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Kapitel 2

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„Darf ich dich kurz sprechen?“

Rahor hatte die letzten Stunden damit verbracht, den Abstand zu Lennys nicht zu groß werden zu lassen, ohne dabei die Verbindung zu den ihm folgenden Cas abreißen zu lassen. Er hatte seine Shaj beobachtet und sich immer wieder gefragt, ob sie ihre Schweigsamkeit in den nächsten Tagen beizubehalten gedachte. An einer Wasserstelle, an der sie sich alle eine gemeinsame Rast gestatteten, trat er zu ihr, außer Hörweite der anderen Gefährten.

„Seit wann fragst du?“

„Nun, ich habe nicht den Eindruck, dass dir nach Reden ist.“

„Das hast du gut erkannt. Ich nehme an, du hast einen Grund dafür?“

„Allerdings.“ Er deutete nach Osten. „Wir sind sehr nah an der Grenze zu Zrundir. So nah wie schon lange nicht mehr. Sie liegt höchstens eine Stunde von hier entfernt.“

„Erzähle mir nichts, was ich nicht weiß, Rahor. Du wusstest von Anfang an, dass unser Weg hier entlangführt.“

„Das ist es nicht. Ich meine, ich wundere mich nicht über unseren Weg. Sondern darüber, wie wir ihn bewältigen.“

Zum ersten Mal sah Lennys, die gerade die Gurte am Sattel ihres Mondhengstes nachzog, auf. „Drück dich klar aus. Worauf willst du hinaus?“

Der oberste Cas nahm Haltung an.

„Meine wichtigste Pflicht ist es, dich zu beschützen. Die Pflicht von uns allen. Wie können wir ihr nachkommen, wenn du ständig mit weitem Abstand vor uns her reitest, gerade hier, wo wir durchaus mit Hantua zu rechnen haben.“

Lennys zuckte gleichgültig die Achseln.

„Die Hantua würden es nicht wagen, so nah am Sichelland durch den Shanguin-Gürtel zu reisen. Überhaupt meiden sie ihn seit damals. Deine Sorge ist unbegründet.“

„Vielleicht. Trotzdem möchte ich dich bitten, es uns nicht ganz so schwer zu machen.“

„Ich brauche keinen Schutz, das habe ich dir schon wer weiß wie oft gesagt. Als ich das letzte Mal im Süden unterwegs war, hat mich kein einziger von euch begleitet, und wie du siehst, habe ich es trotzdem überlebt.“

„Die Zeiten haben sich geändert, Lennys. Wir.....“ Er sprach noch leiser. „Wir sollten nicht vergessen, dass schon eine kleine Unachtsamkeit verheerende Folgen haben kann. Du weißt, was ich meine.“

Unbeeindruckt verschränkte sie die Arme, wie sie es oft tat, wenn ihr ein Gespräch zuwider war.

„Ja, ich weiß sehr wohl, was du meinst. Und da wir gerade bei dem Thema sind, werde ich dir eine Frage stellen. Du kennst deine Pflichten als Oberster Cas sehr genau. Aber kennst du auch noch den Schwur der Drei?“

Rahor wurde blass.

„Ob ich ihn noch kenne? Wie kannst du nur so etwas fragen?“

„Ich frage dich, weil zwei von euch gerade im Begriff sind, das in Gefahr zu bringen, was sie eigentlich bewahren sollten.“

Ein eiskalter Schauer überkam Rahor.

„Ich verstehe nicht, was du meinst. Wenn du von Wandan und Mondor sprichst, dann bin ich sicher, dass....“

„Wandan und Mondor sind gerade dabei, eine große Dummheit zu begehen. Vielleicht sogar eine tödliche. Sie haben dich also nicht eingeweiht?“

„Nein.“

„Dann werde ich es tun. Sie suchen nach dem verlorenen Blutsträger des Himmels.“

Plötzlich wirkte Rahor erleichtert.

„Aber das ist doch nur ein Märchen.“ lachte er übermütig.

„Für sie ist es mehr als das.“

„Vielleicht langweilen sie sich einfach? Was kann es schon schaden, wenn sie ein bisschen in der Geschichte herumkramen? Wandan braucht einfach eine Aufgabe, jetzt, da alle anderen in den Krieg ziehen und er zurückbleibt. Und er versteht sich gut mit Mondor, ich bin sicher, sie nehmen das Ganze nicht wirklich ernst. Niemand würde das tun.“

„Niemand, der nur das kennt, was man sich auf den Märkten erzählt.“

„Und die beiden wissen mehr? Einen Augenblick... Meinst du, an dieser Geschichte ist etwas Wahres dran? Dass es tatsächlich noch einen Blutsträger gibt, von dem niemand weiß? Nein, das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen....“

„Was du dir vorstellen kannst, Rahor, ist leider kein Maßstab für die Wirklichkeit. Tatsache ist jedenfalls, dass wir schon genug Probleme haben. Log hält cycalanische Geiseln gefangen. Er verbündet sich mit Iandal und den Hantua und stellt uns seine Armee entgegen. Iandal wiederum befehligt die Soldaten von Zrundir und hetzt das Mittelland gegen uns auf. Wir führen einen Krieg gegen ganz Sacua. Und diejenigen, die einen Eid darauf geschworen haben, die alten Geheimnisse zu wahren, sind gerade dabei, eine Waffe ausfindig zu machen, die, natürlich vorausgesetzt, dass es sie gibt, uns einen tödlichen Schlag versetzen könnte. Nimm dich in acht, Rahor. Dass ich allein vor euch herreite, während irgendwo vielleicht ein verirrter Hantua durch die Sträucher kriecht, ist das absolut Geringste, weswegen du dir Sorgen machen musst!“

„Aber....“

„Nichts aber. Das reicht. Wir werden nicht mehr davon reden. Du wirst mit niemandem darüber sprechen, hörst du? Im Augenblick sitzen uns mehr Feinde im Nacken, als du dir vorstellen kannst. Manche, weil sie uns unterliegen sehen wollen. Aber manche auch aus purer Dummheit, weil sie die Finger nicht von den Dingen lassen können, die sie nichts angehen. Ich habe es dir gesagt, damit du siehst, wie wenig man sich auf Pflichten, Schwüre und Versprechen verlassen kann. Sobald wir Valahir durchquert haben, wird dir keine Zeit mehr bleiben, dich damit zu befassen. Dann werden wir alle keine Zeit mehr haben für irgendwelche Hirngespinste. Je früher dieser Moment kommt, desto besser.“

„Ich habe nachgedacht.“

Racyl fiel es nicht leicht, Akosh, Menrir, Oras, Haya und Mo anzusehen. Sie war es nicht mehr gewohnt, mit vielen Menschen gleichzeitig zusammen zu sein. Auch in den Jahren im Zera-Tempel hatte sie die meiste Zeit allein verbracht.

Sara hielt sich abseits. Sie wusste, wie Racyl sich entschieden hatte und inzwischen war sie froh, dass sie die Meinung ihrer Freundin zugelassen hatte.

„Ich werde nicht mit euch kommen, Akosh.“ sagte diese laut und deutlich. „Es ist besser für uns alle, wenn ich bei Mo bleibe und mit ihm Mondor und Wandan unterstütze.“

Die Augen des alten Dieners leuchteten bei ihren Worten. Dass eine junge hübsche Dame seine Gesellschaft gewählt hatte, ließ ihn vor Stolz anschwellen, auch wenn er wusste, dass ihre Entscheidung nichts mit seiner Person zu tun hatte. Die Aussicht auf die nächsten Wochen machten dieses Bedauern jedoch schnell wett.

„Das ist sehr vernünftig und klug von dir.“ nickte Akosh erleichtert. „Ich hoffe, Sara sieht das auch so.“

„Was ich denke, ist unwichtig.“ sagte Sara immer noch abweisend. „Es ist Racyls Angelegenheit. Noch weiß niemand, dass sie sich wieder in Semon-Sey aufhält, aber wenn sie sich zu Mondor und Wandan gesellt, wird sich diese Nachricht schnell verbreiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Lennys davon erfährt. Ihre Boten und Informanten sind sehr gewissenhaft.“

Akosh lächelte zaghaft. „Hierzu hatte Mo bereits einen recht brauchbaren Vorschlag. Nicht wahr, Mo?“

Etwas nervös trat der Diener vor Racyl. „Ich denke, Herrin, dass ihr euch mit einigen Hilfsmitteln leicht unkenntlich machen könntet. Und dann werde ich euch als Tempelschülerin zu eurem neuen Lehrmeister und entfernten Verwandten Mondor geleiten. Niemand wird Verdacht schöpfen. Euer herrliches Haar werdet ihr allerdings unter einem Tuch oder einer Perücke verbergen müssen. Was eure Herkunft angeht, müsst ihr nicht lügen, eure blauen Augen verraten euch als Halbblut der Batí, aber das ist ja nicht unbedingt eine Seltenheit. Eine Halbblutnichte Mondors aus einem fernen Dorf, die in die unterste Tempelstufe eingeweiht wird – niemand wird Verdacht schöpfen und wenn ihr geschickt seid, wird euch auch niemand wiedererkennen.“

Racyl dachte kurz nach. „Ja, das könnte funktionieren. Nur... was wird Mondor dazu sagen? Ich kenne ihn so gut wie nicht, er ist mir früher immer nur flüchtig begegnet.“

„Mondor ist nicht das Problem.“ sagte Akosh. „Für ihn ist das sicher eine willkommene Abwechslung. Aber du solltest dich von Semon-Sey und Vas-Zarac eine Weile fernhalten. Morgen werde ich mich mit Wandan treffen und ihm unseren Vorschlag unterbreiten, dann werde ich hoffentlich auch erfahren, wann er und Mondor aus Semon-Sey aufbrechen wollen.“

„Und wir?“ fragte Sara. „Wann ziehen wir los? Die Cas und Lennys haben schon mehr als einen Tag Vorsprung und sie reiten auf Mondpferden. Wir werden sie kaum noch einholen können.“

