„Du redest Unsinn, Rahor.“

„Wirklich? Du hattest sie doch einmal, nicht wahr? Warst du nicht traurig, als dein Vater starb?“

Sie sagte nichts, sondern versuchte, über seine Worte nachzudenken. Versuchte, sich an damals zu erinnern. Es gelang ihr kaum.

„Ich war wütend...“

„Das ist etwas anderes.“

Sie hob den Kopf und sah wieder hinaus auf den See. Es fiel ihr schwer, ihn überhaupt noch zu erkennen.

„Frag mich nicht solche Dinge, Rahor. Frag mich... gar nichts.“

Lange kam Rahor dieser Bitte nach und schwieg. Er massierte ihr weiter die Schultern und stellte fest, dass er es genoss, ihr so nahe zu sein.

„Sara... hat das manchmal gemacht.“ sagte sie plötzlich. „Sie konnte das.“

Rahor biss sich auf die Lippen. Die Frage, die ihm jetzt auf der Zunge lag, wagte er nicht zu stellen. Aber wenn nicht jetzt, wann dann?

Als könne sie seine Gedanken lesen, kam Lennys ihm zuvor.

„Du möchtest wissen, ob ich manchmal an sie denke... oder… ob... sie mir fehlt. Nicht wahr?“

„Ja und nein. Ich habe ein bisschen Angst vor deiner Antwort.“

„Weshalb?“

„Ich glaube, wenn du nein sagst... könnte ich das nicht verstehen. Und wenn du ja sagst,... wärst du mir fremd.“

„Manchmal denke ich daran. Aber nicht mehr.“ Sie hielt inne, schien für einen winzigen Moment wieder klarer zu werden und sagte dann laut: „Vergiss das.“

Jetzt lächelte Rahor. „Wie du willst.“

Als er sich später hinlegte und den wärmenden Umhang enger um seine Schultern zog, saß Lennys immer noch auf dem Steg. Aber dann stand sie auf, warf noch einen letzten Blick auf das Spiegelbild des Mondes und ging zurück zur Gruppe. Erst als auch sie sich auf dem Lager, das er vorbereitet hatte, ausgestreckt hatte, schloss der oberste Cas die Augen und schlief sofort ein.

Wie höhnisch konnte das Schicksal sein, einen solch klaren Sternenhimmel zu schicken? Weißes, unschuldiges Glitzern auf einem samtigen Blauschwarz, so sanft und still, als müsse darunter alles zur Ruhe kommen.

Es war derselbe Sternenhimmel, unter dem sie dem Tod ins Auge geblickt hatten.

Sara wagte nicht, sich aufzurichten. Sie lag auf dem Rücken in dem kalten Wasser, das sich in der Barke gesammelt hatte. Der Boden war hart. Aber er war noch da. Sie sah hinauf in den Nachthimmel und wünschte sich, nie mehr etwas anderes ansehen zu müssen.

„Ich lebe noch.“ dachte sie.

Dann holte die Erinnerung sie wieder ein und sie fuhr hoch.

„Yos?“

Er lag am anderen Ende des Bootes, hinten am Heck. Seine Haut war weiß wie das Mondlicht und seine Augen starrten ins Leere.

„Yos!!!“ schrie sie und die Angst, die sie plötzlich ausfüllte, verursachte schon fast körperliche Schmerzen. Sie stolperte über ein Seil, stürzte, rappelte sich auf und warf sich über den reglosen jungen Mann.

„Yos!!! Verdammt nochmal, sag etwas!“ Sie rüttelte an seiner Schulter.

„Yos, das kannst du nicht mit mir machen!!!“

Seine Mundwinkel zuckten.

„Ich sollte dir eigentlich eine runterhauen, Mädel.“

Jetzt zeigten auch seine Augen wieder Leben. Er zwinkerte sie an, was aber nicht darüber hinwegtäuschte, dass der Schock ihm noch tief in den Gliedern steckte.

„War 'ne Schnapsidee, hier lang zu fahren.“

Ihre Erleichterung trieben ihr fast die Tränen in die Augen.

„Es tut mir leid.“

Die Drei Wachen von Shanguin lagen hinter ihnen. Obwohl sie sich schon ein ganzes Stück von ihnen entfernt hatten, war noch immer gut zu erkennen, in welcher Gefahr sie geschwebt hatten.

Sara wusste nicht mehr, wie sie hindurch gekommen waren. Sie war durch Gischt und Wellen so gut wie blind gewesen, das Tosen und Heulen hatte Yos' Rufe übertönt und irgendwann war ihr einfach schwarz vor Augen geworden. Das nächste, was sie gesehen hatte, waren die Sterne gewesen. Schmerzen in der Schulter, in den Knien und am Kopf hatten ihr gesagt, dass sie noch lebte. Und das sanfte Schaukeln des Bootes, dass sie auch noch weiter leben würde.

Allein, sich dessen bewusst zu werden, hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert.

Sie reichte Yos ihre Hand, um ihm zu helfen, sich aufzurichten. Er musterte sie besorgt.

„Du blutest.“

Dabei berührte er ihre Stirn und zeigte ihr seine blutverschmierten Finger.

„Ach das. Halb so schlimm. Und du? Bist du verletzt?“

„'N paar Kratzer. Mehr nich', glaub' ich.“ Auch er sah zurück zu den Felsinseln. „Keine Ahnung, wie wir das geschafft haben. Müssten eigentlich tot sein.“

Sara untersuchte inzwischen das Boot.

„Das Segel ist zerrissen. Wir müssen eine der Decken als Ersatz nehmen. Oder unsere Umhänge. Und wir haben nur noch zwei Ruder. Eins ist zerbrochen, und das vierte fehlt ganz. Wurde wohl über Bord gespült.“

„Hauptsache, das Essen is' noch da.“ Yos rieb sich den Bauch. „Du wirst es nich' glauben, aber ich sterbe vor Hunger.“

„Ich auch.“ Sie untersuchte eines der Bündel, die unter den Sitzbänken verstaut lagen. „Es ist wohl ziemlich durchgeweicht. Das Brot können wir sicher wegwerfen. Aber vielleicht ist der Rest noch genießbar.“

Es stellte sich heraus, dass auch die Decken fast vollständig durchnässt waren. Nur zwei waren noch halbwegs zu gebrauchen. In sie eingekuschelt und sacht dahintreibend, aßen sie Fleisch und Obst, beides etwas salzig vom Meerwasser, aber dennoch köstlicher als sie es sich hatten vorstellen können. Vielleicht, weil sie gerade erst einen Moment erlebt hatten, in dem sie sich überhaupt keine Mahlzeit mehr hatten vorstellen können.

Sie fühlten sich tatsächlich wie neugeboren.

