Читать книгу Sichelland - Christine Boy - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеDer Fels war glatt und kalt. Kein Sand, keine Kanten oder Spitzen, keine noch so kleine Unregelmäßigkeit. Eine makellose Fläche, die die Natur geschaffen hatte.
Lennys hatte sich auf der Steinplatte ausgestreckt, die etwa in Mannshöhe aus einer Felswand hinaus über das Plateau ragte. Der Ruheplatz war gerade groß genug für sie selbst und an einer Seite wucherte dichtes Dornengestrüpp aus einer Spalte hervor und schützte sie so, wenn auch nur spärlich, vor allzu neugierigen Blicken. Doch im Grunde war dieser Schutz nicht nötig. Die neun Cas wussten, wie sie sich zu verhalten hatten. Nur selten sahen sie zu ihrer Herrscherin herüber und dies auch nur flüchtig, als fürchteten sie, dabei ertappt zu werden. Aber sie waren auch pflichtbewusst genug, sich ihrer wichtigsten Aufgabe zu besinnen, nämlich dem Schutz der Shaj. Wäre diese plötzlich verschwunden, vielleicht nur zu einem kleinen Erkundungsgang rund um das bescheidene Lager, so wären die hohen Krieger unruhig geworden. Und schon zu oft hatte Lennys ihnen Anlass dazu gegeben, zu oft schon war sie ihre eigenen Wege gegangen, voll und ganz der Überzeugung, die Kräfte der Cas nicht zu benötigen. Und vermutlich war es die Tatsache, dass diese recht riskanten Alleingänge so gut wie nie in einem Kampf auf Leben und Tod endeten, die sie – zumindest in Rahors Augen – gerade in letzter Zeit immer unvorsichtiger werden ließ. Die Shaj der Nacht war überzeugt von sich und ihrem Instinkt, von ihrer Kampfkraft, ihrer Schnelligkeit und ihrer Intelligenz. Zu überzeugt, hätte man meinen können. Das Wort „Glück“ verabscheute sie. Für Lennys gab es weder Glück noch Pech. Alle Fügungen ihres Lebens schrieb sie allein den Menschen zu. Für gewöhnlich war sie der Ansicht, dass Erfolge und Siege auf ihre Leistungen zurückzuführen waren, während alles Negative aus den Fehlern anderer erwuchs. Jeden Tag ereigneten sich Dinge, die sie in diesem Denken bestärkten und niemand hätte es gewagt, ihr dahingehend zu widersprechen.
'Überhaupt...', dachte Rahor während er mit einem Ast in der Glut des heruntergebrannten Lagerfeuers stocherte, '….überhaupt widerspricht ihr nie jemand.' Rahor war klug genug, seine Meinung für sich zu behalten. Er gestattete sich auch nur selten, darüber nachzudenken – so wie jetzt. Tatsache war, dass er Lennys mochte. Sie war seine Herrscherin, die höchste Kriegerin und mit Sicherheit die beste Sichelkämpferin im Lande. Und sie war schön. Nicht reizend und bezaubernd wie seine eigene Schwester Racyl oder wie Sara. Ihre Schönheit war eine andere und sie konnte einem durchaus Angst machen. Rahor kannte niemanden, der sich gegen ihre Anziehungskraft hätte zur Wehr setzen können, wenn sie es darauf anlegte, was sie allerdings nur selten tat. Aber, und auch das musste sich der Oberste Cas eingestehen, man konnte Lennys auch sehr viel nüchterner betrachten. In den Augen vieler Fremdländer erschien sie wohl arrogant, selbstherrlich und doch allzu sehr von sich und ihren Fähigkeiten überzeugt. Ganz von der Hand zu weisen waren diese Vorwürfe nicht, im Gegenteil. Wie oft hatte er selbst schon zumindest innerlich den Kopf über ihr Verhalten geschüttelt, gerade zu Anfang, als er neu in Vas-Zarac und noch kein hoher Cas gewesen war. Im Laufe der Jahre jedoch hatte er sich an vieles gewöhnt und sein Unverständnis hatte sich mehr und mehr in Zustimmung verwandelt, wenn auch nicht vollkommen und in jeder Lage. Nichtsdestotrotz war ein Band zwischen ihnen entstanden. Eines, das aus seiner Sicht wohl um ein Vielfaches stärker war als aus ihrer. Und er wusste, dass es auch den anderen Cas so ging, selbst Sham-Yu, der zuletzt ernannt worden war. Sie alle waren bereit, ihr Leben für diese Eine zu geben, die gerade auf der Felsplatte ruhte und der wohl völlig andere Gedanken durch den Kopf gingen als der an ihre Cas.
Wahrscheinlich dachte sie an den Krieg, an die Schlachten und an sterbende Hantua. Und an den Verräter Iandal und den Dummkopf Log.
Für Rahor war diese Wirklichkeit nicht greifbar. Wohl hatte er die großen cycalanischen Heere gesehen, die sich in Richtung Süden aufgemacht hatten. Und natürlich hatte er das tödliche Feuer in Lennys' Augen erkannt, das mehr als tausend Worte das verhieß, was die Feinde erwartete. Aber er hatte auch die Botschaften aus dem Mittelland gehört, wonach dort noch kein Blut auf offener Straße vergossen wurde. Dies mochte sich inzwischen geändert haben. Oder es würde sich sehr bald ändern. Schon bald überzogen Sichelkrieger und Säbelwächter die Länder südlich Valahirs und sie würden keine Gnade kennen. Am ehesten, so fand Rahor, konnte man seine Lage mit einem Traum vergleichen. Er wartete nur darauf, dass ihn jemand wachrüttelte und er sich wieder wie ein Krieger fühlte, der inmitten eines alles vernichtenden Feldzuges stand.
'Ash-Zaharr, großer Dämon und Herr über die Sichel,' dachte er nun voller Inbrunst. 'In uns allen fließt das Blut der Kämpfer. Gebe dem meinem wieder die Kraft, durch die Adern zu strömen und nicht zu stocken. Auf dass ich das deinige beschützen kann. Selbst wenn du es verabscheust, so willst du es doch nicht verlieren.'
Glatt und makellos.
Hart.
Kalt.
Ein Bild schoss ihr durch den Kopf. Ein Bild von einem ebenso glatten, ebenso makellosen und ebenso harten Steinboden. Und ebenso kalt. Obwohl diese Erinnerung erst einige Monate alt war, so schien sie ihr doch verschwommen und undeutlich. Es war wie bei einem Schwerkranken, der den eigentlichen Beginn seiner Leiden schon fast vergessen hat.
Aber sie war nicht krank. Damals, auf diesem Steinboden hatte sie gefühlt, dass sich etwas in ihr veränderte. Irgendetwas war in ihr erwacht, es zeigte sich in Träumen und Visionen, über die sie zunehmend die Kontrolle verloren hatte. Dieser Steinboden hatte zu Akoshs Haus gehört. Zu seinem Keller, in dem sie die verborgen lebenden Cycala aufgerufen hatte, sich für den Kampf bereit zu machen. Den Sichelkriegern hatte sie befohlen, sich ihrer Kelche zu besinnen und den Durst, den sie so lange unterdrückt hatten, wieder zu stillen.
Doch die Träume hatten sie weiter begleitet. Bis zurück nach Semon-Sey, sogar bis in ihre Gemächer in Vas-Zarac. Das Reinigende Wasser hatte ihr geholfen und sie hatte inzwischen gelernt damit umzugehen. Nur manchmal, wenn ihr sonst so starker Wille einen Riss zu bekommen drohte, da waren sie noch da. Niemand wusste davon.