„Das können wir ohnehin nicht.“ antwortete Akosh. „Sie kennen Wege, die schneller aus Cycalas hinausführen, als wir uns träumen lassen. Sicher haben sie jetzt schon fast die Berge erreicht. Nein, wir werden ihnen nicht auf dem Fuß folgen. Frühestens morgen abend, vielleicht auch erst tags darauf, werden wir uns aufmachen. Wir nehmen die Route über das Nadeltor. Schon allein deshalb müssen wir abwarten, sonst laufen wir den erstbesten Sichelkriegern in die Arme. Wenn wir erst einmal in Gahl sind, werde ich mich vorläufig als Mittelländer ausgeben, dann können wir uns Pferde nehmen. Und erst dann nehmen wir Lennys' Spur auf. Das wird nicht leicht, aber ich habe so meine Tricks.“

„Das heißt also, wir werden zu Fuß bis Gahl gehen? Dafür brauchen wir viele Tage!“

„Nein, natürlich werden wir nicht zu Fuß gehen.“ erwiderte Akosh geduldig. „Du hast recht, das würde zu lange dauern. Ich kenne einen Silberhändler, der mir noch einen Gefallen schuldet und der uns auf seinem Marktwagen mitnehmen wird, wenn er nach Askaryan fährt. Dort wiederum werden wir uns ein paar Esel nehmen und auf ihnen bis zum Nadeltor reiten. Wir lassen sie dort zurück, sie werden den Weg allein finden. Es sind kluge Tiere, die schon öfter auf diese Art in Anspruch genommen wurden. Alles in allem können wir nach drei bis vier Tagen in Gahl sein, wenn wir auch nachts reisen. Und das müssen wir. Im Wagen können du und Menrir schlafen und notfalls auch auf den Eseln. Es wird mühsam, anstrengend und sehr unbequem, aber das ist nicht zu ändern.“

„Dann sollten wir doch erst recht keine Zeit mehr verlieren!“

Menrir räusperte sich.

„Nicht so hitzig, liebe Sara.“ schaltete er sich ein. „Sowohl Akosh als auch ich haben noch einige Geschäfte zu erledigen, bevor wir von hier verschwinden. Er hat recht, wir können nicht so schnell reisen wie die Cas, aber trotzdem werden wir sie noch rechtzeitig erreichen. Sie wählen nicht den direkten Weg bis nach Log-Stadt und werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, im Mittelland und im Südreich ...sagen wir einmal, aufzuräumen. Vergiss nicht, dass wir vorsichtig sein müssen. Niemand sollte so schnell erfahren, dass wir Cycalas verlassen haben. Wir müssen uns vor Sichelkriegern und Säbelkämpfern in acht nehmen. Lennys hat ihre Augen überall.“

„Sie würde uns ja wohl kaum aufhalten!“

„Da wäre ich mir nicht so sicher.“ sagte Akosh mit fester Stimme. „Aber genug geredet. Mo und Racyl, ihr werdet am besten so schnell wie möglich Kontakt zu Mondor und Wandan aufnehmen. Mo, du kannst das übernehmen, während Racyl vorerst hierbleibt und ihr euch geeinigt habt, wann ihr aus Semon-Sey verschwindet. Und ihr beide, Oras und Haya, macht euch heute noch zu Imra auf. Es gibt keinen Grund, länger zu warten – im Gegenteil. Wir sollten möglichst schnell die Flucht nach vorn ergreifen. Mo, ich bitte dich, auch Sara noch ein oder zwei Tage hier wohnen zu lassen, auch wenn du nicht mehr da bist. Hier wird sie vorerst niemand suchen. Ich muss in mein Quartier in der Stadt zurück und noch einiges regeln. Ähnliches gilt für Menrir.“

Mo nickte, doch Sara bewies erneut, dass stummer Gehorsam zu den Eigenschaften gehörte, die sie gerade abzulegen gedachte.

„Ich soll hierbleiben? Und dann 'vergesst' ihr vermutlich mich abzuholen? Racyl und ich sind doch für euch nur Ballast, wollt ihr uns deshalb hier unter Verschluss halten?“

„Nein, das wollen wir nicht.“ seufzte Akosh und musste sich beherrschen, um nicht gereizt zu klingen. „Aber ihr beide seid einfach zu auffällig. Dich, Sara, kennt inzwischen fast jeder in Semon-Sey. Und wenn Racyl ebenfalls plötzlich wieder auftaucht, dauert es nur Stunden, bis Imra, Talmir und letztendlich auch Lennys davon erfahren. Und das wollt ihr beide genauso wenig wie ich. Wir werden euch nicht hierlassen. Mo wird mit Racyl in Kontakt bleiben und sie wissen lassen, wann und wo sie zu ihm und Mondor und Wandan stoßen kann. Und dich holen Menrir und ich ab, sobald wir alles erledigt haben und abreisebereit sind. Wenn ich es schaffe, lasse ich dir vorher eine Nachricht zukommen. In spätestens zwei Tagen sind wir hier weg, aber das schaffen wir nur, wenn du endlich aufhörst, an meinen Worten zu zweifeln.“

„Dazu habe ich ja wohl Grund genug...“ sagte Sara so leise, dass nur Racyl, die neben ihr saß, es hören konnte.

Natürlich kannten die Cas den Ostbogen, aber keiner von ihnen mochte diese Route. Der Hauptgrund, warum die Wahl auf diesen Weg gefallen war, war die Tatsache, dass die meisten sichelländischen Krieger sich für den Westen entschieden hatten. Hier war es also weit weniger schwierig, ungesehen über die Berge zu kommen. Und genau das war ja ihr Ziel: Niemanden wissen zu lassen, wo sie sich gerade genau aufhielten.

Es war nicht verwunderlich, dass sie dennoch regelmäßig den Schutz von Felswänden, Baumgruppen und anderen Verstecken aufsuchen mussten, denn angesichts der gewaltigen Streitmacht des Sichellandes war das Kriegeraufkommen selbst in dieser verlassenen Region immer noch imposant. Sham-Yu schüttelte immer wieder den Kopf, wenn Horem und Karuu meldeten, dass erneut bewaffnete Cycala gesichtet worden waren.

Als sie sich dann gerade noch rechtzeitig mit ihren Pferden in einer uneinsehbaren Senke verschanzten, wurde es ihm zu bunt.

„Wie sollen wir denn da rüber kommen?“ fragte er, kaum dass die Kriegsbrüder weitergezogen waren. „Über die Berge? Hier wimmelt es von unseren eigenen Leuten. Ich verstehe nicht, warum wir uns nicht einfach zeigen und mit ihnen den Ostbogen durchqueren. Sie werden uns doch sowieso sehen!“

„Halt den Mund!“ fuhr Rahor ihn an. „Warum wir uns verbergen? Aus jedem, der von unserem Aufenthaltsort weiß, könnte genau diese Information durch Folter von den Hantua herausgepresst werden! Außerdem hätten wir bald ein Gefolge von mehreren hundert - wenn nicht tausend Mann! So gewinnen wir keinen Krieg! Also hör auf zu nörgeln, Sham! Niemand hat gesagt, dass es einfach werden würde, aber....“

„Aber du bist ein Cas, wie alle hier.“ unterbrach Lennys Rahor. „Du hast die Fähigkeit, für die Blicke anderer unauffindbar zu bleiben. Und es ist möglich. Du wirst es sehen.“

Damit war die Diskussion beendet und Sham verbeugte sich ergeben. Er wusste ja, dass Lennys und Rahor recht hatten. Nur wie so oft war auch diesmal sein Temperament mit ihm durchgegangen. Er war dünnhäutig geworden in den letzten Tagen. Nicht, wegen des Krieges, sondern weil er sich Sorgen machte. Um seine Herrin, die mit den Gedanken oft woanders war. Um seine Gefährten, die von Log in Manatara gefangen gehalten wurden. Und um Sara, die plötzlich weggelaufen war. Es fiel ihm schwer, jetzt geduldig und besonnen zu handeln und doch musste er es. Selbst sein bester Freund Rahor war nicht mehr so beherrscht wie sonst, das hatte er ja gerade am eigenen Leib erfahren. Früher, da wäre es der Oberste Cas gewesen, der ihn, den Jüngsten in der Runde, die Ruhe und Überzeugung vermittelt hätte, an der es ihm jetzt fehlte. Aber der Krieg veränderte die Menschen, auch die Cycala. Sham-Yu spürte, dass er nicht immer auf den großen Freund hoffen konnte, sondern dass er selbst lernen musste, mit seinen Problemen umzugehen.

Er sah nach Süden. Vor ihm türmten sich die Berge Valahirs auf. Noch befanden sie sich in einer Felslandschaft, in der sie die Pferde gut antreiben konnten, denn Hindernisse waren weithin sichtbar. Bald schon würde sich das ändern. Vielleicht noch eine Stunde, dann mussten sie absteigen und die Pferde an den Zügeln über unwegsame Stellen und schmale Grate führen.

Die Schwierigkeit an dieser Strecke lag nicht in den steilen Aufstiegen oder engen Pässen, sondern in den endlosen Abgründen, die links und rechts zu klaffen pflegten. Auch hier gab es kaum Lagerplätze und noch weniger Unterschlupf vor neugierigen Blicken, sie konnten immer nur weiterwandern, bis sie schließlich den Bogen erreichten – einen kurzen, breiten Tunnel, der geradewegs durch ein Felsmassiv auf ein Hochplateau führte. Von dort aus mussten sie einen schmalen Pfad hinabsteigen – mit den Pferden beinahe unmöglich zu bewältigen. Wie die Erfahrung zeigte, aber eben nur beinahe. Und dann dauerte es nicht mehr lang und der für die Sichelländer unangenehmste Abschnitt wartete auf sie. Und mit ihm die Ursache dafür, dass keiner sich darum riss, den Ostbogen zu durchqueren.