Nachdem sie sich gestärkt und noch einmal über dieses beinahe tödliche Abenteuer ausgetauscht hatten, machten sie sich daran, aus ihren Umhängen ein neues Segel zusammenzubinden. Es war längst nicht so gut wie das alte, von dem nur noch Fetzen übrig waren, aber es blähte sich im Wind und brachte die Barke wieder in Fahrt.

„Bei Nacht ist es leichter, die Richtung zu halten.“ erklärte Yos und deutete nach oben. „Siehst du diese beiden großen hellen Sterne da? Die, die ganz dicht zusammenstehen. An die müssen wir uns halten, denen müssen wir entgegenfahren. Dann sind wir bald am Festland. Und dann, das verprech' ich dir, gibt’s keine Experimente mehr. Dann bleiben wir an der Küste. Könnten sowieso kaum noch 'was abkürzen.“

Sara nickte nur. Sie sagte nicht, was sie wirklich dachte, nämlich, dass es eigentlich nicht ihr Fehler gewesen war, der sie fast das Leben gekostet hatte. Yos hätte besser aufpassen müssen, er hatte nicht gemerkt, dass sie zu weit nach Westen abgetrieben waren. Aber andererseits war sie diejenige gewesen, die dafür plädiert hatte, auf das offene Meer hinauszufahren. Also behielt sie ihre Meinung für sich. Sie machte Yos auch keinen Vorwurf, er war nun einmal kein erfahrener Seefahrer. Er trug keine wirkliche Schuld an der Katastrophe. Genauso wenig wie sie.

Die nächsten Stunden verliefen ruhig. Yos und Sara griffen abwechselnd zu den Rudern, jedoch nicht, weil der Wind zu schwach war, sondern um sich aufzuwärmen. Yos hatte vorgeschlagen, so schnell wie möglich an Land zu gehen, ganz gleich, wie unwirtlich die Gegend dort auch sein mochte. Sie wollten ein Feuer machen und ihre nassen Sachen trocknen und sich dann erst einmal gründlich ausschlafen. Diese Verzögerung mussten sie wohl oder übel in Kauf nehmen, das sah auch Sara ein. Insgeheim freute sie sich sogar darauf, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, selbst wenn es nur für kurze Zeit war.

Dann endlich schimmerte ein grüner Streifen im Morgengrauen am Horizont. Und diesmal wurde Yos Freudengeschrei nicht durch eine plötzliche Erkenntnis unterbrochen. Land. Richtiges Land. Keine Riffe, keine Felseninseln. Sondern braungrüne Hügel, die zum Meer hin in einen schlammigen Sandstrand übergingen. Es kostete sie mehrere Versuche, eine Stelle zu finden, an der sie mit dem Boot dicht heranfahren konnten, ohne auf Grund zu laufen, denn das Gewässer war hier seicht und schmutzig, so dass man kaum etwas sehen konnte. Aber dann fanden sie eine Bucht, an der sie anlegen und die Barke mit einem Seil an einem großen Stein am Ufer vertauen konnten.

Weitaus schwieriger gestaltete sich die Suche nach Feuerholz. Es hatte in dieser Gegend wohl tags zuvor geregnet und die wenigen Bäume, die es hier gab, boten nur nasses Astwerk. So mussten sie sich mit ihrem eigenen zerbrochenem Ruder, zähen Wurzeln und den stinkenden Algen zufriedengeben, die sie in einer trockenen Felsspalte gefunden hatten. Das Feuer verursachte mehr Qualm als Wärme, aber immerhin half es, die Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung und den Decken zu vertreiben.

„Wo sind wir eigentlich?“ fragte Sara, während Yos den Boden um sie herum von den größeren Steinen zu befreien versuchte, damit sie ein halbwegs bequemes Lager errichten konnten.

„Immer noch in Shanguin. Da hinten muss Valahir sein. Ich denk' mal, an klareren Tagen könnte man die Berge seh'n. Wir müssten auf so 'ner Art Halbinsel sein. Hab da mal ne Karte gesehn. Um die müssen wir rum. Also um die Halbinsel. Und dann noch an den letzten Bergen vorbei. Das war's.“

„Wie lange wird das dauern?“

Yos rechnete angestrengt nach. „Ich denk' mal, so zwei Tage oder so. Vielleicht 'n bisschen mehr, vielleicht auch weniger. Hab mich 'n bisschen verschätzt. Unter vier Tagen is' die Strecke insgesamt nich' zu machen. Dachte, es könnt auch schneller geh'n. War'n wohl nur Hochstapler, die sowas erzählen.“

„Das ist doch nicht deine Schuld. Ich weiß, dass es nicht schneller geht. Wahrscheinlich brauchen die meisten viel länger, wenn sie den Sichelbogen entlangfahren. Ich glaube nicht, dass jemand ein so kleines Boot schneller zu den Ruinen bringen kann, als du es gerade tust.“

Sie meinte das ganz ernst und Yos spürte das. Er strahlte vor Stolz.

„Weißte, ich glaub' auch nich', dass ich 'ne bessere Hilfe haben könnt' als dich. Hast zwar keine Erfahrung, aber du packst mit an. Ich dacht', du wärst so 'n verwöhntes Ding, weil du ja in Vas-Zarac gewohnt hast. Aber nee, biste nich'.“

Da fiel Sara etwas ein.

„Yos... wie willst du eigentlich zurückkommen? Der Wind kommt doch immer von Norden. Du kannst doch nicht den ganzen Weg rudern? Allein schon gar nicht.“

Yos grinste.

„Lass' das mal meine Sorge sein. Erstens kommt der Wind nich' immer von Norden. Nur meistens. Muss man halt 'nen günstigen Zeitpunkt abwarten. Und zweitens hab ich's ja nich' so eilig. Ich mein', natürlich will ich nach Hause. Aber wenn's ein paar Tage länger dauert, isses auch nich' schlimm. Kann's ja nich' ändern. Hauptsache, ich komm' überhaupt vorwärts.“

„Du könntest auf dem Landweg zurückgehen. Das geht vielleicht schneller.“

„Und die Barke? Neee, Sara, sowas mach ich nich'. Ich lass' doch so ein gutes Stück nich' irgendwo im Mittelland liegen. Nee, die geb' ich zurück. Oder heb' sie auf, bis du auch wieder da bist.“

„Bis ich wieder da bin?“

„Na, du kommst doch wieder, oder nich'? Oder willste gar nich' mehr nach Cycalas?“

Sara schluckte.

„Doch... ich... würde gern zurückkommen. Wenn ich noch darf. Das ist nicht meine Entscheidung, Yos.“

„Ja, ich weiß schon. Aber wenn du mich fragst, die nimmt dich wieder mit, wenn du's willst. Und falls du heimlich kommst, kannste bei mir in der Hütte wohnen. Is' ein Versprechen.“

Die Heilerin spürte, dass Yos das nicht nur sagte, um sie aufzumuntern. Vielleicht hatte sie ihm durch diese merkwürdige Reise einen größeren Gefallen getan, als ihr selbst klar war und dies war seine Art, sich dafür zu bedanken. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, über die Bemerkung zu lachen.