Nicht einmal Rahor hatte es bemerkt. Es war noch nicht lange her, nur wenige Stunden. Oder war es noch kürzer? Wie lange lag sie schon hier? Die Sonne war untergegangen, doch der Mond verbarg sich hinter dichten Wolken. Dort drüben war sie am Abgrund gestanden, nur einige Schritte von dieser Felsplatte entfernt. Sie hatte hinuntergestarrt und statt des Abstiegs zu den Sümpfen hatte sich nur endlose Schwärze unter ihr ausgebreitet. Und gleichzeitig war der Schmerz in ihr angewachsen. Glühende Klauen, die ihren Leib zerfetzen wollten. Nein, das war kein Traum gewesen, aber vielleicht auch keine Wirklichkeit, denn obgleich ihr Verstand zu versagen drohte, so war sie sich doch dessen bewusst gewesen, dass sie eigentlich immer noch da stand, ganz ruhig, ohne sich zu krümmen, ohne sich unter diesen Qualen zu winden. Aber sie sah sich auch gefangen in einem undurchdringlichen Nebel, der sie zum Niederknien zwang und der sie hätte schreien lassen, wenn sie denn dazu noch die Kraft gehabt hätte.
Und dann war alles vorbei gewesen. Der steinige Weg formte sich aus dem Dunkel und um sie herum fiel der Nebel ab. Sie war zu der Platte hinübergegangen, auf der sie jetzt lag, aber es hatte sie sehr viel mehr Anstrengung gekostet, als sie glaubte, noch aufbieten zu können. Niemand hatte es gesehen. Sie hatte den Cas nur noch zugerufen, dass sie mit dem Abmarsch noch ein paar Stunden warten würden.
Dann hatte sie sich hingelegt. Zum ersten Mal seit vielen Tagen hatte sie das Bedürfnis, einfach nur zu schlafen. Aber ihre Gedanken kreisten unaufhörlich, wurden immer wirrer und unfassbarer. Bis sie kein Gefühl mehr für Zeit und Raum hatte.
Erst jetzt kehrte langsam eine schwache Klarheit zurück. Die Erinnerung an den Steinboden in Akoshs Haus war ein erster kläglicher Versuch, ihr Denken wieder selbst zu steuern.
Ein kalter Tropfen berührte sie auf der Stirn. Noch ein weiterer auf ihrer Wange. Regen. Hier im Mittelland war es milder als in Cycalas, auch wenn der Winter sich dem Frühling noch längst nicht geschlagen geben wollte.
Plötzlich sah sie, wie die Cas eilig ihre Habseligkeiten zusammensammelten und sich in den geschützten Höhleneingang zurückzogen.
Sie sah es, obwohl sie immer noch dalag und in den Himmel starrte, der ihr weder Sterne noch den Mond offenbarte. Sie sah, wie Haz-Gor zu ihr hinüberdeutete, wie er aber dann auf eine kurze Bemerkung von Rahor die Schultern zuckte und abwandte. Und sie sah Rahor, der diesmal etwas länger als zuvor in ihre Richtung starrte.
Immer mehr Tropfen prasselten auf sie hinab. Es störte sie nicht. Noch immer versuchte sie zu begreifen, warum sie all das sehen konnte, obwohl ihre Augen nur auf das schwarze Nichts hoch über ihr gerichtet waren.
„Du wirst immer Mein sein.“ hörte sie es in sich flüstern. Die Stimme, die schon so oft zu ihr gesprochen hatte, war wieder da und sie fühlte, wie sie mit eisiger Kälte erfüllt wurde.
„Du bist Mein. Ich kann dich sehen lassen, was ich will. Ich kann dich hören lassen, was ich will. Und du wirst das fühlen, was ich will.“
Kaum waren diese Worte verklungen, verschwand der Himmel über ihr und sie glaubte, aus ihrem Körper gerissen zu werden, der noch immer reglos auf dem Fels lag. Aber gleichzeitig fühlte sie sich, sehr viel wirklicher als in einem Traum, in einem neuerlichen Bild gefangen.
Ein Gewölbe, nur notdürftig von Fackeln erleuchtet. In der Mitte ein Blutaltar, dessen tiefe Kerben und Rinnen schon schwarz verfärbt waren. Unzweifelhaft hatten auf diesem Stein schon viele Opfer ihren Tod gefunden, aber sie hatten dabei nicht dieselbe Gewölbedecke über sich gesehen. Es war ein Altar, den man vor vielen Jahren von einer Zeremoniestätte hierher gebracht hatte. Sein ursprüngliches Zuhause war nun verwildert, man hatte es aufgegeben und stattdessen unweit davon einen neuen Tempel gebaut. Und diesem auch einen neuen Altar gestiftet. Doch an dem alten hingen zu viele Geschichten, zu viel Vergangenheit. Und nun wies er den Weg in die Zukunft.
Vierzehn Sichelländer in einfacher Ritualkleidung standen um ihn herum. Einer von ihnen trug mehrere seidene Laken mit sich und hielt sich dicht an dem Ältesten in der Runde, dessen Gewand nicht silbergrau wie die anderen, sondern tiefschwarz war. Jetzt nickte er seinem Nebenmann zu, der darauf hin die Laken neben dem Steinblock auf den Boden ablegte und dann durch eine niedrige Tür verschwand. Der Älteste blickte in die Runde.
Die Zwölf waren allesamt recht jung, manche von ihnen zählten gerade einmal sechzehn oder siebzehn Sommer. Die meisten starrten neugierig und zugleich auch erschrocken auf das eingetrocknete Blut. Sie wussten, was sie erwartete, oder vielmehr, sie glaubten, es zu wissen, doch kaum einer von ihnen war wirklich darauf vorbereitet. Der Älteste machte sich keine Illusionen, er erlebte es Jahr für Jahr aufs Neue. Nur wenige erhielten die richtige Vorbereitung auf dieses Erlebnis und noch weniger konnten diese dann auch so in sich aufnehmen, dass sie mit dem, was sie erwartete, auch würden umgehen können.
„Bevor wir in dieses Mysterium eindringen, welches zweifellos eines der geheimnisvollsten und düstersten ist, denen ihr je begegnen werdet, möchte ich euch noch etwas sagen. Fürwahr, großartige Lehrer begleiten euch auf eurem Weg des Himmels, sie lehren und sie bilden aus, sie sind euch Freund und Hilfesteller und zugleich auch eure Kritiker und Aufseher. Keinem von diesen Lehrern möchte ich etwas vorwerfen und doch hat jeder seine Vorzüge und seine Schwächen. Den Erkenntnissen, denen wir heute begegnen, stehen sie mit Ehrfurcht gegenüber und ich muss zugeben, dass selbst die Cycala Angst vor sich selbst empfinden können. Mit anderen Worten – es gibt unter euren Mentoren nur sehr wenige, die euch bereits auf den Weg geschickt haben, den ihr heute zu Ende bringen sollt. Ich fürchte, die meisten von euch werden einmal mit Schrecken an diese Nacht zurückdenken.“
„W... was meint ihr damit, hoher Ry? Dass unsere Lehrmeister nicht gut genug sind?“ fragte ein besonders junger Mann, der einen ganzen Kopf kleiner war als der Älteste.