Noch war dieser Ort weit entfernt. Es war Abend geworden, aber in dieser Nacht würde der Vollmond genug Licht spenden, dass sie auch die gefährlichen Stellen gut passieren konnten. Vor morgen Mittag würden sie aber den Bogen kaum durchqueren.

Als es schließlich dunkel wurde, musste Sham-Yu zugeben, dass ihr Unterfangen vielleicht doch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Kaum jemand wagte es, bei Nacht durch diese Gegend zu reisen – schon gar nicht mit zehn Pferden im Schlepptau. Die berittenen Sichelländer waren allesamt nach Westen gezogen, die südlichsten Fußtruppen aus Askaryan aber waren noch nicht weiter als bis zum Fuß der Berge vorgedrungen. Und diese hatten sie längst überholt. Sie waren wieder allein im Gebirge.

Von Osten her kamen Horem und Karuu zwischen einigen Felsen hervor. Ihre Gesichter waren ernst und sie machten gar nicht erst Anstalten, Rahor Bericht zu erstatten, sondern hielten direkt auf eine nicht weit entfernte Wasserstelle zu, wo Lennys auf sie wartete. Schnell beeilten sich die anderen Cas, ihnen nachzukommen, niemand wollte ihre Meldung verpassen.

„...größere Gruppe.“ hörte Sham-Yu Horem gerade sagen, als er zu ihnen stieß. „Ich denke, mindestens zwanzig. Und eine ebenso große wohl noch einige Tage früher. Die Spuren sind nicht mehr frisch, aber unverkennbar.“

„Das ist merkwürdig. Warum sollten die Hantua die Strapazen der Berge auf sich nehmen? Von Zrundir aus ist der einfachste Weg nach Süden der durch die Valaschlucht. Sie haben gar keinen Grund, den Ostbogen zu wählen.“

„Was war das eben?“ fragte Rahor, der ebenfalls die ersten Sätze versäumt hatte. „Hantua? Hier? Seid ihr sicher?“

Horem nickte.

„Ja, aber es ist, wie gesagt, schon drei oder vier Tage her. Neuere Spuren konnten wir nicht entdecken. Es scheint, als hätte Zrundir mehrere Verbände über Valahir geschickt. Die Hantua sind nicht so gut zu Fuß und das Gelände hier liegt ihnen nicht. Sie kommen sicher nur langsam voran. Wir müssen damit rechnen, dass wir ihnen spätestens in den Sümpfen begegnen.“

Die Singenden Sümpfe.

Sham-Yu dachte nicht gerne daran. Eben jene Gegend, die viele Cycala dazu brachte, sich lieber an den Westbogen zu halten. Niemand war gerne dort. Er hatte von dem Gerücht gehört, dass der Schmied Akosh seine Sichel und seinen Kelch dort versteckt hatte, als die lange Zeit des Durstes eingeläutet worden war. Er hatte damals, wie auch Lennys und alle anderen Batí, dem Bluttrinken abgeschworen, um zu verhindern, dass der Krieg aus purem Begehren weitergeführt wurde. Doch anders als die Shaj hatte er damals auch dem Kampf entsagt und die beiden heiligen Gegenstände dort verborgen, wo er aus freien Stücken wohl niemals hingehen würde. Ähnliches hatte Lennys mit ihrem Kelch getan. Er war in einer Höhle nahe des Nebeltempels gelegen. Diese Geschichte wiederum kannten nur wenige. Damals, als die Kämpfe schon vorüber gewesen und sich noch zahlreiche Sichelländer im Süden verborgen hatten – verletzt und nicht mehr fähig, die weite Reise in ihre Heimat anzutreten - , damals als Urgul von Angengund, den man jetzt als Menrir von Ontur kannte, sich um das cycalanische Volk verdient gemacht hatte, weil er viele von ihnen beherbergt, versorgt und gepflegt hatte – damals war Lennys nicht mit ihnen gekommen. Sie war weit gegangen, von Gahl durch die Singenden Sümpfe, wo Akosh zurückblieb, bis hin zum Nebeltempel im Osten. Niemand wusste, warum. Und dort hatte sie dann den Kelch versteckt, in einer Höhle. Man sagte, sie wäre nicht allein gewesen, die Hantua hätten sie auch dort noch verfolgt und sie habe sie alle geschlagen. Ein letztes Mal habe sie das Blut getrunken und dann, mit noch feuchten Lippen, den silbernen Kelch von sich gegeben. Dem Tode näher als dem Leben habe sie sich dann wieder aufgemacht, quer durchs Gebirge bis hin zum Ostbogen – einen Weg, von dem niemand je zuvor gewusst hatte, dass es ihn gab – und schließlich hatte sie Askaryan erreicht. Es war der Moment gewesen, in dem niemand mehr daran gezweifelt hatte, dass sie eine der größten Herrscherinnen aller Zeiten sein würde.

Doch dann kehrten Sham-Yus Gedanken zurück zu dem, was ihn an die alte Geschichte erinnert hatte.

Die Sümpfe.

Morast. Stickige, dunstige Luft, die ihm Sommer so heiß war, dass einem der Atem stockte und die ihm Winter zu klirren schien. Aber selbst bei eisigen Temperaturen gefror der Boden nicht, denn die Wärme, die das verrottende Unterholz und die fauligen Pflanzen absonderten, reichte aus, um weiterhin unvorsichtige Wanderer versinken zu lassen. Es roch nach Dung und Moder, allerlei Getier bevölkerte Luft und Erde, krabbelte in die Kleidung und plagte einen jeden, der dumm genug war, sich dort hindurchzuwagen. Zugegeben, zu dieser kalten Jahreszeit war es weniger unangenehm, die Sümpfe zu besuchen als in der Sommerhitze, ein Vergnügen blieb es aber dennoch nicht. Er hoffte, dass sie dort nicht länger als unbedingt nötig bleiben würden. Die Aussicht, ausgerechnet dort der ersten Hantua-Abordnung zu begegnen war alles andere als angenehm, denn dadurch würde sich ihre Reise durch die unbeliebte Gegend nur noch weiter verzögern.

Die meisten Cas hingen wie Sham-Yu ihren eigenen, gar nicht so unterschiedlichen Gedanken nach. Sie sprachen wenig miteinander, und wenn sie es taten, dann redeten sie über unverfängliche Themen wie das Wetter, den Weg oder die spärlichen Mahlzeiten, die sie sich dann und wann gönnten. Eine längere Pause war allzu bald noch nicht in Sicht. Die Mondpferde brauchten wenig Schlaf, nur Wasser musste man ihnen regelmäßig bieten.

Sham-Yu schätzte, dass der eigentliche Ostbogen noch ein paar Stunden entfernt war, fünf oder sechs vielleicht. Es war lange her, dass er ihn durchschritten hatte. Damals war er mit Faragyl unterwegs gewesen, um sich ein Bild vom Treiben an der Grenze zu Zrundir zu machen. Nur dieses eine Mal hatte der junge Cas jenes Reich zu Gesicht bekommen, das seit Menschengedenken in Feindschaft zu Cycalas lag. Aber viel hatte er nicht gesehen. Karges, ödes Land, soweit das Auge reichte. Einige Felsformationen und struppiges Gras, das nur büschelweise hier und da aus der trockenen Erde wucherte. Sehr groß konnte der Unterschied zur „Wüste ins Nichts“ wohl nicht sein. Er und Faragyl waren an einem breiten Graben entlanggegangen, der noch vor der eigentlichen Grenze verlief und hatten hinübergesehen, in das sanft abfallende Zrundir. Niemand hatte sich blicken lassen, kein Hantua, kein Sichelländer und auch sonst kein Herumtreiber. Sham erinnerte sich, dass er gern weiter vorgedrungen wäre, doch Faragyl hatte ihn energisch zurückgehalten:

„Kein Sichelländer hat dort etwas verloren. Und vermutlich würdest du gar nicht zurückfinden. Das große Lager der Hantua ist weiter südlich, hier oben gibt es nur Steine, Geröll, verdorrte Erde und Sand.“

Inzwischen war Sham-Yu ruhiger und erfahrener geworden, ihn zog es nicht mehr nach Zrundir, aber immer noch genauso in den Kampf. Wie viel hatte er schon gehört über den Großen Krieg und seine Schlachten. Und wie oft hatte er sich vorgestellt, selbst auf einem prächtigen Mondpferd in den Süden zu reiten, die blitzende Sichelklinge an seiner Seite, um damit jedem Feind das Leben auszuhauchen.

Bislang war die Realität von seiner Vorstellung weit entfernt. Zugegeben, der „Anbruch der Nacht“, der große Auszug aus Semon-Sey, hatte seinem Geschmack voll und ganz entsprochen. Nun aber kämpfte er sich durch unwegsames Gelände, führte sein Pferd am Zügel hinter sich her und fragte sich allmählich, wann er denn endlich zur Waffe greifen durfte.

Der Durst tobte in ihm. Es war lange her, dass er ihn hatte stillen dürfen. Im Gegensatz zu vielen anderen Kriegern waren die Cas in der glücklichen Lage, hin und wieder gegen die Missgestalten aus Zrundir angehen zu dürfen, aber gerade in den letzten Monaten war es immer seltener dazu gekommen. Die Ruhe vor dem Sturm.

Lennys hatte nichts dagegen, wenn die Cas solche Ausflüge unternahmen. Im Gegenteil, sie war sogar der Meinung, dass dadurch ihr Kampfeswille und ihr Verlangen nur noch mehr angeheizt wurden. Vielleicht, weil sie aus Erfahrung sprach. Sie verschwand selbst oft für einige Tage ins Grenzgebiet, um der Begierde nachzugeben. Meistens wurde sie dann von Rahor begleitet, doch es kam auch vor, dass sie allein fortging. Dass diese Abwesenheit Wochen dauerte und die Reise sie dabei bis über das Gebirge führte, hatte im Sommer jedoch für gewaltige Unruhe unter den Erwählten gesorgt. Besonders Rahor war am Boden zerstört gewesen. Zum einen, weil sie ihn nicht mitgenommen hatte, und zum zweiten, weil er erst nach ihrer Abreise von ihrem eigentlichen Ziel erfahren hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er immer geglaubt, ihr Vertrauen zu genießen. Wie sehr er doch irrte.