„Noch ist es nicht so weit.“ sagte sie nur. „Lass uns jetzt die Decken holen, die noch brauchbar sind. Ich falle um vor Müdigkeit.“

Obwohl es hellichter Tag war, schliefen beide ein, kaum dass sie sich niedergelegt hatten. Der Himmel war trüb und grau, brachte aber keinen Regen, sondern nur ungemütlichen Wind, der über sie hinwegstrich.

Am späten Nachmittag erwachten Yos und Sara fast zeitgleich. Beinahe alles, was sie um das inzwischen erloschene Feuer herum ausgebreitet hatten, roch jetzt nach Rauch und Algen, war aber zumindest getrocknet. Hastig suchten sie ihre Habseligkeiten zusammen und kehrten zu der Barke zurück, die schon bald darauf an der Küste der Halbinsel entlang weiter nach Süden segelte.

Horem wartete an einer Weggabelung. Wie so oft war er den anderen Cas und der Shaj voraus geritten, doch an diesem Tag gab es nichts Auffälliges zu vermelden. Weder die Spuren von Hantua noch umherwandernde Mittelländer gaben ihm Anlass für Neuigkeiten. Heute war er froh darüber, immer wieder ein wenig Abstand zur Gruppe zu haben, denn die Stimmung dort war alles andere als erfrischend.

Lennys war fast immer gereizt. Schlechte Laune hatte sie so häufig, dass es kaum noch auffiel. Wutausbrüche gehörten zu ihrem Tagesablauf wie bei anderen das Essen und Trinken. Und natürlich gab es auch Tage, an denen man am besten von Haus aus einen großen Bogen um sie machte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, wegen eines falschen Wortes im Kerker zu landen.

Der heutige Tag gehörte aus Horems Sicht mit Abstand zu ihren schlechtesten. Schon als sie bei Sonnenaufgang aufstand, war ihm das klar, zumal sie von allen am längsten geschlafen hatte. Ihre erste Handlung bestand dann darin, Garuel und Sham-Yu vor versammelter Mannschaft in Grund und Boden zu schreien, weil die beiden, die für den Proviant zuständig waren, sich noch nicht darum gekümmert hatten, ihre Wasservorräte aufzufüllen. Dabei interessierte es die Shaj nicht im Geringsten, dass beide Cas nur wenige Momente vor ihr die Augen aufgeschlagen hatten. Der nächste, der in den fragwürdigen Genuss ihres Zorns kam, war ausgerechnet Rahor, der es sonst wie kein Zweiter verstand, sich friedvoll aus solchen Konflikten herauszuwinden. Den genauen Grund dafür, dass sie den Obersten Cas lautstark dazu degradierte, am heutigen Tage die Nachhut zu bilden und ihr bis auf Weiteres aus den Augen zu gehen, kannte Horem nicht und er nahm an, dass es vielleicht auch gar keinen bestimmten Auslöser gab. Haz-Gor nahm die völlig unbegründete Zurechtweisung über sein Erscheinungsbild schon fast ergeben hin und versuchte gar nicht erst, zu erklären, dass er die Schrammen in seinem Gesicht nun einmal nicht wegzaubern könne und Karuu, dem seine Sichel aus der Hand glitt, so dass sie mit einem lauten Scheppern auf dem Boden landete, entging nur knapp seinem Rauswurf aus der Gruppe, in die er laut Lennys bei solcher Tölpelhaftigkeit gar nicht erst hätte aufgenommen werden dürfen.

Kurzum - jeder beneidete Horem darum, den Großteil des Tages in sicherer Entfernung verbringen zu dürfen.

Jetzt nahte aber wieder der Moment, in dem er seiner Herrin in die Augen sehen musste.

Zwei Wege. Zwei Möglichkeiten. Ihm war jetzt schon klar, dass er für seine Zweifel ebenfalls eine Standpauke zu erwarten hatte. Ihre Richtung stand ja eigentlich fest. Aber in Anbetracht von Lennys' Laune war es durchaus möglich, dass sie sich spontan umentschied und wenn er dann bereits den ursprünglich beabsichtigten Weg einschlug, ohne auf sie zu warten, konnte er genauso gut gleich als Entehrter ins Sichelland zurückkehren.

Während er also an der Kreuzung ausharrte, betete er innerlich zu Ash-Zaharr, der große Dämon möge doch bitte heute niemanden des Weges schicken, der in der Shaj das Verlangen nach mehreren Kelchen Blut weckte. Denn das gestrige Übermaß, da war sich Horem sicher, war der Hauptgrund dafür, dass sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie ein Vulkan explodierte. Sehr wahrscheinlich hatte sie Kopfschmerzen, möglicherweise war ihr auch übel und besonders gut geschlafen hatte sie überdies sicher auch nicht. Zu viel Blut hatte dieselbe Wirkung wie zu viel Alkohol, nur, dass man längst nicht soviel davon trinken musste.

Dann tauchte der erste Cas hinter einer Biegung auf. Es war Sham-Yu, der sich ebenfalls ein wenig von den anderen abgesetzt hatte.

„Bist du allein?“ fragte Horem und reckte den Hals, um nach dem Rest der Gruppe zu sehen.

„Die anderen kommen gleich.“ Dann senkte Sham die Stimme. „Also, wenn ich ehrlich sein soll... Sie ist heute unausstehlich. Und ich bin ja wirklich einiges von ihr gewohnt.“

„Sei vorsichtig. Sie hat Ohren wie ein Luchs.“

„Wird noch etwas dauern, bis sie da sind. Sie hat mich vorgeschickt um nachzusehen, ob du wartest oder ob du schon in Richtung Thau unterwegs bist.“

„Also bleibt es dabei? Wir reiten direkt zum Ben-Apu hinüber?“

„Sieht so aus. Wir sollen aber trotzdem noch nicht weiter, sondern an der Kreuzung bleiben.“

Horem stöhnte.

„Wäre ja auch zu schön gewesen. Bin ihr wohl bis jetzt zu gut weggekommen.“

Sham zuckte die Achseln.