„Oh nein, mein Lieber. Sieh, jeder eurer Lehrer hat euch in dem besonders geschult, was ihm selbst am meisten liegt. Beschwörungen und Zeremonien, Anrufungen und Gebete, Schriften und Überlieferungen. Doch das, was heute auf euch wartet, wird nur von sehr wenigen Priestern in diesem Lande so ausgelebt, wie ihr es lernen solltet. Es gehört zu unserem Reich und zu unserer Religion, ganz gleich was manche sagen. Ihr habt euch für den Weg des Himmels entschieden und ihr wisst, dass er nicht geradlinig ist. Es gibt Abzweigungen und eine davon werdet und müsst ihr heute beschreiten. Stellt euch einen Kreuzung aus elf Wegen vor. Sie ist das Ziel, aber um es zu erreichen, müsst ihr jeden Weg einmal gegangen sein. Erst dann kennt ihr die Kreuzung aus allen Sichtweisen. Und wir gehen heute den elften Weg. Den dunkelsten und schwersten. Und nur jene, die auf ihm geboren sind und ihn gelebt haben, sind in der Lage, ihn euch so zu zeigen, dass er euch nicht in Angst und Schrecken versetzt.“
„Also meint ihr... die Batí? Ihr meint, nur ein Batí-Priester könnte uns richtig auf diese Lektion vorbereiten?“ Auf die erneute Frage des Jünglings reagierten einige mit einem spöttischen Lächeln.
Ry, der Älteste, blieb aber ernst.
„So ist es. Unter den hohen Lehrmeistern gibt es nur einen, der sich darauf versteht. Ihr hattet die freie Wahl, euch für jeden Bereich eurer Ausbildung einem Lehrer anzuschließen, den ihr für geeignet hieltet. Und wie jedes Jahr war es auch diesmal wieder so, dass kaum jemand durch den hohen Mondor in die Mysterien der alten Rituale eingeführt werden wollte. Ist das nicht richtig?“
Gemurmel folgte.
„Er ist unheimlich.“ sagte eine kleine, zierliche Priesteranwärterin, die ganz hinten stand.
„Er ist der einzige, der euch bewusst mit eurer Angst konfrontiert.“ erwiderte Ry.
„Ich hatte keine Angst.“
Alle drehten sich um. Etwas abseits von den anderen stand eine hochgewachsene junge Frau mit pechschwarzen Haaren und den unverkennbaren schwarzen Augen der Batí. Auch sie trug das silbrig-graue Ritualgewand der Priesteranwärter, aber etwas, was man nicht benennen konnte, unterschied sie von den anderen.
Ry nickte unmerklich.
„Nein, das hattest du nicht. Ich habe lange mit Mondor gesprochen. Du warst die einzige in diesem Jahr, die sich seinen Lehren unterzogen hat. Und die einzige seit vielen Jahren, die dabei auch nicht vor den eigentlichen Grenzen zurückschreckte, die für angehende Priester gelten sollten.“
„Ich kenne keine Grenzen.“ sagte die junge Frau kalt.
Nun schien dem alten Ry unbehaglich zumute zu sein. Er ging einen Schritt auf sie zu. Dann schien er kurz nachzudenken, fasste sich aber schließlich ein Herz und seine Gedanken in Worte.
„Lenyca Ac-Sarr, du bist eine Kriegerin, wie auch dein Vater ein Krieger ist. In dir fließt das Blut der Batí. Warum willst du Priesterin werden?“
„Das will ich nicht.“ war die Antwort, die alle Umstehenden verblüffte.
„Ich will keine Priesterin werden. Aber ich werde diese Ausbildung durchlaufen, auch wenn es niemanden gibt, der das begreift. Ich bin niemandem eine Erklärung schuldig.“
„Da hast du recht.“ Ry runzelte die Stirn. „Ich gebe zu, dass dieser Entschluss von dir in nahezu jedem längeren Gespräch mit den anderen Priestern ein Thema ist. Du stellst dich Gefahren, die du besser meiden solltest, aber ich bin froh, dass Mondor in einigen Angelegenheiten dein Wegbegleiter war, ist und hoffentlich auch weiterhin sein wird.“
„Er begleitet mich mehr als nötig.“
Wieder ertönte Gemurmel. Hier und da klang es etwas empört.
„Du bist sehr von dir überzeugt, Lenyca Ac-Sarr. Vielleicht wäre dies ein guter Zeitpunkt, dass du auch mich überzeugst.“ Er wandte sich wieder an die anderen.
„Ihr wisst, was euch heute erwartet und doch habt ihr keine wahre Vorstellung davon. Das Blutopfer für den Großen ist ein heiliges Ritual. So heilig, dass wir es nicht verunstalten dürfen. Nur wenige erreichen den Rang, der sie zu dieser Handlung bevollmächtigt. Doch jenen ist es erlaubt, diese Vollmacht weiterzureichen an jemanden, den sie für geeignet erachten, wenn besondere Gründe dies nötig machen. Ihr seid heute hier, um Zeuge eines solchen Blutopfers werden. Und entgegen der vielen Gerüchte, die sich um diesen Teil eurer Ausbildung ranken, muss ich euch sagen, dass es kein Spiel ist. Es ist ein echtes Opfer und es ist ebenso heilig wie jene, die in großen Schlachten dargebracht werden. In dieser Nacht soll ein Mensch durch meine Hände sterben, um damit dem Großen Ehre zu erweisen.“
Im Gewölbe herrschte Totenstille. Einige waren kreidebleich geworden, andere zitterten am ganzen Leib. Es war also wahr. Ry würde nicht nur so tun, als ob. Er würde nicht nur erklären, welche Handlungen bei diesem Ritual vorzunehmen waren, er würde es zeigen. Es würde einen Toten geben.
Nur Lenyca schien nicht überrascht.
Ry sah sie aufmerksam an.
„Mondor ist ein sehr gründlicher Lehrer. Er hat dir sicher jeden Schritt genauestens beschrieben. Diese Nacht bringt für dich wohl nichts Lehrreiches mehr, denn ich kenne meinen alten Freund. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie auch du in dieser Lektion an Erfahrung gewinnen kannst.“
Zum ersten Mal zeigte Lenyca so etwas wie Interesse. Ein merkwürdiger, bedrohlicher Glanz trat in ihre Augen.
„Lenyca Ac-Sarr, du bist eine reine Batí und geschult in allem Wissen des elften Stammes. Dein Blut steht dem Großen näher als das meine. Ich erteile dir hiermit die Vollmacht und den Auftrag, an meiner statt das Blutopfer darzubringen.“
Die Priesteranwärter pressten sich mit dem Rücken an die Wand des Gewölbes. Niemand hatte es ihnen befohlen, im Gegenteil, Ry hatte ihnen mehrfach deutlich gemacht, dass sie in diesem einen und einzigen Fall durchaus näher herankommen durften. Zwar handele sich es um ein echtes heiliges Ritual, aber sie sollten lernen und sehen und zu diesem Zwecke sei es durchaus gestattet, sich in unmittelbarer Nähe zum Geschehen aufzuhalten.
Doch keiner kam diesem Angebot nach. Sie alle waren noch viel zu entsetzt über das, was da jetzt vor sich ging.
Gerade eben erst hatten zwei Säbelwächter eine heruntergekommene Frau mittleren Alters in den Raum geschleift. Sie war einigen nicht unbekannt, hatten doch viele den langwierigen Prozess neugierig verfolgt, der ihr erst vor wenigen Tagen gemacht worden war. Diebstahl des heiligen Silbers aus einem Tempel und Schändung eines Heiligtums, so lauteten die Vorwürfe und das Urteil besagte, dass sie begründet waren. Ein entsetzliches Verbrechen, das ihr den Zorn aller eingebracht hatte, zumal sie sich nicht aus Armut und Hunger dazu hatte hinreißen lassen, sondern aus puren Rachegelüsten, um einem Tempelpriester, der sie verschmäht hatte, eins auszuwischen.
Erst die Verkündung der Strafe hatte in ihr die Reue geweckt, doch da war es bereits zu spät gewesen. Nun wartete der Tod auf sie.