Sham beneidete seinen besten Freund nicht um dessen hohen Rang. Auch jetzt nicht, da der Oberste Cas wieder Mühe hatte, die Verbindung zwischen Lennys und den anderen nicht abreißen zu lassen. Insgeheim machte Rahor sich Sorgen, das konnte er vor Sham-Yu nicht verbergen. Er spürte, dass er nicht in alle Gedanken Lennys' eingeweiht war und er fürchtete, sie könne ihn und die anderen Cas irgendwann vor vollendete Tatsachen stellen oder in eine Gefahr führen, die sie selbst nicht als solche sah.

Mit einer energischen gedanklichen Zurechtweisung schüttelte Sham-Yu seine Bedenken ab. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, zu zweifeln. Gerade jetzt musste er Mut und Stärke beweisen. Wie alle, die sie hier versammelt waren. Fast vergessener Stolz flammte wieder in ihm auf. Er war einer der Neun. Und sie zogen aus, den Feind zu zerstören.

Die Wachposten an den Toren Vas-Zaracs runzelten die Stirn, als der alte Mann auf sie zuschlurfte. Sie kannten sein Gesicht, konnten es aber nicht auf Anhieb einem Namen zuordnen. Zudem war es schon sehr spät, und auch wenn gerade Semon-Sey, die Stadt der Krieger, des Nachts mit ebenso viel Leben aufwartete, wie am Tage, war es doch eher ungewöhnlich, dass Fremde jetzt noch Zutritt zur Burg forderten.

Nun trat der Alte ins Fackellicht. Er sah müde aus, aber in seinem Blick lag nichts Unterwürfiges. Anscheinend diente er einem hohen Herrn und war es gewohnt, strengen Soldaten gegenüberzustehen.

„Ich bin Mo, Erster Diener aus dem Hause Balmans.“ verkündete er mit fester Stimme. „Und ich bringe eine wichtige Nachricht an die Herren Mondor und Wandan.“

Die Wachen seufzten. Mo, der Diener. Ja richtig, das war er. Sie erinnerten sich wieder an ihn und auch daran, dass er bei seinem letzten Besuch nicht eher geruht hatte, als bis man ihn eingelassen hatte. Er konnte sehr anstrengend und ungemütlich werden, wenn er seinen Willen nicht bekam.

„Die Herren Mondor und Wandan also?“ erwiderte der eine Soldat in einem Tonfall, der keine große Hochachtung durchklingen ließ. „Da könnte ja jeder kommen. Aber du kannst uns dennoch deine Botschaft berichten, wir werden sie dann zu gegebener Zeit übermitteln.“

„Was für Narren...“ murmelte Mo.

„Wie bitte?“ Die Wachen horchten auf.

„Ich sagte: Ich kann nicht warten.“ antwortete Mo laut und deutlich. „Und meine Nachricht ist dringend. Meldet den hohen Herren, dass ich sie zu sprechen wünsche. Ich komme, um ihnen einen großen Dienst zu erweisen. Wenn ihr mich nicht zu ihnen durchlasst, werde ich mich an den Shaj der Erde wenden, der derzeit ebenfalls in diesem Hause wohnt. Als einem hohen Vertreter seiner Säule und zugleich Vertrautem eines Cas steht mir das Recht zu, in Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden und der Sicherheit unseres Landes dienen, bei ihm vorstellig zu werden.“

Die Wachsoldaten hatten keine Lust, sich länger mit einem vermeintlichen Wichtigtuer herumzuärgern. Gelangweilt winkten sie einen weiteren Säbelträger herbei, der gerade zur Ablösung nahte.

„Das ist Mo aus Balmans Haus. Geh zu Wandan und frag ihn, ob er ihn empfängt. Oder zu Mondor. Wen auch immer du zuerst ausfindig machen kannst. Und wenn du keinen von beiden antriffst oder sie nicht wollen, hat der gute Mann hier eben Pech gehabt.“

Der dritte Wachmann zuckte die Achseln und schlenderte gemächlich davon. Mo musste sich sehr zusammenreißen, um seine Ungeduld nicht herauszubrüllen, aber er wusste, dass das für die beiden arroganten Krieger eine Genugtuung gewesen wäre. Also tat er, als störe ihn diese Gelassenheit nicht sonderlich, lehnte sich entspannt an die Mauer und betrachtete die Sterne.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch irgendwann kam der Fortgeschickte tatsächlich zurück – und zwar in einem sehr viel zügigerem Tempo.

„Sie erwarten ihn...“ keuchte er schon von Weitem. „Beide. In Wandans Turm. Wir sollen ihn auf dem schnellsten Weg zu ihnen bringen.“

Diese Antwort passte den beiden Soldaten nicht gerade, doch sie wagten nun keinerlei Verzögerung mehr und nickten Mo zu, der sich sofort an die Fersen des armen Wächters heftete, der nun erneut den Weg durch das Burggelände auf sich nehmen musste.

Wandan und Mondor waren nicht sonderlich von der Ankündigung des späten Besuchers überrascht gewesen. Schon tags zuvor hatte Akosh ihnen mitgeteilt, dass Mo bald zu ihnen stoßen würde. Wandan hatte sich darüber gefreut, er kannte den alten Diener noch von früheren Gelagen bei Balman. Und Mondor, der Mo nur ein einziges Mal flüchtig begegnet war, schien zumindest keine offenkundige Abneigung gegen ihn zu hegen. Bedächtig lehnten sich die beiden alten Freunde in ihren Sesseln zurück und genossen heißen Tee, als ihr Gast eintrat.

„Wie schön dich zu sehen...“ lächelte Wandan. „Bitte setz dich doch. Tee?“

„Danke, gern.“ Mo verneigte sich knapp vor beiden und ließ sich dann auf einem Polster nieder.

„Wir wissen natürlich, warum du hier bist. Und wir freuen uns, dass du uns unterstützen willst. Ich hoffe, du weißt, dass unsere Suche uns sehr bald von Vas-Zarac weg führen wird.“

„Natürlich. Allerdings... werde ich nicht der einzige sein, der sich euch anschließt.“

Und Mo erzählte ihnen von der plötzlichen Rückkehr Racyls, von ihrer innigen Freundschaft zu Sara und von ihrem Wunsch, diese Gruppe zu begleiten.

Wandan stieß einen Pfiff aus.

„Racyl. Damit hätte ich im Leben nie gerechnet. Was sagst du dazu?“

Mondor machte ein verschlossenes Gesicht.

„Ich wusste es. Aber ich konnte es nicht sagen. Auch dir nicht, mein Freund. Nur mit Sara habe ich kürzlich darüber gesprochen.“

Der alte Cas nahm dem Priester seine Verschwiegenheit nicht übel.

„Es ist wohl unmöglich, vor dir Geheimnisse zu haben.“ grinste er. „Und ich kann mir schon denken, dass du deine eigene Meinung zu Novizen hast, die aus dem Zera-Tempel austreten. Trotzdem könnte sie uns eine Hilfe sein.“

„Eine Hilfe wohl kaum. Aber vielleicht schadet sie auch nicht. Und es ist wichtig, sie aus Semon-Sey wegzubringen. Nicht auszudenken, wenn sie jemand erkennt. Es gäbe wirklich keinen ungünstigeren Zeitpunkt.“

Wandan machte eine bedauernde Handbewegung.

„Weißt du, Mo, wir mögen Racyl. Wirklich. Sie ist ein liebes Ding. Aber die Erinnerungen an sie sind verblasst. Sie sollten nicht gerade jetzt in der ganzen Stadt wieder lebendig werden. Zumal Lennys gar nicht hier ist.“

„Wie würde die Shaj denn reagieren?“ fragte Mo gerade heraus.

„Gar nicht.“ sagte Mondor schlicht. „Für sie existiert Racyl nicht mehr. Nach außen hin jedenfalls. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, in welcher Situation Lennys sich befindet. Sie ist in den Krieg gezogen und lässt ein Land zurück, dessen beide verbleibende Herrscher nicht an einem Strang ziehen. Der eine versucht, die Batí zu schwächen, der andere ist noch zu unerfahren, um allen Widerständen zu trotzen. In den letzten Monaten hatte unsere Herrscherin zudem mehrere Konfrontationen mit dem Großen, die an ihren Kräften gezehrt haben. Und sie muss sich sämtlichen Erinnerungen an Satons Tod stellen. Ein bisschen viel auf einmal. Und ausgerechnet jetzt erscheint Racyl. Es könnte der letzte, winzige Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.“

„Aber dann ist unsere Mission doch umso wichtiger!“ bekräftigte Wandan. „Wir wollen ja dafür sorgen, dass sie diese Lasten nicht alleine tragen muss.“

„Noch ist nicht gesagt, dass wir Erfolg haben. Und selbst wenn... Selbst, wenn wir finden, wonach wir suchen, muss das noch lange nicht heißen, dass es unseren Vorstellungen entspricht. Der Blutsträger des Himmels... Es könnte eine gebrechliche alte Frau sein oder ein verwirrter Greis. Ein verwaister Säugling. Ein kranker Geist. Ein Ungläubiger. Oder im schlimmsten Fall ein Anhänger Talmirs.“

„Du erwartest wohl immer das Schlimmste?“

„Mitnichten, Wandan. Es ist gut, auf alles vorbereitet zu sein. Mo.... Diener aus dem Hause Balmans, ist dir klar, dass es eine lange und anstrengende Suche werden kann? Fühlst du dich dem gewachsen?“

„Gewiss. Es schmerzt mich, meinen Herrn zu hintergehen, doch ich bin mir sicher, wenn er von all dem hier wüsste, würde er mir beipflichten.“

„Auch, wenn er wüsste, dass Lennys unser Unterfangen nicht gutheißt?“

„Tut sie das? Nach dem, was ich gehört habe, dachte ich, sie glaubt nur nicht an unseren Erfolg.“

Mondor seufzte. „So einfach ist das leider nicht. Im Wesentlichen hast du recht, sie kann sich nicht vorstellen, wie unsere Suche ihr helfen könnte. Manchmal habe ich aber auch den Eindruck, sie möchte nicht, dass wir zu sehr in den alten Geschichten herumstochern. Aber andererseits hat sie es uns auch nicht verboten. Im Augenblick sollten wir nicht zu sehr über Lennys nachdenken, das lenkt uns nur ab. Wie ist es, Mo, können wir uns auf dich verlassen?“

„Voll und ganz.“

„Und auf Racyl? Sie ist ein gewisses Risiko. In jeglicher Hinsicht. Körperlich dürfte sie nicht allzu belastbar sein, seelisch schon gar nicht.“

Doch Wandan schüttelte den Kopf und nahm das Mädchen in Schutz.