„Na, sonst hat sie nichts gesagt. Außerdem hat sie ja 'nen anderen Sündenbock.“

„Was meinst du?“

„Rahor. Der kriegt's ständig ab. Mal reitet er zu dicht auf, dann ist der Abstand wieder zu groß, dann unterhält er sich zu laut mit uns oder sie hackt auf anderen Kleinigkeiten herum. Kann einem echt leid tun, der Arme.“

„Was hat er denn angestellt? Sie hat es doch sonst nicht so auf ihn abgesehen...“

„Da fragst du den falschen. Gestern haben sie sich ja noch richtig gut verstanden, ich war ganz überrascht.“

„Das war's wohl.“ spekulierte Horem. „Mensch, der müsste doch wissen, dass er sich nicht so an sie 'ranmachen darf. Sowas rächt sich immer sofort.“

„Er hat sich doch nicht an sie 'rangemacht!“ verteidigte Sham-Yu seinen besten Freund. „Sie haben sich nur unterhalten. Mensch, Horem, die kennen sich seit Jahren, Rahor weiß schon, wie weit er bei ihr gehen darf. Na, hoffentlich beruhigt sie sich bald wieder. Wenn sie nicht grade Rahor 'runtermacht, gibt sie sowieso keinen Ton von sich. Ich überlege schon die ganze Zeit, ob ich ihr Blaubuschblätter anbieten soll, die sollen ja gegen Kopfschmerzen helfen. Hab noch ein paar übrig.“

„Mach das lieber nicht. Sonst wirst du sie auch nie mehr brauchen, weil sie dir dann deinen Kopf gleich ganz abreißt.“

Sham-Yu grinste.

„Auch wieder wahr. Warum hat sie gestern auch so übertrieben? Muss ja ein ganz besonderer Leckerbissen gewesen sein, dieser Typ, den sie aufgeschlitzt hat. Sie hat ja immer Spaß an sowas, aber der gestern... meine Güte, ich dachte schon, es wäre Iandal oder so. Nee, war's natürlich nicht, aber so, wie sie losgelegt hat, glaub ich nicht, dass man das noch überbieten kann.“

„Keine Ahnung, wer das war. Wohl ein 'alter Bekannter', wenn man so will. Vielleicht war er damals bei Saton dabei. Ich geb' dir nur den Rat, sie nicht danach zu fragen.“

„Bin ich lebensmüde?“ prustete Sham. „Weißt du, eigentlich mag ich es ja, wenn sie so flucht. Solange ich nicht der Leidtragende bin. Ist mir lieber, als so ein Langweiler wie Talmir. Aber so wie jetzt - Na, das ist dann doch zuviel des Guten.“

„Kannst du laut sagen. Oder besser nicht. Gibt’s denn nichts, was ihre Stimmung ein bisschen hebt?“

„Ne Horde Hantua vielleicht. Aber nein, dann haben wir morgen wieder das gleiche Problem. Ich fürchte, das müssen wir durch. Ist ja nicht das erste Mal.“

„Und sicher auch nicht das letzte. Wenn ich dran denke, was wir noch vor uns haben... Wenn sie sich jedes Mal so auf das Blut stürzt und danach so 'ne Laune hat, soll sie mir lieber gleich den Kopf abhacken. Dann hab ich's hinter mir.“

„Nimm's mit Humor, Horem. Schlimmer kann's ja kaum noch werden.“

Als Lennys und die bei ihr verbliebenen Cas die Kreuzung erreichten, erwarteten Sham-Yu und Horem, dass sie die Anweisung, weiter nach Thau zu reiten, noch einmal wiederholen würde. Stattdessen aber fuhr die Shaj sie ohne Vorwarnung an:

„Was steht ihr da rum? Wollt ihr einen Mittagsschlaf abhalten? Hast du etwa die Orientierung verloren, Horem? Worauf wartet ihr?“

„Auf dich....“ sagte Sham leise und hätte sich im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. „Ich meine... du sagtest doch wir sollen hier...“

„Auf mich?“ fauchte sie zornig und ihre Augen funkelten. „Sind wir euch zu langsam? Passt euch unser Tempo nicht? Na schön, wenn du gern schneller sein willst, versuch es doch!“

Und noch bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, schlug sie ihrem Hengst die Fersen in die Flanken und stob in Richtung Südwesten davon. Keines der anderen Pferde, das wussten sie, würde mit ihr mithalten können. Ausgerechnet der recht mitgenommen wirkende Rahor, der noch immer den Abschluss bildete, fand als Erster die Sprache wieder.

„Ist sie jetzt völlig durchgedreht?“ Ohne auf die anderen zu achten, setzte er seiner Herrin nach und den restlichen Kriegern blieb nichts anderes übrig, als jetzt auch ihre Pferde anzutreiben und die Verfolgung aufzunehmen.

Der Wald wurde schnell merklich lichter. Die hohen Nadelbäume, Buchen und Eichen wichen zunehmend den Haselsträuchern und jungen Birken, die sich weiter östlich nicht behaupten konnten.

Die Hufe des schwarzen Hengstes schlugen wie Donnerhall auf dem Erdboden auf, ebenso mächtig und schnell wie die Schläge, die sie in ihren Schläfen spürte. Trotzdem drosselte sie das Tempo nicht. Nur ein wenig noch, bis sie genug Abstand hatte, der ihr eine kurze Zeit der Ruhe brachte.

Es tat dem Tier gut, zu laufen. Dieses Pferd war wie reines Feuer - einmal entfacht, war es nicht zu bändigen. Im Augenblick war der Hengst das einzige Lebewesen, dessen Nähe sie ertrug. Sie ließ ihn über einen umgestürzten Baumstamm springen, obwohl sie auch daran hätte vorbeireiten können, nur um noch mehr von der Kraft zu spüren, die von ihm ausging. Noch einmal über einen dornigen Strauch. Es machte ihm Spaß und er beschleunigte seinen Galopp weiter, nicht ahnend, dass das Hämmern im Kopf seiner Reiterin dadurch noch verstärkt wurde. Vielleicht wäre es ihm auch gleichgültig gewesen.

Erst als das Gelände wieder anstieg und kaum noch Bäume Schatten spendeten, wurde er langsamer. Lennys lenkte ihn zu einem schmalen Bachlauf und stieg dort ab. Unter dem dichten Blätterdach einer letzten verbliebenen Kastanie ließ sie sich in das fast verdorrte Gras sinken und sah dem Mondhengst zu, wie er seinen Durst löschte. Es war ein schönes Bild. Trotz der Sonne.

Lennys hasste das Licht. Und an Tagen wie diesen hasste sie es ganz besonders. Sie fühlte sich noch schlechter als an dem Morgen nach Balmans Fest. Zumindest körperlich. An den Rest wollte sie sich lieber nicht erinnern.

Sie wusste, was die Cas hinter ihrem Rücken tuschelten. Dass sie es übertrieben hatte mit dem Blut am Abend zuvor. Lächerlich. Sie war eine Batí, das was sie getan hatte, war ihre Bestimmung. Sie hätte gar nicht anders gekonnt, der Durst und das Verlangen waren ebenso wenig zu bändigen gewesen wie der Galopp des Mondhengstes - nahezu unstillbar.