Vielleicht konnte sie es selbst noch gar nicht glauben, selbst dann nicht, als die Säbelwächter sie auf dem Altar festketteten. Vielleicht dachte auch sie, ähnlich wie die Priesteranwärter kurz zuvor, dass es nicht zum Äußersten kommen würde, dass dies alles nur eine symbolische Handlung und keine wirkliche Hinrichtung war. Jedenfalls blieb sie stumm, schrie nicht und flehte auch nicht um Gnade. Auch nicht, als Rys Gehilfe, der einige Zeit vorher die Seidenlaken gebracht hatte, nun ein schwarzes Samtkissen hereintrug, auf dem eine vollkommen schlichte, silberne Sichel lag. Sie war um einiges kleiner als die Kriegssicheln der Gebieter der Nacht, aber ebenso scharf.
Immer wieder wechselten die Blicke der Schüler zwischen der Verurteilten, dem hohen Lehrer Ry und Lenyca, die mit hungrigem Blick, aber ansonsten vollkommen reglos einige Schritte vom Altar entfernt stand.
„Du weißt, was du zu tun hast?“ fragte Ry sie. Er schien plötzlich etwas unsicher, ob seine Entscheidung die richtige gewesen war, doch als Lenyca ohne zu zögern nickte, entspannte er sich etwas.
Er nahm das Kissen mit der Sichel von seinem Gehilfen entgegen und trat auf die junge Batí zu. Ein Schauer lief ihm dabei über den Rücken. Gerade jetzt wurde ihm klar, dass, wenn Lenyca auch nur annähernd so mächtig werden würde wie ihr Vater, dies ein wahrhaft historischer Moment war.
Jetzt nahm sie in einer einzigen geschmeidigen Bewegung die Sichel in die rechte Hand und glitt auf den Altar zu. Dann neigte sie den Kopf und sah der verurteilten Frau direkt in die Augen.
Einen Moment lang erschien diese zu erstarren.
Und dann schrie sie.
So grauenerfüllt und in Todesangst, dass einige Priesterschüler sich entsetzt die Ohren zuhielten und viele sich abwandten.
Lenyca Ac-Sarr ließ sich Zeit. So viel Zeit, dass Ry nicht umhin kam, den Genuss wahrzunehmen, den sie dabei empfand. Und auch so viel Zeit, dass diejenigen, die ihr Gesicht zuerst lieber in einem Zipfel ihres Umhangs verborgen hatte, nun nach und nach doch aufsahen.
Die Frau auf dem Altar schrie immer noch, selbst als die unheilvolle Batí über ihr die Ritualformeln sprach.
„Ven juva simaea eltach. Moren vacumir en moren yeredir. Mendio Ash-Zarr. Baracomen Ash-Zaharr! Ven Yomen Ash-Zaharr!“
Ihre Schreie wurden lauter, doch ebenso auch die Stimme Lenycas und obwohl die Todgeweihte nun aus vollem Halse kreischte, waren die mystischen Worte immer noch klar und deutlich zu vernehmen.
Ry war wider Willen beeindruckt. Selbst in seinem Alter und mit seiner Erfahrung fel es ihm immer noch schwer, beim Blutritual derart gemessen und sicher vorzugehen. Natürlich wusste er, dass Lenyca keine Hemmungen hatte, zu töten. Sie war eine Kriegerin. Und sie war schon öfter mit ihrem Vater an Cycalsas Grenzen unterwegs gewesen und hatte mehr als nur ein paar Kämpfe bestritten. Aber das hier war etwas völlig anderes. Es ging nicht um einen Feind, es ging nicht darum, ein Gebiet oder gar sein eigenes Leben zu verteidigen.
Die Sichel glitzerte im Fackellicht, als sie den Hals der Frau berührte. Diese stieß jetzt nur noch unmenschliche Laute aus, sie weinte und flehte, aber Lenycas Blick blieb kalt und gnadenlos.
Inzwischen war sich Ry sicher, dass Satons Tochter das ohnehin sehr langwierige Ritual noch weiter in die Länge ziehen würde als nötig. Sie genoss tatsächlich jeden Augenblick und führte jede Bewegung mit einer solchen Perfektion aus, dass er sich fest vornahm, Mondor zu fragen, ob sie nicht schon einmal ein Blutopfer dargebracht hatte.
Der erste Schnitt war nicht tief. Die Blutlinie, die sich auf dem Hals bildete leuchtete verheißungsvoll. Dunkelrote Tropfen suchten sich ihren Weg zu der eingemeißelten Rinne im Stein.
Betont sachte setzte die Batí die Sichel ein weiteres Mal an.
Es würde ein sehr langsamer Tod werden.
Es war wieder dunkel. Noch immer blieben Mond und Sterne verborgen. Und noch immer fühlte sie, dass die Stimme in ihr nicht ganz gewichen war.
„Verflucht waren deine Vorfahren.“ hallte sie nun in ihr wider. „Verflucht ist dein Stamm. Doch du, du bist die Verfluchteste von allen.“
Stille.
Die Stimme war weg.
Rahor stand am Tunneleingang. Der Regen hatte aufgehört, doch die Wolken waren geblieben. Es war stockfinster.
„Sie wird sich den Tod holen.“ knurrte Haz-Gor. Er war von allen Cas wohl der mürrischste, aber im Grunde seines Herzens wollte er oft nur nicht zeigen, wie sehr er sich sorgte.
„Ich glaube nicht, dass sich Satons Tochter durch eine Erkältung kleinkriegen lässt.“ meinte Rahor.
„Ich verstehe nicht, dass wir immer noch hier warten. Zuerst hat sie doch gesagt, dass wir bei Anbruch der Nacht hinuntersteigen und jetzt...“
„Sie ruht sich aus. Und das ist gut so. Wir brauchen alle etwas Ruhe. Auch du, Haz-Gor. Sieh, die anderen haben sich auch hingelegt.“
„Ich bin nicht müde.“
„Das meine ich nicht. Mach dir den Moment bewusst. Cycalas liegt nun hinter uns. Der Krieg hat jetzt auch für uns begonnen. Wir sind mittendrin. Es fühlt sich nur noch nicht so an. Nimm dir die Zeit und die Ruhe, darüber nachzudenken.“
„Eigentlich komisch.“ brummte der viel ältere Haz-Gor. „Wenn jemand wie ich sich von einem so jungen Kerl belehren lassen muss. Ich weiß doch eigentlich viel besser, wie sich Krieg anfühlt.“
Aber Rahor nahm ihm die Bemerkung nicht übel.
„Es wird sicher nicht so sein wie damals. Vielleicht...“ Er brach mitten im Satz ab und richtete sich auf. „Sie kommt.“ sagte er dann nur.
Lennys bewegte sich wie im Traum auf den Ostbogen zu. Er kam ihr viel unwirklicher vor als die Bilder, die sie kurz zuvor gesehen hatte. Sie hatte sie längst vergessen gehabt, aber nun waren sie umso deutlicher gewesen. Das Blutopfer in ihrer Priesterausbildung. Der alte Lehrer Ry, der geradezu erschrocken darüber gewesen war, wie perfekt sie das Ritual beherrschte. Und die anderen Novizen, die dieses Erlebnis vielleicht allzu gern vergessen und verdrängt hätten, es aber nicht konnten. Die Hälfte von ihnen hatte sich nur innerhalb weniger Tage danach entschieden, zwar weiterhin den Weg des Himmels zu beschreiten, sich aber nicht ins Priesteramt einführen zu lassen, sondern eine Gelehrtenlaufbahn einzuschlagen. Von allen Anwesenden, abgesehen von Ry, war sie überhaupt die einzige gewesen, die über den untersten Priesterrang hinausgelangt war. Weit darüber hinaus.
Es war nicht schwer, die Bedeutung dieser Erinnerung richtig zu deuten. Sie wusste, warum sie sie gerade jetzt zu sehen bekommen hatte. Diese Erkenntnis wog schwer. Ein merkwürdiges Gefühl schien in der Shaj zu erwachsen, ein Unwohlsein, eine dunkle Beklemmung. Etwas, das nicht sein sollte und nicht sein durfte.