„Anfangs dachten wir auch, Sara wäre nicht belastbar und wie sehr haben wir uns in diesem Punkt geirrt. Geben wir ihr doch eine Chance. Ich kenne Racyl. Sie nimmt sich vieles zu sehr zu Herzen, doch andererseits erträgt sie auch jegliches Leiden stillschweigend. Denk nur daran, wie es damals war. Sie hat sich nicht ein einziges Mal über Lennys' Verhalten beklagt, obwohl sie mehr als einen Grund gehabt hätte. Und selbst als Lennys sie hinausgeworfen hat und ihr sagte, sie wolle sie nie wiedersehen... Selbst dann hat Racyl nie ein schlechtes Wort über sie verloren oder gar herumgejammert. Glaub mir, Mondor, sie mag auf den ersten Blick zerbrechlich wirken, aber wir würden ihr Unrecht tun, wenn wir sie wie ein zartes Pflänzchen behandeln.“

„Möglich. Meinetwegen, nehmen wir sie also mit. Dann sollten wir aber keine Zeit verlieren, sondern so schnell wie möglich aufbrechen. Jeder Tag, den sie länger in dieser Gegend bleibt, ist ein unnötiges Risiko. Mich wundert allerdings, dass sie sich jetzt schon von Sara trennt. Oder umgekehrt. Ich hätte schwören können, dass die beiden vorerst zusammenbleiben wollen. Mo?“

Mo nickte. Auch wenn Mondor Racyl kaum kannte, so schätzte er doch die Situation vollkommen richtig ein. Und so berichtete er ihm von den Gesprächen mit Akosh und den beiden Mädchen.

Wandan konnte ein Lächeln nicht verbergen.

„Es wundert mich nicht, dass Sara es sich nicht nehmen lässt, in den Süden zu reisen. Nur ein Verrückter würde versuchen, sie jetzt noch daran zu hindern. Trotzdem ist sie vernünftig genug, einzusehen, dass Racyl im Sichelland besser aufgehoben ist. Es tut mir leid für dich, Mondor. Du hättest Sara sicher auch gern bei dir gehabt.“

„Ja und nein. Sie ist trotz allem eine Fremdländerin, schon allein deshalb wäre es nicht gegangen. Und so sehr ich sie auch mag, aber in unserer Angelegenheit wäre sie uns wohl nicht von Nutzen gewesen. Sie kennt unsere alten Legenden nicht und wenn sie bei den Alten auf den Dörfern nachfragt, erhält sie sicher keine Antwort. Nein, Sara weiß, wo ihr Platz ist. Sie wird von vielen unterschätzt, nicht zuletzt von Lennys selbst. Aber sie gewinnt langsam an Selbstvertrauen und das kann ihr nicht schaden. Ich beneide Akosh und Menrir, mit ihr in den Süden zu reisen, aber andererseits bin ich auch froh, dass mir diese Tortur erspart bleibt.“

Sie redeten noch eine ganze Weile über ihre bevorstehenden Unternehmungen, planten die Art und den Zeitpunkt ihres Aufbruchs und stellten schnell fest, dass sie sich auch zu dritt blendend verstanden. Mo kehrte in dieser Nacht nicht zum Haus seines Herrn zurück. In seinem Alter hatte der lange Marsch Spuren hinterlassen und er brauchte einige Stunden Schlaf und ein stärkendes Mahl, bevor er sich wieder auf den Weg machte.

Sara hatte sich in eines der vielen freien Schlafzimmer zurückgezogen, über die Balman verfügte. Sie hatte bewusst ein anderes gewählt als bei ihrem letzten Aufenthalt, eines, das jenem von damals nicht allzu ähnlich sah. Es war vollgestopft mit Schränkchen, Hockern und Kisten, anscheinend lagerten Balman und Mo hier überzählige und häufig auch schon recht verschlissene Möbelstücke. Das schmale Bett unter dem Fenster quietschte und knarrte, als sie sich auf den Rand setzte.

Seit Racyls Verkündung, sich Mo anschließen zu wollen, hatte Sara kaum geredet. Weder mit ihrer Freundin noch mit Oras, Haya, Akosh oder Menrir. Und auch für Mo hatte sie nur wenige Worte übrig gehabt, als sich dieser in die Stadt aufgemacht hatte, um Mondor und Wandan zu besuchen. Sie war nicht verärgert, auch nicht enttäuscht. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Racyl sich richtig entschieden hatte. Aber ihr war langsam auch in den Sinn gekommen, was diese Veränderung für sie bedeutete. Viele Tage gemeinsam mit dem alten Menrir und mit Akosh, dem sie immer noch nicht so recht traute. Tage, in denen sie denselben Weg gehen musste, den sie vor einigen Wochen mit Lennys bestritten hatte. Durch den Shanguin-Gürtel, durch Valahir, durchs Mittelland. Nur, dass diesmal nicht der Norden, sondern der Süden das Ziel war. Sie scheute die Anstrengungen nicht, die vor ihr lagen. Seit den schicksalsweisenden Tagen im Spätsommer, in denen sie Lennys zum ersten Mal begegnet war, hatte sich ihre Ausdauer merklich verbessert, sie war zäher geworden und inzwischen hatte sie sich sogar an das raue Klima in Cycalas gewöhnt. Weit mehr als ihre eigenen Kräfte machten ihr da Menrirs mögliche Schwächen Sorgen. Selbst wenn sie einen Großteil der Strecke auf Händlerwagen oder Eseln zurücklegen würden, bedeutete dies nicht, dass es eine erholsame Reise wurde. Im schlimmsten Fall konnten diese vermeintlichen Erleichterungen sie sogar viel Zeit kosten, wenn sie so Umwege in Kauf nehmen mussten und die Tiere Wasser und Ruhepausen benötigten. Wie viel einfacher wäre es doch, wenn... ja, wenn. Zuerst schob sie den Gedanken beiseite. Er war lächerlich und naiv, zugleich aber auch verwegen und leichtsinnig. Noch zudem undurchführbar. Unmöglich.

Unmöglich war ein Wort, das sie sich eigentlich selbst verboten hatte. Noch vor einem halben Jahre hätte sie auch die Tatsache, dass sie die höchste Dienerin einer Shaj des Sichellandes werden könnte, als unmöglich bezeichnet. Oder auch nur die Vorstellung, mit einem Säbel mehreren Hantua den Kopf abzuschlagen.

Lennys hatte ihr bewiesen, dass nichts unmöglich war, das manches aber einfach Opfer verlangte. Und meistens opferte man für die großen Ziele einen Teil seiner selbst.

Noch einmal kehrte der aberwitzige Gedanke zurück. Sie ließ ihn für einen Moment zu und hinterfragte ihn. Was genau war denn so unmöglich?

Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie genau dieselbe Situation schon einmal erlebt hatte. Natürlich war jetzt alles viel schwieriger, aber inzwischen hatte sie genug Erfahrung mit solchen Prüfungen. Und auch wenn die Hindernisse vor ihr höher waren als damals, so war sie heute doch auch weitaus besser dafür gerüstet. In diesem Falle sogar wörtlich.

Nicht unmöglich.

Sie traute Akosh nicht. Vielleicht zu Unrecht, aber noch gab es niemanden, der ihr das sicher beantworten konnte. Noch nicht einmal Menrir oder Oras. Und was, wenn auch sie... Was, wenn man auch ihnen nicht trauen konnte? Natürlich, sie waren keine Verräter, aber das, was sie planten, war doch nichts anderes. Sie hintergingen Lennys und die Cas. Weil sie eine andere Meinung vertraten und weil sie glaubten, im Recht zu sein.

Sie dachte an das, was Akosh ihr vor zwei Tagen in der Bibliothek gesagt hatte. Wenn er nicht log, dann zweifelte auch er. Das, was er erzählte, klang beängstigend. Und vieles sprach dafür, dass er recht hatte. Aber eben nicht alles. Zuerst hatte sie ihm geglaubt, dann wieder nicht. Und letzten Endes war sie zu ihm gegangen, weil sie selbst keine andere Möglichkeit sah, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Das Bild wurde klarer. Ihr Gedanke... nein, ihr Wunsch, der sich plötzlich offenbart hatte, war weder unmöglich, noch lächerlich. Vorausgesetzt, dass sie ein paar Fragen beantworten konnte, bevor sie ihm nachgab. Es gab nicht viele, die ihr dabei helfen konnten. Einer war weit weg, ritt mit Lennys gen Süden. Die anderen beiden saßen in Vas-Zarac und sprachen gerade jetzt mit Mo. Wie sollte sie zu ihnen gelangen, ohne erkannt zu werden?

Ein Geräusch ließ sie aufblicken. Es kam vom Fenster. Etwas Dunkles bewegte sich davor. Hastig, raschelnd. Kein Mensch. Sie schob den Vorhang weiter zur Seite. Als sie erkannte, was dort um ihre Aufmerksamkeit bettelte, dankte sie unwillkürlich dem großen Dämon. Wer sonst konnte dieses Wunder bewirkt haben?