Selbst wenn sie darüber nachgedacht hätte, ob sie am nächsten Tag die Folgen zu spüren bekam, hätte sie es nicht verhindern können. Und auch gar nicht verhindern wollen. Der einzige Fehler war gewesen, dass sie Rahor nicht weggeschickt hatte, als er zu ihr auf den Steg gekommen war.

Und das war es auch, was sie ihm nicht verzeihen konnte. Er hätte wegbleiben sollen. Oder zumindest sofort wieder gehen, in dem Moment, da er gemerkt hatte, dass sie einen gewissen Teil ihrer Kontrolle geopfert hatte, zugunsten des Blutdurstes, der wiederum sie kontrollierte. Aber er war geblieben. Hatte mit ihr gesprochen. Und dadurch das eine oder andere Wort vernommen, das nie für ihn bestimmt gewesen war.

Nur ein einziges Mal hatte sie Einspruch erhoben, aber da war es schon zu spät gewesen.

Natürlich musste sie nicht befürchten, dass er die Erinnerung an diese Begebenheit mit jemandem teilte. Das würde er nicht tun, dafür war er zu klug und zu zuverlässig. Dass er allein sie kannte, war schon schlimm genug. Sie wollte ihn nicht sehen. Zumindest im Moment nicht. Sie wollte niemanden sehen. Niemanden hören.

Der Hengst schnaubte leise.

'Dich meine ich nicht.' dachte sie.

„Ein wundervolles Tier.“ Die Stimme eines alten Mannes riss sie aus den Gedanken. Er stand hinter ihr, war also denselben Weg entlanggekommen wie sie selbst. Hatte sie ihn überholt? Nein, das hätte sie gesehen.

„Wer sonst als die Herrscherin des Nordens könnte ihn reiten?“ fragte der Alte. Und er fiel tatsächlich auf die Knie und verneigte sich tief.

Lennys kam gar nicht erst auf die Idee, nach ihrer Sichel zu greifen. Wer sich so gekonnt anschlich und sie derartig anredete, konnte kein Feind sein.

Er stand jetzt mit dem Rücken zur Sonne, so dass sein Gesicht unter der hochgezogenen Kapuze im Schatten verborgen blieb. Sein Umhang war schmutzig und zerschlissen, der graue Stoff stumpf und ausgeblichen. Und der Stock, auf den sich der Mann beim Gehen stützte, war nichts weiter als ein splittriger Ast, weder zurechtgeschnitzt, noch poliert.

Er warf einen neuen bewundernden Blick in Richtung des Pferdes.

„Eine wirkliche Schönheit. Wie seine Herrin. Meine Erinnerung hat mir keinen Streich gespielt.“

Plötzlich wusste Lennys, wer vor ihr stand. Sie sprang auf.

„Bist du wahnsinnig, hierher zu kommen? Ich habe dir ausdrücklich...“

„Ich weiß, meine Herrin, ich weiß.“ Der Alte ließ sich nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen. „Aber leider musste ich mich diesem Befehl widersetzen. Nicht, weil ich nur so mein Leben retten konnte – nein. Das ist ohnehin nichts wert. Sondern, weil ich euch sonst nicht hätte berichten können. Es ist für einen einzelnen cycalanischen Boten momentan sehr schwer, unerkannt durch das Mittelland zu reisen, müsst ihr wissen. Aber mich kennt man seit vielen Jahren und niemand würde auf die Idee kommen, ich könne etwas anderes sein, als ein alter verschrobener Mittelländer, der seine Zeit am liebsten inmitten noch älterer Bücher verbringt.“

„Wie hast du mich gefunden?“

„Um ehrlich zu sein, Herrin, habt ihr mich gefunden. Ich bin schon längere Zeit unterwegs, war in Goriol und in Elmenfall. Aber niemand konnte etwas berichten, was mir weitergeholfen konnte. Also habe ich beschlossen nach Thau weiterzuziehen. Es war nicht schwer zu erraten, dass ihr und die Cas bald in unsere Gegend kommen würdet. Und dann hörte ich plötzlich das Hufeschlagen eures Hengstes. Da wusste ich noch nicht, dass ihr es seid, also habe ich mich hinter einem Baum versteckt. Als ich erkannte, wer da vorüberritt, habe ich mich gleich wieder auf den Weg gemacht und gehofft, euch bald einzuholen, wenn ihr rastet. Das Glück scheint auf meiner Seite zu sein, denn wie ihr seht, ist es mir sehr schnell gelungen.“ Er sah sich suchend um. „Aber …ihr seid doch nicht allein gekommen, oder?“

„Die Cas sind ganz in der Nähe.“ erwiderte Lennys, ohne eine Spur von Freundlichkeit.

„Ah, ich verstehe.“ Der Alte lächelte. „Soll ich mit meinem Bericht warten, bis sie ebenfalls zuhören können? Oder wünscht ihr, gleich zu erfahren, was mich zu meinem Aufbruch bewegt hat?“

„Ich hoffe für dich, dass es wirklich gewichtige Gründe sind. Meine Befehle für dich waren eindeutig.“

„Und ich hätte sie auch weiterhin befolgt, so wie all die Jahre, wenn ich es gekonnt hätte. Leider ergab es sich aber, dass ich...“

Erneut ertönte Hufgetrappel und gleich darauf brach ein weiteres Mondpferd zwischen den Sträuchern hervor. Rahor wäre fast an ihnen vorbeigeritten, erspähte aber dann Lennys' Hengst aus einem Augenwinkel und riss seinerseits an den Zügeln. Als er den alten Mann bemerkte, zog er sofort seine Sichel und sprang zu Boden.

„Mach dich nicht noch lächerlicher. Glaubst du, ich könnte mich nicht selbst gegen ihn wehren?“

Rahors Wangen färbten sich rot.

„Musste das sein?“ fragte er verärgert.

„Es ist sicher besser, wenn du jetzt nichts mehr sagst.“ Lennys sah ihn bei diesen Worten nicht an, sondern wandte sich wieder dem Alten zu.

„Das ist Rahor, Oberster Cas des Sichellandes und mein ständiger Verfolger.“ stellte sie bissig und ohne besondere Wertschätzung vor.

„Es ist mir eine Ehre.“ Wieder verneigte sich der Alte tief, diesmal in Rahors Richtung.

„Genug der Unterbrechung. Sag mir, was du zu sagen hast.“

„Gestattet ihr mir zunächst, mich zu setzen, Herrin? Der weite Marsch hat mich doch sehr angestrengt...“

Lennys nickte, dann reichte sie ihm ihre Wasserflasche.

„Zu gütig, Herrin.“ Gierig nahm der Alte einige Schlucke, dann besann er sich aber, gab die Flasche zurück und räusperte sich.

„Darf ich.. fragen, ob der Herr Oras euch erreicht hat?“ fragte er dann etwas schüchterner.

„Das hat er.“

Der Mann wirkte erleichtert.