Vorhin hatte sie geglaubt, keinen Schritt weitergehen zu können. Als würde dieser Ort ihr Fesseln anlegen. Und nun waren diese Fesseln verschwunden und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als von hier zu verschwinden. Etwas zu tun. Sich abzulenken von all diesen Bildern, und sei es nur durch den Abstieg zu den Sümpfen.
„Wir brechen auf!“ rief sie Rahor zu, als sie noch ein ganzes Stück von ihm entfernt war. „Sofort!“
Yos traute seinen Augen kaum.
„Gibt's nich'...Gibt's nich'...“ stammelte er immer wieder fassungslos und starrte dabei auf die schwarze Barke mit den Silberbeschlägen, die im mondbeschienen Fluss schaukelte.
Sie war sehr klein, hatte nur zwei Ruderplätze und einen kräftigen Mast in ihrer Mitte. Unter einer weiteren Sitzbank am Heck lugten verschnürte Bündel hervor, vermutlich gefüllt mir Reiseproviant und anderen nützlichen Gegenständen. Daneben stapelten sich sauber gefaltete Decken aus Naarwolle.
Sara jubelte innerlich. Wandan hatte sein Versprechen nicht nur gehalten, sondern es auch übertroffen. Eine Barke der Säbelwächter zu organisieren, war schon eine wahrhaft großartige Geste von ihm gewesen, aber weitsichtig wie der alte Cas war, hatte er auch gleich noch alle anderen Probleme gelöst, die die Heilerin auf sich hatte zukommen sehen. Wenn sie Yos schon eine solch abenteuerliche Reise zumutete, musste sie auch für sein leibliches Wohl sorgen. Und die kalten Winterstürme hatten ihr zusätzliche Sorgen bereitet.
„Wo kommt'n das her? Haste doch geklaut? Meine Güte, mit 'ner Verbrecherin unterwegs sein, das hat mir grade noch gefehlt!“
„Unsinn. Ich habe nichts gestohlen. Sei lieber froh, dass wir nicht euer altes Boot nehmen müssen.“ Leichtfüßig sprang Sara an Bord. Doch Yos rührte sich nicht von der Stelle.
„Was ist, worauf wartest du?“
„Wie... wie, du willst jetzt los? Jetzt? 'S is' mitten in der Nacht!“
„Natürlich!“ Ungeduldig stemmte Sara die Hände in die Hüften und sah zu dem jungen Fährer hinauf, der noch immer wie angewurzelt auf dem Steg stand. „Ich sagte doch, ich habe es eilig. Und mir persönlich wäre es auch sehr recht, wenn uns nicht mehr Menschen als unbedingt nötig zu sehen bekämen.“
„Nee nee... Das wird mir zu heiß!“ Yos wich einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Geste. „Hast bestimmt was auf'm Kerbholz. Und jetz die Barke... oh man, auf so 'nen Diebstahl steht die Todesstrafe! Damit will ich nichts zu tun haben!“
Nun wurde Sara endgültig zornig.
„Ich sagte bereits, ich habe sie nicht gestohlen! Und du hast dein Wort gegeben! Was willst du tun? Zu deinem Onkel zurückgehen und ihm sagen, dass du zu feige warst? Willst du ihm die Heilpaste und das Silber wieder wegnehmen?“
Yos erbleichte. „Das is' Erpressung!“
„Nein, es ist ein Geschäft. Ich habe meinen Teil eingehalten. Jetzt bist du dran. Je länger du zögerst, desto länger dauert es, bis du wieder zu Hause bist!“
„Als käme es darauf an! Selbst wenn wir weiter Nordwind haben, dauert's Tage bis wir da sin und wahrscheinlich Wochen, um zurückzufahren!“
„Eben deshalb haben wir keine Zeit zu verlieren! Wie lange brauchen wir bis zur Küste?“
Yos zuckte resigniert die Schultern. „'N paar Stunden.“
„Schaffen wir es bis zum Morgengrauen?“
„Nee, glaub ich nich'. Naja, vielleicht. Aber wenn du nix ausgefressen hast, isses doch egal, oder? Kann man uns doch sehen, oder nich'?“
Sara seufzte. „Aber ich möchte es nicht. Und mehr musst du vorerst nicht wissen. Kommst du jetzt endlich?“
Mürrisch schleuderte Yos seine abgewetzte Tasche in die Barke und sprang hinterher.
„Und das für'n paar Silberlinge und 'n Topf Salbe. Ich muss verrückt sein.“
„Wenn alles gut geht, Yos...“ Sara sah ein letztes Mal ein wenig wehmütig über die Ländereien Semon-Seys. „...dann wirst du von mir jeden Lohn erhalten, den du dir wünschst. Du ahnst noch gar nicht, wie wichtig dieser Dienst vielleicht sein kann.“
Das Schlagen der Hufe der Mondpferde auf dem steinigen Pfad war das einzige Geräusch, das die Stille der Nacht störte. Der Regen hatte längst aufgehört und dann und wann riss sogar die Wolkendecke auf und gewährte dem fahlen Mondlicht, kurz den steilen Abstieg zu beleuchten, den die Cas gerade bezwangen.
Die Tiere waren unruhig. Immer wieder zögerten sie, warfen ihre wilde Mähne zurück und schnaubten nervös, wenn sie gegen ihren Willen angetrieben wurden. Die Cas kannten sie gut genug, um zu wissen, dass weder Dunkelheit noch die Beschaffenheit des schmalen Weges Anlass für dieses Verhalten waren.
„Sie sind nicht mehr weit.“ sagte Garuel, der ausnahmsweise vorneweg ritt, nach einer Weile leise. Rahor und Lennys waren ein Stück hinter den anderen geblieben, doch auch sie vernahmen seine Worte. Die Shaj nickte.
„Unten, in der Senke. Wir sollten das letzte Stück zu Fuß gehen.“
„Wie weit ist es noch bis dorthin?“ fragte Sham-Yu und fing sofort einen warnenden Blick von Rahor auf, doch es war Lennys, die viel ruhiger als gewöhnlich antwortete.
„Nicht weit. Wir haben schon mehr als die Hälfte geschafft. Dort unten bei der Tannengruppe steigen wir ab. Haltet die Augen offen.“
Die Baumgruppe, von der Lennys gesprochen hatte, war tatsächlich nicht weit entfernt. Sie benötigten nicht einmal eine halbe Wegstunde, um sie zu erreichen, obwohl gerade dieser Abschnitt besonders holprig und schwer zu durchreiten war. An den Tannen angekommen, verzichteten sie darauf, die Tiere anzubinden. Sie sollten im schlimmsten Fall in der Lage sein, zu entkommen, waren aber mutig genug, nicht grundlos fortzulaufen. Schon beim Absteigen lösten die ersten Cas die Sichel vom Gürtel, unter ihnen auch Sham-Yu. Er spürte, dass der Kampf nicht mehr fern war. Gut möglich, dass die Hantua ihr Nachtlager erst ein Stück weiter unten, am Fuß des Berges, aufgeschlagen hatten, aber weit entfernt waren sie nicht. Er konnte ihren fauligen Atem schon fast riechen. Man musste kein Krieger sein, um ihre Anwesenheit wahrzunehmen.
Der Angriff kam urplötzlich und viel früher als erwartet. Faragyl, Horem und Lennys hatten noch nicht einmal die Waffe gezogen, als die erste massige Gestalt aus dem Unterholz der Tannen herausschoss und mit hocherhobener Streitaxt geradewegs auf Rahor zustürmte. Der Oberste Cas bemerkte die Gefahr erst im allerletzten Augenblick, duckte sich unter dem Angreifer weg, wirbelte herum und schlug ihm seine Sichel mit tödlicher Kraft direkt in den Nacken. Das Brechen der Knochen ging in dem Heulen des Windes, der jetzt aufbrandete, beinahe unter. Der Kopf des Hantua klappte wie an einem Scharnier nach vorne, Blut spritzte aus dem durchtrennten Hals und so langsam, als hätte der Körper des Feindes seinen eigenen Tod noch gar nicht wahrgenommen, kippte der Koloss vornüber zu Boden.