„Lass ihn noch schlafen.“ murmelte Mondor. „Er hat einiges vor sich. Muss zurück zum Haus seines Herrn und dann das Mädchen zurück ins Generalsviertel bringen. Ein langer Weg und das gleich zweimal.“

Wandan nickte. „Er hat sich viel vorgenommen. Eine Stunde noch, dann muss er aufstehen. Sonst wird es zu spät. Sie müssen noch in der nächsten Nacht dort ankommen, sonst verlieren wir einen ganzen Tag.“

Beide saßen in einer Ecke des Turmzimmers. Sie hatten, anders als Mo, kein Auge zugetan und die ganze Nacht über über ihr Vorhaben gesprochen. Balmans alter Diener hatte sich auf den Sitzpolstern zusammengerollt und schnarchte leise.

„Es wird ein schöner Tag.“ meinte Mondor und ging zum Fenster. „Der Winter meint es in diesem Jahr gut mit uns, wer hätte das gedacht? In ein paar Wochen wird der Frühling Einzug halten.“

„Du bist reichlich optimistisch. Mag sein, dass das für das Südreich zutrifft, aber wir werden uns noch länger gedulden müssen. Und wenn wir erst einmal wieder in Yto te Vel sind, wirst du gar nicht mehr merken, dass die Jahreszeiten wechseln.“

„Ich schätze die Beständigkeit des Nordens durchaus.“ entgegnete der Batí-Priester. „Das weißt du ganz genau. Aber hier ist alles doch noch ein wenig... sagen wir einmal, lebendiger.“

Er öffnete das Fenster, um die frische Morgenluft zu genießen, doch kaum hatte er den ersten tiefen Atemzug getan, schoss etwas Schwarzes an ihm vorbei und ließ ihn erstarren. Das große dunkle Etwas sank unerwartet sanft hinab, direkt auf Wandans Knie.

„Sehr lebendig.“ bemerkte der alte Cas trocken. Er hatte sich schnell von seinem Schreck erholt. „Ein Silberrabe. Merkwürdig. Seit wann fliegen die durch offene Fenster?“

Auch Mondor fasste sich schnell wieder. „Weitaus merkwürdiger ist, dass das kein Zufall zu sein scheint.“ Er deutete auf eine winzige Papierrolle, die am Bein des Raben befestigt war. Stirnrunzelnd zog Wandan den Knoten des Bindfadens auf.

„Wer um alles in der Welt schickt uns eine Nachricht durch einen Silberraben? Hier, wo es doch genug Boten gibt?“

Er überflog die Notiz.

Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Es tat Sara leid, dass sie sich nicht von Oras, Haya, Menrir und vor allen Dingen Racyl verabschiedet hatte. Die kurze Nachricht, die sie auf ihrem Bett hinterlassen hatte, würde die anderen mit Sorge erfüllen, aber das war nicht zu ändern. Niemand hätte sie verstanden, wenn sie versucht hätte, es zu erklären. Auch Racyl nicht. Und vielleicht war die ganze Aufregung ja auch unnötig. Möglicherweise war sie schon morgen wieder zurück.

Sara war nicht übertrieben abergläubisch, ganz im Gegenteil. Doch es wäre dumm, dieses klare Zeichen des Schicksals nicht zu erkennen, das ihr einige Stunden zuvor geschickt worden war. Sie hätte Zaryc aus hunderten von Silberraben heraus erkannt. Doch sie hatte nie geglaubt, ihn jemals wieder zu sehen. Den Raben, der im Hause Oras' mit ihr Freundschaft geschlossen hatte.

Er war ihre Rettung. Ihre Antwort. Er würde Wandan und Mondor die Nachricht überbringen und ihr so erlauben, zu beiden Kontakt aufzunehmen, ohne dass sie selbst die Festung noch einmal betreten musste. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie sich auf den Vogel verlassen konnte. Vor langer Zeit hatte Oras ihr einmal erklärt, dass Silberraben ganz besondere Tiere waren. Sie verstanden die Menschen, wenn sie wollten, aber meist hielten sie sich von ihnen fern. Besonders von Fremdländern. Umso ungewöhnlicher war es gewesen, dass dieser Rabe hier sich ausgerechnet Sara als eine Art Vertraute auserwählt hatte.

'Eines Tages wirst du dankbar für diese Freundschaft sein.' hatte Oras gesagt. Damals hatte Sara gelacht.

Jetzt lachte sie nicht mehr.

Immer wieder sah sie sich um. Sie war keine Cycala, es wäre für jeden ein Leichtes gewesen, ihr unbemerkt zu folgen. Aber selbst wenn – was tat sie denn schon? Sie wanderte durchs Land südlich Semon-Seys. Entlang des Flusses, der irgendwo ins Meer mündete. Bald würde sie an die Stelle kommen, an der das Volk Abschied von Makk-Ura genommen hatte. Sie konnte sich noch an den schmalen Steg erinnern, von dem aus die Barken mit dem Leichnam abgelegt hatten, um ihn zur Stadt der Toten im Westen zu bringen. Jetzt gab es dort keine Barken, sondern nur ein einfaches Ruderboot, mit dem ein Fährmann jene übersetzte, die es besonders eilig hatten. Als sie mit Lennys auf dem Mondhengst nach Semon-Sey geritten war, hatten sie einen anderen Weg gewählt, der über eine Brücke geführt hatte.

Der Steg war verwaist. Nur das Boot schaukelte müde vor sich hin, eher nachlässig mit einem alten Seil an einer Holzleiter vertaut, die von den Planken hinabführte, um auch bei einem niedrigen Wasserstand das Einsteigen zu ermöglichen. Sie hielt nach dem Fährmann Ausschau, aber niemand war zu sehen. Vielleicht war es noch zu früh, die Sonne war noch nicht lange aufgegangen. Vermutlich erhielt Wandan gerade jetzt die Botschaft von Zaryc.

„Junges Fräulein, wünscht ihr übergesetzt zu werden?“

Erschrocken fuhr Sara herum. Der Mann, der sich ihr lautlos von hinten genähert hatte, war ihr völlig fremd. Und es konnte auch nicht der Fährmann sein, der immer als alt, hässlich und mürrisch beschrieben wurde. Genaugenommen war es ein starkes Stück, dass er sie „junges Fräulein“ nannte, denn sicher war er noch nicht einmal so alt wie Sara. Er mochte vielleicht achtzehn Sommer zählen. Sein schulterlanges, dunkelbraunes Haar war von wilden Locken durchsetzt und der Ansatz eines Bartes verlieh seinem Kinn einen rebellischen Ausdruck. Er war nicht direkt hübsch, aber das hatte er vor allem der auffällig krummen Hakennase zu verdanken.

„Nein....“ antwortete sie verwirrt. Der Junge musterte sie neugierig.

„Kommst nich' von hier, he? Ne Fremde? Biste ausgebüxt?“ Kaum hatte er gesehen, mit wem er es zu tun hatte, änderte sich sein übertrieben höflicher Tonfall merklich. Trotzdem war er nicht unfreundlich.

„Nein.“ Auch Sara hatte sich schnell wieder gefangen. „Und du bist nicht der Fährmann.“

„Nee, bin ich nich'. Das is' mein Onkel. Aber dem tun die Knochen weh vom Rudern. Deshalb übernehm ich ab und zu die Arbeit. Gibt gutes Geld zur Zeit. Sin' ja viele Gäste in Semon-Sey.“

„Immer noch?“

„Nee, die meisten sin' weg. Haben nur den Auszug der Krieger abgewartet. Und du? Hab dich schon mal irgendwo gesehn.“

„Du irrst dich.“

„Nee, tu ich nich. Gibt nich' viele Blonde hier. Und du bist ne Fremdländerin. Seh ich an deinen Augen. Wart mal...“ Er tat, als müsse er angestrengt nachdenken. „Bist du dieses Mädel aus dem Süden, diese Heilerin? Die bei der Shaj rausgeflogen is'?“

„Ich bin nicht 'rausgeflogen'.“ erwiderte Sara verärgert.

„Also bist du die?“

„Wieso willst du das wissen?“

Der Junge lachte amüsiert. „Das fragst grade du? Meinste nich', dass wir hier Fremde fragen dürfen, was sie hier wollen? Is' unser Land.“

Sara verdrehte die Augen.

„Ja, das weiß ich. Aber du bist ja nun wirklich kein typischer Sichelländer.“

„Bin ich wohl. Du kennst wohl nur die Batí, he? Gibt auch andere.“

„Ich bin nicht dumm, nur weil ich woanders geboren wurde.“

„Is' ja schon gut. Will mich ja nich' mit den Dienern der Shaj anlegen. Was machst'n hier?“ Er schwang sich auf die Brüstung, die an einer Seite des Stegs entlanglief und kaute auf dem Stängel irgendeiner Pflanze. Anscheinend fand er, dass eine Unterhaltung mit einer Fremdländerin seinen sonst eher langweiligen Arbeitstag etwas versüßen könnte.

„Ich wollte eigentlich mit deinem Onkel sprechen.“

„Mit dem Alten? Was willst'n von dem? Der redet nich' mit Fremden.“

Sara beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Vielleicht war nicht nur Zarycs Auftauchen, sondern auch die Anwesenheit dieses frechen Jünglings ein Wink des Schicksals.

„Ich wollte ihn fragen, ob er mich mit seinem Boot bis zur Grenze bringen kann. Und was das kostet.“

Der Junge fiel fast vom Geländer.

„Zur Grenze?“ Dann brach er in lautes Gelächter aus. „Du bist wohl nicht ganz gescheit! Der Fluss entspringt im Osten und mündet im Westen ins Meer. Und die Grenze is im Süden. Meine Güte, von wegen, du bist nich' dumm.“

Sie schluckte die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter.

„Ich weiß, wo die Grenze ist. Und wie der Fluss verläuft. Aber man kann doch bis zum Meer rudern und dann an der Küste entlang nach Süden.“

Jetzt lachte der Junge noch lauter. „Biste lebensmüde? Und außerdem... was soll das bringen? Da wäre ja sogar mein Onkel zu Fuß schneller – und der hat'n lahmes Bein!“

Enttäuscht schaute Sara zu Boden.