„Nun, es geschah drei Tage, nachdem ich den Boten Eskjat, der sich in den vergangenen Wochen übrigens als sehr nützlich und zuverlässig erwiesen hat, zu dem Herrn Oras ausgesandt hatte. Eskjat kam zurück und teilte mir mit, dass sich der hohe Herr selbst auf den Weg nach Cycalas machen wolle, weil es keinen Boten mehr gäbe, der sich über die Grenzen wage. Ich habe dies mit großer Besorgnis vernommen, wusste ich doch nicht, wie ich von nun an weitere Nachrichten an euch übermitteln sollte. Aber dann geschah etwas viel Einschneidenderes. Ein Besucher kam zu uns in den Nebeltempel.“

„In den Nebeltempel?“ fiel Rahor ein. Obwohl Lennys ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte, konnte er seine Frage nicht zurückhalten. „Aber... dann bist du... Gromuit? Der Säbelwächter aus Askaryan?“

Der Alte verzog sein Gesicht.

„Ich habe den Namen lange nicht gehört. Es ist, als sprächet ihr von einem Fremden. Heute nennt man mich Baramon.“

„Rahor, halt den Mund und lass ihn reden.“ wies Lennys den Cas erneut zurecht.

Baramon fuhr fort.

„Nun, dieser Besucher... Ich erfuhr zufällig von ihm, als die Oberin Beema mit einer Novizin darüber sprach. Sie sagte, es wäre ein sehr hoher Gast, der in der Sache des gestohlenen Amuletts ermitteln wolle. Ich dachte zuerst an Algar, Logs Kundschafter, aber...“

„Algar ist tot.“ sagte Lennys knapp. Baramon nickte nur.

„Also verbarg ich mich in der Eingangshalle, um zu beobachten, wer denn da käme. Herrin, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Sehr schlechte.“

Lennys schloss einen Moment lang die Augen.

„Iandal.“ sagte sie nur.

„Oh... ihr wisst von ihm?“

„Natürlich. Iandal war also bei Beema. Ist er immer noch dort?“

„Ich weiß es nicht sicher, Herrin, aber ich glaube eher nicht.“

„Was wollte er?“

„Auch das kann ich nur vermuten, Herrin. Als ich ihn sah, wusste ich, dass ich verschwinden muss. Er... er hätte mich erkennen können. Ich bin ihm damals mehrmals begegnet. Und ich wusste ja nicht sicher, wie lange er bleiben will. Aber ich habe gehört, wie er sich bei seiner Ankunft schon bei den Novizinnen nach Sara erkundigte. Seltsam, nicht wahr? Dieses Interesse... Ich habe auch keine Erklärung, woher er von ihr weiß.“

„Ich schon, aber das tut nichts zur Sache. Weiter. Was noch?“

„Wie gesagt, ich hielt es für das Beste, den Nebeltempel zu verlassen und euch so schnell wie möglich zu informieren. Anderenfalls wäre meine Tarnung wohl durchschaut worden. Ich hinterließ eine Nachricht, dass mein Bruder im Sterben läge und ich deshalb für längere Zeit nach Elmenfall reisen müsse. Ob Beema mir dies glaubte, weiß ich nicht. Ich hoffe es.“

„Ich kann mich daran erinnern, dass du es schon einmal sehr gut verstanden hast, dich zu verbergen, als ein Sichelländer im Tempel wohnte.“ wandte Lennys sarkastisch ein.

„Oh... Herrin, möget ihr mir dies verzeihen. Aber... wie hätte ich euch gegenüber treten sollen, ohne euch die rechte Ehre erweisen zu dürfen? Und... ich hatte auch Angst, ihr könntet mich wegen meiner Feigheit...“

„Im Mittelland zu bleiben, war nicht feige. Du warst nicht der Einzige.“

„Inzwischen, Herrin, weiß ich das. Aber zu diesem Zeitpunkt...“

„Lassen wir das. Das beantwortet meine Frage nicht. Du hättest in deinen Katakomben bleiben können.“

„Herrin, Iandal erkundigte sich nach Sara. Und Sara hielt sich oft in der Bibliothek auf. Er hätte mich sicher auch zu ihr befragen wollen, wenn ich dort geblieben wäre.“

Lennys wirkte nachdenklich

„Möglich. Hast du sonst noch etwas zu berichten?“

„Vielleicht nur Gerede. Aber es heißt, dass die Stadt Thau in letzter Zeit viel Gold einnimmt. Anscheinend betreiben sie regen Handel mit Hantuas, die von Norden her kommen. Möglicherweise aus dem Verlassenen Land.“

„Ja, ich habe schon einmal davon gehört. Wieso gehen die Hantua nicht nach Gahl?“

„Gahl ist selbst zu arm an Lebensmitteln. Die Gegend um Thau ist fruchtbarer. Außerdem wagt sich kaum noch jemand nach Gahl, seit die Sichelheere über den Westbogen kommen.“

„Ja, natürlich. Sonst noch etwas?“

„Nun ja....“ Er warf Rahor einen unsicheren Blick zu.

„Etwas, was nur für meine Ohren bestimmt ist?“ fragte Lennys ahnungsvoll.

„Das... solltet ihr selbst entscheiden, Herrin.“

„Rahor, sieh nach, wo die anderen bleiben.“ Auch jetzt sah sie den Cas dabei nicht an, sondern wartete, bis sie sein Pferd davontraben hörte.

„Also?“

„Mein alter Freund Menrir hat es geschafft, mir noch eine Botschaft aus dem Norden zu senden. Er hat sie einem der Kämpfer mitgegeben, die mit den ersten Sichelgruppen durch den Westbogen zogen. Gestern hat sie Eskjat in Gahl erreicht und es ist keine Stunde her, dass er sie mir überbrachte.“

„Und?“

„Ich... ich habe Menrir vor einiger Zeit gebeten... Nun ja, also ihr müsst wissen, dass ich Sara sehr mochte. Es tat mir leid, dass sie fortging, und ...“

„Deshalb hast du ihr auch dieses Tagebuch geradezu unter die Nase gehalten.“

„Verzeiht, Herrin, wenn euch das verstimmt hat.“

„Es war eine riesige Dummheit. Aber das wolltest du mir jetzt wohl nicht sagen, oder?“

„Äh.. nein. Also, ich habe mir natürlich Sorgen um Sara gemacht. Sie kannte ja nichts außer dem Tempel und ich war mir nicht sicher, wie gut sie draußen zurechtkommt. Also habe ich Menrir gebeten, mich auf dem Laufenden zu halten.“

„Warum erzählst du mir das alles?“ Lennys sah den alten Baramon scharf an.