„Verdammt!“ schrie Haz-Gor und schaute sich verwirrt um, die Sichel kampfbereit gezückt. „Wo sind sie? Sie sind hier, genau hier! Warum sehen wir sie nicht?“
„Ich rieche sie!“ brüllte Faragyl nun auch. „Ich fühle sie!“
„Elende Missgeburten, jetzt ist euer letzter Atemzug gekommen!“ Karuu schwang seine Klinge und suchte die Umgebung mit den Augen ab.
Sie mussten nicht lange warten. Äste knackten, ein grunzendes Keuchen drang aus dem Dunkel hinter den Tannen hervor und eine Woge üblen Gestanks rollte auf die zehn Krieger zu. Ohne zu zögern trat Rahor direkt vor Lennys, Sham-Yu und Balman taten es ihm gleich.
Dann brachen die Hantua hervor.
Zuerst schien es, als hätte Haz-Gor mit seiner Vermutung recht gehabt, dass etwa die Hälfte der Gruppe in den Bergen den Tod gefunden hatte, doch dann tauchten immer mehr klobige Gestalten zwischen den Bäumen auf. Sie grölten und keiften, schlugen ihre Äxte scheinbar blind mitten ins Kampfgetümmel, um gleich darauf gurgelnd und Blut spuckend zusammenzubrechen. Die Sicheln vollführten einen wilden Tanz, färbten sich blutig rot und verwandelten sich in silberne Blitze, deren Glänzen ineinander verschwamm, während die schwarzen Cas wie fliegende Schatten die Reihen der Feinde durchbrachen. In wenigen Augenblicken war der harte Erdboden mit Leichen bedeckt, mit abgeschlagenen Köpfen und zerfetztem Fleisch, war getränkt vom Blut und zerfurcht von Äxten, deren Besitzer sie nicht mehr halten konnten.
Kaum waren Rahor, Sham-Yu und Balman mit den ersten Angreifern beschäftigt, versuchten einige nachfolgende Hantua, zu Lennys durchzubrechen. Mit einem einzigen Schlag durchschlug sie den Hals des ersten und rammte die Sichelspitze direkt mitten ins Gesicht des nächsten Zrundir-Soldaten. Immer wieder schlug sie neue Hantua zurück, die es geschafft hatten, an den Cas vorbeizukommen. Ein Stück von ihr entfernt, direkt unter den tiefhängenden Ästen einer mächtigen Tanne, lieferten sich Zom und Garuel einen heftigen Kampf mit einem halben Dutzend neu hinzugestoßener Feinde, während nur einige Schritte von ihnen entfernt Faragyl seine Sichel einem Hantua hinterherschleuderte, der sich gerade auf Balman stürzen wollte.
Irgendwann kamen keine Gestalten mehr aus dem Unterholz. Der Strom war verebbt, doch die letzten noch lebenden Angreifer schienen zäher zu sein als ihre Kameraden. Einem von ihnen gelang es, mit seiner Axt Haz-Gor eine tiefe Wunde an der Schulter zuzufügen, ein anderer rang Sham-Yu zu Boden und versuchte den jungen Cas mit bloßen Händen zu erwürgen. Gerade noch rechtzeitig schaffte es Lennys, ihm die Sichel durch seinen löchrigen Lederpanzer hindurch in die Seite zu schlagen, so dass die Eingeweide herausquollen. Mit letzter Kraft schob Sham den Sterbenden von sich herunter.
Es war der Letzte gewesen.
Schweigend betrachteten die Cycala den Kampfschauplatz und sich selbst. Jeder von ihnen hatte mehr oder minder schwere Blessuren erlitten, doch selbst Haz-Gors blutige Schulter bot keinen Anlass zu ernsthafter Sorge.
„Von wegen zwanzig oder weniger.“ bemerkte Rahor als erster. „Mindestens doppelt so viele.“
„Wo kommen die plötzlich alle her?“ fragte Horem. „Ich verstehe das nicht. Wenn eine so große Gruppe in den letzten Tagen durch den Ostbogen gegangen wäre, hätten wir viel mehr Spuren finden müssen.“
„Vielleicht kamen sie gar nicht von dort. Sondern wollten dorthin.“ Das war Sham-Yu.
„Zurück nach Norden? Und dann ausgerechnet auf diesem Weg?“ Horem wirkte nicht überzeugt. „Ich denke eher, dass sie nicht zufällig gerade jetzt hier waren. Sie wussten, dass wir kommen. Sie haben ja regelrecht auf uns gewartet. Das würde auch erklären, warum die Gruppe so groß war. Das sieht ihnen eigentlich nicht ähnlich. Sie könnten...“
Er hielt inne. Die anderen Cas folgten seinem Blick.
Lennys hatte nicht zugehört. Sie ging geradewegs auf einen der Toten zu. Es war gerade der, der sich am längsten gewehrt hatte und der ihr mit einem heftigen Tritt fast das Knie zertrümmert hatte. Nun lag er auf dem Rücken, die ohnehin entstellten Gesichtszüge von klaffenden Wunden durchzogen. Lennys' letzter Sichelhieb entblößte seine Halswirbel.
Ohne auf die Cas zu achten, beugte sie sich hinunter und holte ihren Kelch hervor, um ihn mit dem letzten Blut zu füllen, das aus dem toten Körper rann. Völlig ohne Eile ging sie dann auf einen Felsblock am Rand der Baumgruppe zu. Sie hinkte immer noch, aber gleich würde der Schmerz vergessen sein. Während allmählich die Pferde, die während des Kampfes ein Stück den Weg hinaufgetrabt waren, zurückkamen, setzte sie sich auf den Stein, schloss die Augen und führte dann den Kelch an ihre Lippen.
Erst als sie ihn zur Gänze geleert hatte, folgten die Cas ihrem Beispiel.
Racyls Finger glitten ein letztes Mal über die Maserung der schweren Eingangstür. In diesem Haus war sie aufgewachsen und in dieses Haus war sie nach vielen Jahren zurückgekehrt. Sie liebte es und auch wenn sie hier schwere Zeiten erlebt hatte, so fiel es ihr doch ungemein schwer, ihm Lebewohl zu sagen.
Die anderen drängten nicht. Es galt zwar, zu Tagesanbruch Semon-Sey so weit wie möglich hinter sich gelassen zu haben, doch auf diesen einen Moment kam es nicht an.
Dann endlich atmete das Mädchen tief durch, nickte kurz und kehrte ihrem Heim den Rücken. Ohne sich noch einmal umzudrehen oder auch nur ein Wort zu sagen, ging sie an Mo, Wandan und Mondor vorbei und trat auf die Straße hinaus, die zum Osttor führte.
Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Es war Mondor, der zuerst wieder Worte fand.
„Wir haben einige Schwierigkeiten vor uns. Yto Te Vel ist kein Ort für alle Cycala. Die Batí dort werden es nicht gern sehen, wenn fremde Stämme dorthin kommen.“ Es war klar, dass er von Mo und Racyl sprach, ohne dass er es besonders betonte.
„Werden wir in Yto Te Vel überhaupt finden, wonach wir suchen?“ fragte Mo.