„Dauert es denn so lange?“

„Na sicher! Wenn nur einer rudert – und das bis zur Küste... das reicht schon. Aber dann noch nach Süden... ist doch ein riesen Umweg! Und wenn du da ankommst, was dann? Cycalas grenzt da nich' an den Shanguin-Gürtel, sondern ans Barbarenland! An Zrundir! Willste echt da hin?“

„An Zrundir?“

„Mensch, Mädel, noch nie ne Landkarte gesehen? Die Grenze macht 'n Knick nach Norden. Von hier aus kannste mit nem Boot den Shanguin-Gürtel gar nich erreichen.“

Doch dann wurde der Junge plötzlich ernst.

„In den Süden willste also? Und das wohl möglichst schnell, he? Wieso denn mit'm Boot? Ich denk, ihr Fremdländer habt Angst vor'm Wasser?“

Sara zuckte die Achseln. „Das spielt keine Rolle.“

„Naja...“ Er dachte nach. „Wenn überhaupt, müssteste an der Westküste lang. Das geht schneller, wenn du sie erst mal erreicht hast. Nich' hier über diesen Fluss, da kommste ja nach Osten. Aber es gibt noch'n kleineren, der direkt zur Westküste fließt, nich' weit von hier. Wenn du nen guten Fährmann hast, kannste da ein gutes Stück abschneiden. Aber bringt auch nich viel. Außer, du hast 'n richtiges Schiff. Dann kannste bis ins Mittelland fahren. So wie die Krieger damals.“

„Die Krieger?“ Sara horchte auf. „Du meinst... vor zwölf Jahren?“

„Genau! Die sin' auch mit Schiffen in den Süden gefahren. Bis zum Mittelland. Da sin' irgendwo so alte Ruinen....“

„Die Ruinen von Chaz-Nar!“

„Ja, kann sein. Weiß ich nich'. Jedenfalls ham die nich' lang gebraucht.“

„Doch, haben sie.“ Sara erinnerte sich an Gromuits Tagebuch. „Sechs Tage. Wegen des Gegenwinds.“

Verwundert hob der Junge die Brauen. „Woher weißt'n das?“ Dann schüttelte er den Kopf. „Ne, aber nich' der Shaj und so. Die waren schneller. Drei oder vier Tage vielleicht. Aber kannste vergessen.“

„Was kann ich vergessen?“

„Dass du das schaffst.“

„Warum nicht?“

Er seufzte ungeduldig. „Weil du halt nur'n Mädel bist. Hast kein Schiff. Keine Ruderer. Kein Geld.“

„Wie viel Geld brauche ich für das alles?“

„Mensch, Mädel, du hast nich' verstanden! Meinste, du könntest hier als Fremde irgendwo einfach 'n Schiff kaufen? Ich rede von 'nem Schiff! Mit Segeln und Ruderplätzen. Nich so n Boot hier oder ne Totenbarke. Ne, das kannste vergessen.“

„Aber es gibt doch auch Barken, mit denen man über das Meer fahren kann. Damals, als die Sichelländer von der Abendinsel....“

„Schschsch!!!!“ machte der Junge entsetzt und drehte sich um, als hätte er Angst jemand könne sie belauschen. „Red doch nich so 'n Unsinn. Davon spricht man hier nich'! Von der Insel und so. Halt bloß den Mund! Mensch, bist echt 'ne Dumme!“

Noch einmal biss sich Sara auf die Zunge. „Hör zu, ...wie heißt du eigentlich?“

Grinsend verschränkte der Junge die Arme.

„Meinen Namen willste? Was krieg ich dafür?“

„Nichts.“ antwortete Sara trocken. „Aber vielleicht kannst du mir helfen und ich wäre bereit, gut dafür zu zahlen. Nur... ich mache keine Geschäfte mit Leuten, deren Namen ich nicht kenne.“

„He he, Geschäfte willste machen? Glaub nich', dass du das bezahlen kannst, egal wasde willst. Aber kannst mich Yoso nennen. Oder Yos. Such's dir raus.“

„Also gut... Yos. Ich bin... Sara.“

„Dacht ich mir.“

„Yos, was ist nun mit diesen Barken?“

„Nix is damit.“ Er sprang von der Brüstung und deutete auf das Ruderboot. „Das is das einzige, wasde kriegen kannst. Die Dinger, von denen du redest, gehören der Shaj und den Cas. Die kriegste nich'.“

„Warum sind sie diesmal mit Pferden geritten?“

„Weiß ich doch nich'! Ich denk mal, weil Winter is'. Da is' mit'm Meer nicht zu spaßen. Außerdem hätte das ja wer sehen können. Dann hätten die Hantua ja gleich gewusst, dass sie bei den Ruinen ankommen. Ne, die woll'n nich' geseh'n werden, schätz ich.“

„Aber für mich wäre das doch kein Problem, oder? Ich bin ja keine Gefahr für die Hantua.“

„Mädel, du kapierst das nich', ne? Du kriegst keine Barke, für kein Geld der Welt. Und mit so 'nem Boot wie dem hier... ne, da haste keine Chance. Hat ja nich' mal 'n Segel. Kannst doch nich' allein um das ganze Sichelland rudern.“

„Ich kenne die Barken nicht. Haben die denn Segel?“

„Klar ham sie das. Aber nich' so große wie die Schiffe. Und zwei Paar Ruder. Aber man kann sie auch allein steuern, dauert halt länger. Trotzdem, schlag dir das ma' aus'm Kopf. Kaufen kannste se nich' und klauen... da biste gleich 'nen Kopf kürzer.“

„Aber man kann doch an ein anderes Boot Segel befestigen. Yos, es muss einfach eine Möglichkeit geben! Du ahnst nicht, wie wichtig das für mich ist!“

„Mensch, du gehst mir auf die Nerven. Klar kann man ein anderes Boot nehmen. Aber das wär'n teurer Spaß. Und außerdem findeste keinen, der mitkommt. Muss rudern können und sich mit Booten und dem Meer auskennen. Gibt da 'n paar heikle Stellen an der Küste. Aber man darf auch nich' zu weit davon weg, wenn man kein Schiff hat.“

„Du kennst dich aus, nicht wahr?“

Yos zog ungläubig die Brauen hoch.

„Nee nee, das vergiss ma' ganz schnell wieder. Bin doch nich' verrückt und schipper mit 'nem fremdländischen Mädel ins Mittelland. Nee, da musste dir 'nen anderen Dummen suchen.“

„Ich bezahle dich. Egal, wie hoch der Preis ist!“

„Du bist doch nur 'ne Dienerin. Woher willste denn so viel Silber nehmen? Mein Onkel, der hätte das vielleicht gemacht, der war schon immer nich' ganz normal. Aber der kann das nimmer, is' zu alt und kann sich kaum noch bewegen.“

„Ich könnte ihm vielleicht helfen. Ich bin Heilerin.“

Yos schlug sich gegen die Stirn.

„Wie dumm biste eigentlich? Den kannste net heilen, der is' halt alt. Der beißt bald ins Gras, wenn de mich fragst. Und dann muss ich schauen, wie ich klar komm. Kann mir so 'nen Unfug nich' leisten.“

„Bring mich zu deinem Onkel und ich verspreche dir, ich werde ihm helfen. Zumindest so, dass er keine Schmerzen mehr hat und sich besser fühlt. Ich weiß, dass ihr im Sichelland keine guten Heiler habt. Und die wenigen, die etwas davon verstehen, kann kaum jemand bezahlen. Ich behandle deinen Onkel und dafür bringst du mich zur Grenze.“

Zuerst wollte Yos sie auslachen, dann vehement widersprechen. Er tat beides nicht. Er mochte seinen Onkel sehr und es tat ihm leid, dass es dem alten Mann sogar eine Qual war, morgens aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. Und auch wenn es ihm widerstrebte, so musste er Sara doch rechtgeben. Im Sichelland war es mit der Heilkunst nicht weit her und wirksame Arzneien waren den Reichen vorbehalten.

„Ne, das geht nich. Wer soll sich denn hier um alles kümmern in der Zeit?“ sagte er schließlich, wenn auch nicht so überzeugt wie kurz zuvor.

„Dein Onkel, wenn es ihm wieder besser geht.“

„Der wirft mich raus, wenn ich ihm das erzähle!“

„Dann lass es darauf ankommen! Oder willst du, dass er stirbt? Geh zu ihm und erzähle ihm von meinem Vorschlag. Wenn er sich nicht von mir behandeln lassen will, dann nimmt er dir die Entscheidung ohnehin ab. Geh zu ihm. Ich warte hier.“

„Du bist echt verrückt. Das glaubt mir keiner!“

„Mir wäre es auch lieber, wenn du keinem davon erzählst.“

„Du willst mich doch veralbern, ne? Aber gut, warte hier. Ich sag dir, mein Onkel wird kommen und dir die Ohren lang ziehen! Und ich auch! Und wehe, du bist nich' mehr da, wenn ich zurückkomme! Dann setzt es was!“

Es gefiel Yos gar nicht, dass er Saras Vorschlag annehmen musste. Aber andererseits war dies vielleicht wirklich die einzige Möglichkeit, seinem Onkel zu helfen. Auch wenn er nicht daran glaubte, so musste er dem alten Herrn doch wenigstens davon erzählen.

Sara wusste nicht so recht, was sie von dem jungen Fährburschen halten sollte. Er erschien ihr ehrlich, aber auch etwas großspurig. Wahrscheinlich würde er nie wiederkommen. Oder noch schlimmer, mit einer Horde Säbelwächter im Schlepptau. Und die würden sie schneller nach Vas-Zarac zurückbringen, als sie sich vorstellen konnte. Ihr Wagemut und ihre Zuversicht, die sie beim Anblick Zarycs noch empfunden hatte, verflogen immer rascher. Vielleicht war es doch eine dumme Idee gewesen.