„Nun, Menrir schreibt hier, dass... dass er nicht weiß, wo Sara jetzt ist. Er hat sie getroffen, kurz nachdem ihr mit den hohen Cas ausgezogen seid, aber dann ist sie wohl ihre eigenen Wege gegangen. Seitdem ist sie verschwunden.“

„Ich verstehe.“ Mehr sagte Lennys nicht dazu. Nur hatte Baramon jetzt den Eindruck, dass sie noch kälter und abweisender wurde, als ohnehin schon. Er war klug genug, es dabei zu belassen und nicht weiter auf das Thema einzugehen.

Aus der Ferne hörten sie eine Reitergruppe nahen. Die Cas hatten sie also eingeholt.

„Ich will, dass du in den Tempel zurückkehrst.“ befahl Lennys, während sie dem Mondhengst ein Zeichen gab, woraufhin er gehorsam auf sie zutrottete. „Finde heraus, ob Iandal noch dort ist und wenn nicht, wirst du so tun, als ob du von deinem Krankenbesuch zurück seist. Und dann wirst du herausfinden, was Iandal wollte. Mit wem er gesprochen hat und was er dabei erfahren hat. Ich will alles wissen, verstanden?“

„Sehr wohl, Herrin. Und... und wenn jemand misstrauisch wird?“

„Dann lässt du dir etwas einfallen.“

„Möchtet ihr denn gar nicht wissen, wo Iandal als nächstes hingegangen ist?“

Lennys schnaubte verächtlich.

„So dumm ist nicht mal er, dass er das überall herumposaunen würde. Aber natürlich wirst du mich informieren, wenn du doch etwas hören solltest.“

„Natürlich.“

„Und noch etwas! Du wirst mit niemandem – hörst du – niemandem! - über diese Sache sprechen. Weder über Menrirs Nachricht, noch über das, was du jetzt für einen Auftrag hast. Keine Ausnahmen!“

„Wie ihr wünscht. Und wenn ich anderweitig etwas von Menrir oder über Sara....“

„Dann wirst du mich auf dem Laufenden halten! Ohne Verzögerung! Wie gut ist dein Kontakt zu Eskjat zur Zeit?“

„Er sucht mich so oft wie möglich auf. Er will auch kein Gold mehr für seine Dienste, er sagt, es sei ihm eine Ehre, weil sein Leben nun endlich einen Sinn hätte. Er meint, er käme schon irgendwie zurecht. Im Augenblick ist er auf dem Rückweg nach Gahl, um dort Neuigkeiten aus Cycalas zu erfahren.“

Lennys holte einen Beutel aus einer ihrer Umhangtaschen und warf ihn Baramon zu.

„Gib ihm das. Er soll es annehmen, ich will nicht, dass einer unserer letzten verbliebenen Boten am Ende wegen Diebstahls im Kerker landet, nur weil er Hunger hat.“

„Wo ist er denn?“ fragte Sham-Yu ein wenig enttäuscht, als er und seine Kampfesgefährten den Bach erreichten, an dem Lennys wartete. „Rahor, wo ist dieser Baramon?“

„Er war eben noch hier....“

„So....“ Lennys Unterton war beängstigend. „Du hast also nichts Besseres zu tun, als überall breitzutreten, mit wem ich mich unterhalte?“

Rahor wurde erst blass, dann errötete er.

„Bist du immer so verschwiegen, wenn es darauf ankommt?“

„Nein... also... ich wollte nur....“

„Du wirst mir den Rest des Tages aus den Augen gehen und den Mund halten! Und die Zeit dazu nutzen, darüber nachzudenken, was ich von meinen Cas erwarte! Besonders von ihrem Anführer!!!“

Mit jedem Wort wurde sie noch ein wenig lauter und zorniger und unwillkürlich zogen alle die Köpfe ein. „Und dann, Rahor, wirst du weiter nachdenken und zwar darüber, ob ich noch Gründe habe, dich überhaupt in diesem Rang zu belassen!“ Jetzt brüllte sie ihn an. „Und wenn du zu einem Ergebnis gekommen bist, wirst du mir beweisen, hörst du, beweisen!, ob du recht hast! Und bis es soweit ist, wirst du als Letzter reiten und dich von mir fernhalten, hast du verstanden!“

„Wenn das dein Wunsch ist...“ sagte Rahor niedergeschlagen und wurde sofort wieder Opfer eines neuerlichen Ausbruches.

„Das ist es! Und du wirst dir wünschen, nie von den Cas gehört zu haben, wenn du es nicht schaffst, mich in naher Zukunft zu überzeugen! Im Augenblick bist du nichts anderes als ein neugieriger Schwätzer, der es noch nicht einmal verdient, eine Sichel zu tragen!“

Rahors Augen blitzten.

„Das meinst du nicht im Ernst! Ich bin würdig!“ verteidigte er sich tief getroffen.

„Nein, das bist du nicht! Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen! Verschwinde!“

Alle Cas waren wie erstarrt. Es waren harte Worte, die die Shaj da sprach. Die härtesten, die sie je zu einem von ihnen gesagt hatte. Keinem der Kämpfer fiel auch nur ein Beispiel dafür ein, dass jemals ein Cas, schon gar nicht der Oberste, seines Ranges enthoben worden wäre. Einige waren freiwillig von ihren Aufgaben zurückgetreten, so wie Wandan oder Akosh. Aber niemand war je so gedemütigt worden wie Rahor in diesem Moment.

„Was hast du ihr getan?“ murmelte Sham-Yu entsetzt, als Lennys kurz darauf außer Hörweite war und mit Haz-Gor, Horem und Garuel vorneweg ritt.

„Lass mich, Sham. Ich muss selbst erst darüber nachdenken.“

„Sie kann so nicht mit dir reden!“

„Doch. Das kann sie. Und nur sie.“

„Du musst...“

„Ich muss gar nichts. Lass mich jetzt allein.“

Rahor sprach den Rest des Tages kein Wort mehr. Während die anderen Cas, immer noch verstört und schockiert, versuchten, ihre wahre Stimmung zu überspielen und Lennys keinen Grund mehr zu geben, auch sie weiter anzufahren, blieb der hohe Krieger für sich und hielt weiten Abstand zu allen anderen.

Das letzte Wegstück nach Thau führte sie über eine leicht abfallende Ebene, die zu schnellem Galopp einlud. Die Mondpferde flogen geradezu über das verdorrte Gras hinweg, das gerade im Begriff war, sich den Vorboten des Frühlings entgegenzurecken. Da der Abend nahte und dieses Gelände den Hantua mehr lag als der dichte Wald, waren Horems Fähigkeiten erneut gefragt. Hinzu kam, dass das Verlassene Land, das frühere Fürstentum Orio, nicht weit war. Zwar entfernten sie sich seit den Singenden Sümpfen wieder davon, aber gerade hier, nahe der mittelländischen Dörfer, war die Wahrscheinlichkeit groß, den Kriegern Zrundirs zu begegnen, die sich dorthin aufmachten oder von dort losgezogen waren.