„Das weiß niemand. Wir suchen nach dem Erben des Himmels und den Legenden zufolge kann er kein Batí gewesen sein. Ash-Zaharr übertrug sein Blut und nur der Erbe der Nacht gab das seinige weiter und begründete so den elften Stamm. Allerdings besitzen die Batí die ältesten Schriften Cycalas. Sie verwahren viele Geheimnisse, nicht nur ihre eigenen. Wenn wir dort nicht fündig werden, glaube ich kaum, dass es sonst noch irgendwo einen schriftlichen Hinweis gibt.“
„Was ist mit Zarcas? Ist dort nicht die größte Bibliothek des Landes?“ wollte Wandan wissen.
„Groß ist sie, das ist wahr. Aber doch vergleichsweise oberflächlich. Abgesehen davon wäre es ungleich schwerer, dort an alte Dokumente zu kommen. Mein Grad reicht dafür nicht aus und gerade in Zarcas sind die Priester uns gegenüber sehr misstrauisch. Sie stehen voll und ganz unter Talmirs Befehl.“
„Gibt es.... denn nur die Schriften?“ fragte Racyl zaghaft. „Haben wir keine andere Möglichkeit, es herauszufinden?“
Mondor schien nachdenklich. „Andere Möglichkeiten gibt es sicher. Aber um zu wissen, welche das sind, müssen wir erst einmal dort anfangen, wo die Wahrscheinlichkeit am größten ist. Und das ist nun einmal Yto Te Vel. Ich will euch nicht verhehlen, dass man über eure Anwesenheit nicht begeistert sein wird. Aber Wandan und ich... Nun, unser Ansehen dort ist nicht das schlechteste. Wenn wir uns für euch verbürgen – und ich hoffe doch, dass ihr diese Wertschätzung nicht enttäuscht – wird man euch zumindest dulden. Mehr können wir nicht erwarten. Ihr werdet in meinem Hause dort zu Gast sein. Es schadet auch nicht, wenn wir uns eine Weile dort aufhalten, bis sich zumindest die Lage in Semon-Sey beruhigt hat. Talmir und Imra müssen versuchen, das Land in diesen Zeiten weiter am Leben zu erhalten und es wird einige Zeit dauern, bis sie sich zumindest in diesem Punkt einigen.“
Eine zeitlang dachten alle über diese Worte nach und erst der Anblick der Stadtmauer riss sie wieder aus ihren Gedanken.
„Nun denn, schönes Semon-Sey...“ Übertrieben theatralisch verneigte sich Mondor noch einmal in Richtung der Stadt. „Du warst mir ein wundervolles Zuhause. Ich hoffe, du bist es auch noch, wenn ich irgendwann zurückkehre.“
„Wie düster und still dieser Ort doch ist, jetzt wo alle fort sind. Wenn man aus dem Fenster schaut, so gibt es nichts, weswegen sich ein solcher Blick lohnt.“ Melancholisch wandte sich Imra von dem leeren Burghof ab. „Die Krieger sind gegangen, nur wenige sind geblieben, um dieses heilige Land zu schützen. Und auch alle anderen scheinen uns den Rücken zu kehren. All jene, die ich meine Freunde nenne.“
„Das Leben eines Shaj ist einsam, Herr.“ sagte Afnan ernst. „Ganz besonders in Kriegszeiten.“
„Ich glaube nicht, dass man Talmir als besonders einsam beschreiben kann.“
„Herr, mit Verlaub, aber die Menschen, mit denen Talmir sich umgibt, würde ich auch nicht unbedingt seine Freunde nennen. Es sind Günstlinge, Kriecher und gierige alte Männer, die nicht auf ihr bequemes Leben verzichten wollen und die glauben, nur Talmirs Wohlwollen könne es ihnen erhalten.“
„Du bist wieder einmal unangenehm ehrlich, Afnan. Was glaubst du, wie viele der Menschen, die ich meine Freunde nenne, sind es wirklich?“
Er ging zu seinem Arbeitstisch und nahm dahinter in einem Sessel Platz. Der Hauptkämmerer stand noch immer an der Tür, in seinen Händen ein Tablett mit einer Weinkaraffe und einem schlichten Kelch.
„Setz dich zu mir. Und nimm dir einen Becher vom Tisch dort. Lass uns zusammen Wein trinken und erzähle mir, was du wirklich denkst.“
Natürlich war es für Afnan eine große Ehre, vom Shaj der Erde zu einem Becher Wein eingeladen zu werden, doch er fühlte sich auch ein wenig unbehaglich. Nichts lag ihm ferner, als Imra zu belügen, doch ebensowenig wollte er ihn verletzen.
„Du zögerst? Mach dir keine Sorgen. Ich möchte deine Meinung hören, weiter nichts. Es muss ja nicht die meine sein.“ Der Shaj lächelte schwach. Er sah zu, wie Afnan sich gehorsam einen Becher vom Gasttisch nahm, dann beide Trinkgefäße mit Wein füllte und den Kelch mit einer leichten Verbeugung zu ihm hinüberreichte. Schließlich nahm er auf der Kante eines Hockers Platz.
„Wie geht es deinem Sohn?“ fragte Imra plötzlich.
„Meinem Sohn?“ Afnan war erstaunt. „Oh, dem geht es gut. Er ist wieder vollkommen gesund. Ohne die hohe Heilerin... Wer weiß, ob ich ihn dann noch bei mir hätte.“
„Ich verstehe. Du magst Sara sehr, nicht wahr? Nein, du musst darauf nicht antworten. Ich habe nicht geglaubt, dass du gerade ihr misstraust.“
„Gewiss nicht, Herr.“
„Nun, ich freue mich. Und natürlich freue ich mich auch, dass ihre Heilkunst deinem Sohn helfen konnte. Kinder sind etwas Wunderbares. Ich hatte einst eine Tochter, doch sie starb und ich durfte sie nicht aufwachsen sehen. Mir scheint, nur wenigen, die einen Teil ihres Lebens hier in dieser Festung verbringen, wird dieses Glück zuteil.“
Darauf wusste Afnan nichts zu sagen. Wenn er so darüber nachdachte, hatte Imra sicher recht, aber es war ihm noch nie aufgefallen. Die Cas waren allesamt die Söhne bedeutender Krieger, doch sie selbst schienen ihre eigene Linie nicht fortführen zu wollen, abgesehen von Karuu, dessen kleine Söhne schon jetzt dem Vater nacheiferten.
„Weißt du, man muss nicht selbst Kinder haben, um Freude über sie zu empfinden. Denk nur an Menrir. Er war Saras Lehrmeister und für ihn war es eine besonders glückliche Aufgabe, die jungen Novizen zu unterrichten. Wusstest du das? Er nahm immer wieder einen weiten Weg auf sich. Von Elmenfall bis zum Nebeltempel. Ein weiter Marsch für einen Mann in Menrirs Alter. Und doch tat er es, aus reiner Freude am Lehren.“
„Ich habe davon gehört, Herr. Aber Novizen... sind keine Kinder mehr.“
„Nein...“ lachte Imra. „Das sind sie nicht. Und doch leben Kinder im Nebeltempel. Sie wachsen dort auf und wenn die Zeit und ihr Geist reif sind, dann beginnen sie dort ihre Ausbildung. Natürlich sind es nicht viele. Aber auch Sara war eine von ihnen. Es ist die Jugend, die Menrir in den Tempel zog. Sag mir, Afnan, kann jemand, der eine solche Freude an der Jugend empfindet, …kann so jemand die Alten hintergehen?“
„Ihr zweifelt an Menrir, Herr?“
„Ich frage, ob du an ihm zweifelst.“
„Er verbringt viel Zeit mit Akosh, Herr. Doch ich glaube, dass Sara ihrem alten Lehrer noch immer vertraut. Und dann tue ich es auch.“
„Aber wenn ich es recht verstehe, genießt Akosh dieses Vertrauen wiederum nicht. Weder das deine, noch das Saras.“
Afnan sagte nichts.
„Akosh.“ Imra hielt seinen Kelch ins Licht. Der Wein glitzerte. „Ascoro Min Lyva. Ein grandioser Kämpfer und eine faszinierende Geschichte. Ich habe viele wunderbare Erinnerungen an ihn. Wie oft habe ich mein Haupt vor ihm geneigt. Er war ein so hochgestellter Krieger, selbst als er kein Cas mehr war. Und ich war nur ein einfacher Weber.“
„Ein Weber mit einem ebenfalls hohen Rang, Herr. Ihr ward nur immer zu bescheiden, ihn offen zu tragen.“
„Und doch war Akosh jemand, zu dem ich aufsah. Weil es das Gesetz vorgibt und weil ich es selbst auch so empfand.“
„Herr... es gibt Anzeichen, dass Akosh...“
Doch Imra winkte ab.
„Ich weiß, ich weiß. Akosh und Talmir. Ein sehr schwerer Vorwurf. Ich kenne deine Sichtweise. Und auch die Saras. Oh ja, sie ist für mich durchaus ein Maßstab. Du kannst das sicher am ehesten nachvollziehen. Aber auch Sara kann sich irren. Und du. Und natürlich auch ich. Es fällt mir einfach schwer, mir vorzustellen, dass ein halber Batí, ein Krieger, ein Sichelträger... sich verbündet mit einem Priester und sich so gegen seine Shaj stellt. Mehr noch. Ihr glaubt, er steht auf der Seite des größten Verräters, den es in der Geschichte unseres Landes je gegeben hat. Es gibt in euren Augen vieles, das dafür spricht. Aber gibt es nicht auch Gegenargumente?“
„Sicher, Herr. Aber ist es im Zweifel nicht besser, jemandem nicht zu vertrauen?“
Imra lachte. „Willst du, dass ich werde wie die Shaj der Nacht?“
Afnan aber blieb ernst.
„Herr, darf ich ehrlich sprechen? Als einfacher Mann dürft ihr euer Vertrauen einem jeden schenken, von dem ihr glaubt, dass er es verdient. Aber nun seid ihr der Shaj der Erde. Ein Fehler kann mehr bewirken als eure eigene Enttäuschung. Ihr tragt die Verantwortung für ein Land. Vertrauen kann in diesem Fall mehr zerstören als Vorsicht. Und es ist schwieriger, es rückgängig zu machen.“
„Ein weises Wort, mein Freund. Und ja, ich nenne dich so. Vielleicht hast du recht. Aber nun bin ich an einem Punkt, an dem ich wirklich deine Hilfe brauche. Und deinen Rat.“
„Herr, ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, den Shaj zu beraten.“
„Oh doch, das bist du. Du kennst diese Burg und ihre Geschichte. Du kennst die Shaj der Nacht besser als die meisten hier. Und du kennst diejenigen, die sich hier aufhalten. Und die es auch schon früher taten. Ich habe dir bereits erzählt, was Lennys von mir erwartet. Ich bin längst nicht in alle Geheimnisse eingeweiht. Und eines, das mir verborgen bleibt, soll ich nun schützen. Nun, vielleicht ist das etwas übertrieben. Aber es scheint ihr wichtig zu sein. Warum sonst hätte sie mich kurz vor ihrer Abreise darum gebeten, obwohl es doch so viel Bedeutsameres gibt, um das es sich zu kümmern gilt? Jedenfalls ist dies ein Thema, über das ich pausenlos nachdenke und das mich, dies sei mir gestattet, mit großer Unsicherheit erfüllt.“
„Ihr sprecht von den Herren Mondor und Wandan?“
„Sie haben Vas-Zarac und auch Semon-Sey verlassen, wie man mir mitteilte. Angeblich sei auch noch Mo, der Diener Balmans bei ihnen gewesen. Zumindest hat er sie in der vergangenen Nacht aufgesucht. Lennys erwähnte etwas von einer Suche, auf die sie sich begeben wollen und zu der sie selbst die Erlaubnis erteilte. Allerdings ist ihr wohl daran gelegen, dass diese Suche … nun ja, nicht unbedingt die Erkenntnisse liefert, die ihr Ziel sind. Sie wünscht, über alles unterrichtet zu werden, was Wandan und Mondor herausfinden. Und jetzt sage mir, Afnan, wie soll ich dies bewerkstelligen? Es gibt wohl im ganzen Sichelland niemanden mehr, der es schaffen könnte, einem alten Cas wie Wandan …hinterherzuspionieren. Und wenn es jemanden gäbe, so hätte ich dennoch kein gutes Gefühl bei der Sache.“
Nachdenklich runzelte Afnan die Stirn. Sein Herr Imra hatte dies schon einmal angesprochen und natürlich hatte er, der Hauptkämmerer, sich seine Gedanken gemacht, aber er war zu keinem befriedigendem Ergebnis gekommen.
„Wenn ihr wüsstet, wo sie hingegangen sind, so wäre es leichter, an Informationen zu kommen.“
„Ich habe eine Vermutung. Oder sagen wir besser, Lennys hatte diese. Leider macht es die ganze Sache nicht leichter. Sie glaubt, dass die beiden nach Yto Te Vel reisen könnten.“
„Die alte Batí-Stadt? Eine Überraschung wäre dies nicht, immerhin leben die beiden eigentlich dort.“
„Eben. Wenn sie dort nach etwas 'suchen', dann habe ich wohl keine Möglichkeit, etwas darüber herauszufinden.“
„Herr, auch wenn Mondor und Wandan Batí sind und viele Freunde in Yto Te Vel haben, so seid ihr doch der Shaj der Erde. Eurem Wort können sich selbst die Batí nicht verschließen.“
„Ich möchte sie nicht gegen mich aufbringen oder sie zu etwas zwingen.“
Doch Afnan schüttelte den Kopf.
„Ihr handelt im Auftrag der Shaj der Nacht. Und ihr Wort steht für die Batí noch über dem euren.“
„Und doch verliert es an Gewicht, wenn es durch mich ausgesprochen wird.“
„Wenn ihr im Namen Lenycas sprecht, kann, darf und wird sich kein Batí widersetzen, Herr. Nur werden sich alle fragen, warum Wandan und Mondor Ziel eurer Ermittlungen sind. Gerade Mondor. Er ist so etwas wie der Herr von Yto Te Vel. Leicht wird es sicher nicht, aber letzten Endes müssen sich die Menschen dort eurem Willen beugen.“
Eine sehr lange Zeit blieb es still. Imra dachte über das, was Afnan gesagt hatte nach und er überlegte auch, ob er überhaupt eine andere Wahl hatte.
„Schicke einen Boten nach Yto Te Vel, Afnan. Einen berittenen Boten. Er muss vor den beiden dort ankommen und er soll ungesehen bleiben. Ich werde eine Nachricht an den momentanen Tempelvorsteher schicken, der Mondor vertritt, und ich wünsche, dass jener Bote die Antwort oder den Mann selbst auf schnellstem Wege hierher bringt.“
Warmes, süßes Blut. Sein Geschmack vertrieb jeglichen Schmerz, zumindest für eine Weile. Eine Welle der Trunkenheit überkam sie, kaum dass die Flüssigkeit ihre Lippen berührt hatte. Die Welt ringsum versank in einem Farbwirbel, ihr eigener Lebenssaft rauschte immer lauter in ihren Ohren. Mit jedem Schluck nahm das Gefühl zu und als sie den Kelch geleert hatte, waren ihre Sinne weit weg von allem, was gerade noch Wirklichkeit gewesen zu sein schien.
Sie sank zurück, legte sich auf den Stein und vergaß Zeit und Raum. Der letzte klare Gedanke in ihr war, dass es viel zu schnell vorbei sein würde.