Umso erstaunlicher war es, dass sie zwar jede Menge frischer Spuren fanden, aber weit und breit kein Feind auszumachen war.

„Ich verstehe das nicht.“ murmelte Horem so ungeduldig, als wäre die wie ausgestorben wirkende Gegend sein eigenes Verschulden. „Sie müssen doch irgendwo sein. Dass sie die Sümpfe meiden – das verstehe ich ja. Und den Wald vielleicht auch. Liegt ihnen halt nicht. Aber sogar da waren ein paar. Und hier – nichts. Weit und breit nichts. Kann doch gar nicht sein, viele der Spuren sind keine zwei Tage alt!“

Lennys blickte in Richtung Süden, wo – noch ein ganzes Stück entfernt – die mit Lehmziegeln bedeckten Dächer des Dorfes Thau orange in der Abendsonne leuchteten.

Es schien fast als würden sie glühen... oder brennen.

Der Anblick erinnerte die Shaj an etwas.

„Leben noch Sichelländer in Thau?“ wollte sie wissen.

„Ich... ich weiß nicht. Eher nicht.“ antwortete Horem unsicher.

„Die Hantua verstecken sich noch. Wir müssen sie aus der Reserve locken. Nur so erfahren wir, wo sie sich aufhalten und wie viele es wirklich sind.“ Sie klang plötzlich wieder fast normal. Zwar bedrohlich und ungeduldig, aber nicht mehr so zornig.

Gerade diese Wandlung war es, die Horem alles andere als beruhigte. Ihre Augen glommen, als sich die leuchtenden Dächer darin spiegelten.

„Lennys, du willst doch nicht...?“

„Haz-Gor!“ rief sie knapp.

Der alte Cas löste sich von den anderen, die etwas entfernt ihre Pferde zu Atem kommen ließen.

„Hier bin ich.“

„Du reitest nach Westen, über die Thau-Brücke in die Mittelebenen. Von da aus wieder am Fluss entlang nach Norden, bis du den Wald erreichst, der ans Westufer des Flusses grenzt. Ich will wissen, ob dort schon berittene Sicheltruppen in Stellung sind.“

Haz-Gor nickte gehorsam, auch wenn er nicht begeistert wirkte, sich von der Gruppe trennen zu müssen.

„Wenn sie dort sind – was soll ich ihnen sagen?“

„Nichts. Du bringst sie hierher. Bis in die Senke kurz vor der Brücke. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr noch heute nacht dort sein. Wir werden dort ab Mitternacht auf euch warten.“

„Willst du... das Dorf angreifen?“ fragte Haz-Gor ahnungsvoll.

„Horem, du wirst versuchen, unerkannt nach Thau hineinzukommen. Ich will wissen, ob dort noch Cycala sind. Wenn ja, bring sie von dort weg. Danach kommst du sofort hierher zurück. Wenn dich jemand als Sichelländer erkennt, wirst du ihn töten.“

Horem atmete geräuschvoll durch.

„Ganz nach deinem Wunsch.“ Und schon stob er in Richtung Süden davon.

„Haz-Gor, worauf wartest du?“

„Lennys... Thau ist... kein Dorf der Krieger...“

„Ich werde dir nicht alle aufzählen, die durch die Hand von Bauern und Hirten gefallen sind, Haz-Gor. Gerade du solltest das wissen, als einer der wenigen, die nicht zum ersten Mal jenseits der Grenzen in einen Kampf ziehen.“

Pechschwarz war die Senke westlich der Thau-Brücke, jedoch nicht, weil sie im Schatten gelegen hätte. Der Mond erstrahlte direkt darüber, aber sein Licht wurde fast vollkommen verschluckt. Mehr als zweihundert cycalanische Krieger bedeckten sich mit ihren Umhängen und kauerten stumm und reglos nebeneinander. Ihre Pferde hatten sie weiter oben bei ein paar verbliebenen Wachen zurückgelassen.

Sie gehörten zu den ersten Kämpfern, die den Westbogen überwunden hatten und schneller als alle anderen waren sie in der Tat schon entlang des Westufers des Flusses bis in den Wald vor Thau gelangt, als Horem sie erreichte. Ihre Selbstbeherrschung hinderte sie an großen Jubelrufen, aber der Cas sah sofort, dass nicht nur sein Erscheinen, sondern auch seine Nachricht in ihnen Freude erweckte.

Sie sollten sich also in der Senke bereithalten. Vor Morgengrauen. Mehr mussten sie nicht wissen, um alles weitere zu erraten.

Und die Shaj hatte – wie es nicht anders zu erwarten war – Wort gehalten. Für viele Sichelkrieger war dies schon der Höhepunkt ihres Lebens als Gebieter der Nacht. Angeführt von der Shaj selbst würden sie im feindlichen Mittelland ihre Rache üben. Auch wenn es keine Hantua oder Schergen Iandals waren, auch nicht die Armee Logs. Wichtig war nur, für das Sichelland die Klinge zu erheben.

Während acht Cas den Befehl über das wartende Heer übernahmen und immer noch ohne klare Vorgaben der Shaj auf ein Kommando warteten, hatte Lennys die Senke wieder verlassen. Es genügte, sich kurz zu zeigen, so dass die Krieger um ihre Anwesenheit wussten. Noch war Zeit. Viel Zeit. Der Sonnenaufgang war noch weit entfernt. Sie waren wirklich schnell gewesen, die Sichelkrieger.

Sie musste nur noch auf eine letzte Antwort warten.

Als Horem endlich die Brücke passierte und auf die Senke zusteuerte, spürte Lennys in ihrem Nacken die Anspannung der Sichelländer hinter sich. Sie war greifbar.

Völlig außer Atem rutschte Horem direkt vor ihr von seiner Mondstute herab.

„Und?“

„Es... ist... keiner mehr da.“ keuchte er. „Die letzten Verwandten von Morell sind schon vor einigen Wochen fortgegangen. Es gibt keine Cycala mehr in Thau.“

Noch bevor seine letzte Silbe verklungen war, machte Lennys kehrte und baute sich vor den vordersten Reihen der schwarzen Masse auf. Direkt vor ihr saßen Karuu und Rahor, doch sie beachtete beide nicht, auch nicht, als sie, wie die anderen Cas, aufstanden und sich ebenfalls dem Heer zuwandten – ganz so, wie es den Erwählten gebührte.

„Die Stadt Thau wird in dieser Nacht fallen.“ rief sie mit klarer Stimme. „Lasst keinen am Leben.“

Und dann überzog eine schwarze Welle der Vernichtung jene friedliche Stadt, in der im vergangenen Sommer der Tod des Bauern Morell ein erstes Vorzeichen für diese Nacht gewesen war.

Sichelland

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