Sie setzte sich auf den Rand des Stegs und ließ die Beine baumeln. Ihre Stiefelsohlen berührten gerade so die Wasseroberfläche. Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Aus ihren zusammengesteckten Haaren hatten sich einzelne Strähnen gelöst und tanzten jetzt wild im Wind. Heute war es nicht besonders kalt. Der Tag erinnerte sie eher an den vergangenen Herbst als an die schneereichen Winter, von denen ihr so viel erzählt worden war. In diesem Jahr waren die Mächte wohl gnädiger gestimmt.

Sie dachte wieder an die Nachricht, die sie Zaryc ans Bein gebunden hatte. Wie Wandan und Mondor wohl darauf reagierten? Ob sie ihrer Bitte nachkamen? Die Stadtgrenze war nicht weit von hier und zumindest Wandan war immer noch recht gut zu Fuß. Wenn er sich gleich auf den Weg gemacht hatte, könnte er...

„Für meinen Geschmack hattest du in Vas-Zarac besseren Umgang als hier.“

Erschrocken rappelte Sara sich auf. Sie hatte Wandan nicht kommen hören. Doch nun stand er unverkennbar vor ihr, lächelnd und die Ruhe selbst. Er war allein.

„Wenn Mondor plötzlich in den Ländereien spazierengeht, hätte das zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.“ erklärte der alte Cas, noch bevor Sara fragen konnte. „Obwohl er natürlich neugierig ist. Wie ich auch. Ich muss schon sagen, eine Nachricht durch einen Silberraben überbringen zu lassen, ist zwar ein ungewöhnlicher Weg, aber er gefällt mir. Umso mehr hat mich aber der Inhalt beunruhigt.“ Er zog den Zettel hervor.

„Bevor ich vielleicht einen Fehler mache, möchte ich gern mit euch, Mondor und Wandan, sprechen. Ich warte in den Morgenstunden am Fährsteg am Fluss. Sara.“

„Ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich dachte mir schon, dass Mondor in der Burg bleibt.“ nickte Sara.

„Bevor wir weiterreden, habe ich aber ein paar Fragen an dich.“ sagte Wandan nun sehr viel ernster. „Zum einen möchte ich wissen, wie es dir geht. Du kannst dir denken, dass wir sehr gut darüber informiert sind, wo du dich derzeit aufhältst. Aber das erklärt nicht, warum du überhaupt weggelaufen bist. Das wäre meine zweite Frage. Und zum dritten... Was um alles in der Welt hattest du mit diesem Fährjungen zu reden? Ich sagte es bereits, er ist nicht unbedingt ein guter Umgang für dich. Er redet viel, versteht nur die Hälfte und spuckt große Töne.“

Saras Lippen wurden schmal. Sie wollte sich nicht mit Wandan streiten, aber in ihr hatte sich in den letzten Tagen zu viel angestaut, als dass sie seine Worte einfach so hinnehmen konnte.

„Zum ersten: Es geht mir hervorragend. Zum zweiten: Ich bin nicht weggelaufen, aber der Grund, warum ich gegangen bin, geht nur mich etwas an. Und zum dritten: Dasselbe gilt auch in Bezug auf die Menschen, mit denen ich mich unterhalte. Ich muss das niemandem erklären.“

Überrascht zuckte Wandan zusammen.

„So so, es geht also niemanden etwas an. Du bittest mich hierher, um mit mir zu sprechen, aber selbst willst du nichts sagen. Ist das im Mittelland so üblich unter Freunden?“

Doch Sara verschränkte zornig die Arme.

„Genauso üblich, wie es scheinbar manche Gebaren in Cycalas sind. Ich sage nur 'Akosh'.“

Wandan seufzte.

„Eine schwierige Sache, das gebe ich zu. Sara, ich will nicht mit dir streiten. Ich mag dich. Wir alle mögen dich. Und auch, wenn du in den letzten Tagen einen anderen Eindruck hattest, so glaube ich trotzdem, dass Lennys dich mag. Ich bin sogar davon überzeugt. Und ich mache mir Sorgen um dich und um deine Sicherheit. Es gefällt mir nicht, dass du mit Akosh und Menrir nach Süden gehen willst. Aber ich kann dich verstehen. Jetzt, wo Lennys nicht mehr hier ist, gibt es wohl nichts mehr, was dich im Sichelland hält. Ist das der Fehler, von dem du geschrieben hast?

„Nein, nicht ganz.“ Auch Sara beruhigte sich wieder und ihre Worte nahmen wieder einen wärmeren und freundlichen Ton an. „Und ich weiß noch nicht, ob ich dir sagen kann, was ich damit gemeint habe. Aber ich habe ein paar Fragen. An dich und eigentlich auch an Mondor. Vielleicht kannst du mir auch alle beantworten. Vielleicht willst du es auch gar nicht. Aber ich brauche diese Antworten, um eine Entscheidung zu treffen.“

„Das klingt sehr ernst.“ Er ließ seinen Blick über die Ebene streifen, durch die sich der Fluss schlängelte. „Findest du, dass hier ein geeigneter Ort ist? Wir hätten uns auch in Rahors Haus treffen können. Racyl kommt mit Mo auch dorthin, wir holen sie dort ab.“

„Nein, ich wollte nicht mehr in die Stadt. Und dieser Platz ist so gut wie jeder andere. Oder ist dir jemand gefolgt?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin ein ehemaliger Cas, Sara, vergiss das nicht. Ich finde es hier nur etwas ungemütlich. Aber ganz wie du meinst. Frage, was immer du möchtest. Aber ich kann dir nicht alle Antworten versprechen.“ Er setzte sich, ähnlich wie Sara kurz zuvor, an den Rand des Stegs, zog aber die kräftigen Beine hoch, um seine Stiefel trocken zu halten. Nach kurzem Zögern tat Sara es ihm gleich.

„Ich möchte wissen, was das Geheimnis der Drei ist.“ sagte sie dann ohne Umschweife.

Wandan starrte sie an. Es dauerte lange, bis er antwortete.

„Auf keine andere Frage muss ich dir die Antwort deutlicher vorenthalten.“ erwiderte er dann gepresst.

„Das weiß ich. Aber ich werde es dir leichter machen. Ich glaube, ich kenne euer Geheimnis. Und ich muss wissen, ob das, was ich denke, die Wahrheit ist.“

Wandan schüttelte den Kopf.

„Was immer du sagst, ich werde es weder bestätigen, noch leugnen. Es wundert mich nicht, dass du deine eigenen Schlüsse gezogen hast, aber....“

„Aber es ist zu gefährlich. Willst du das sagen?“ Sie sprang wieder auf. „Weißt du, was Akosh mir gesagt hat? Weißt du, was er mir und Racyl und Oras und Haya und Mo erzählt? Du weißt es! Soll ich es wiederholen?“

„Sara, beruhige dich...“

„Nein! Ich beruhige mich nicht! Du weißt es ganz genau! Er sagt, dass sie krank ist! Er sagt, dass sie dem Krieg nicht gewachsen ist! Er sagt, sie hätte ihren Geist nicht mehr unter Kontrolle! Das sagt er! Er sagt, er habe sie nie verraten, aber er müsse es vielleicht tun - um ihrer eigenen Sicherheit Willen! Und du... du und Mondor... ihr wisst, dass es nicht so ist! Nicht wahr? Und trotzdem schweigt ihr!“

„Sara, so einfach ist das nicht!“

„Doch, es ist ganz einfach! Zuerst habe ich ihm geglaubt. Es stimmt, manchmal ist sie nicht sie selbst. Und ich weiß, was manchmal mit ihr passiert! Ich weiß es! Ich war nach dem Ritual im Batí-Tempel in ihrem Schlafgemach. Ich habe ihr das Reinigende Wasser gegeben! Halt mich nicht für dumm! Ich weiß, was Akosh damit meinte. Aber dann habe ich nachgedacht. Und dann ist mir klar geworden, was für eine dumme Ausrede er benutzt. Vielleicht, weil er es nicht besser weiß! Aber du und Mondor, ihr beide wisst es besser! Und lasst ihn trotzdem diese Lügen verbreiten!“

„Wir haben einen Eid geschworen!“ Obwohl Wandan immer noch sitzenblieb, reckte er plötzlich seinen Oberkörper und wurde ebenfalls lauter. „Wir haben gar keine andere Wahl, als....“

„Als ihn weiter in seinem Irrglauben zu lassen.“ vollendete Sara den Satz wieder ganz ruhig. „Es stimmt also. Sie ist nicht krank. Sie ist nicht wahnsinnig oder was immer auch Akosh denkt. Und es gibt einen Grund, warum sie all diese Dinge sieht und erlebt. Einen Grund, der so offensichtlich ist, dass ihn eigentlich jeder längst erkennen müsste. Ihr beide... und Rahor... ihr wisst, warum sie so ist. Deshalb ist auch Mondor hier, nicht wahr? Deshalb ist er bis heute in Semon-Sey geblieben. Weil er Angst hat. Ihr alle habt Angst. Nicht vor Iandal, nicht vor Talmir, nicht vor den Hantua. Ihr habt Angst vor eurer eigenen Herrscherin! Weil sie Ash-Zaharrs Blut in sich trägt!“

Wandan wurde so bleich, dass Sara glaubte, er würde gleich zusammenbrechen. Seine Lippen bebten und er brauchte mehrere Versuche, bis seine Stimme ihm endlich gehorchte.

„Sprich... das.. nie … wieder aus.“

Doch Sara nickte nur.

„Also ist es wahr.“

Seine Miene wurde undurchdringlich. „Ich darf es dir nicht sagen, Sara. Frag mich... nie wieder danach.“

„Du musst es mir nicht sagen. Ich sehe dir an, dass es die Wahrheit ist. Und sie erschreckt dich immer noch. Es ist keine Legende, kein Märchen. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum ihr nach dem Blutsträger des Himmels sucht, wo euch doch im Krieg der andere, der Erbe der Nacht, viel nützlicher sein könnte. Ich war so dumm. Sie ist es. Deshalb ist er ständig in ihr. Und deshalb straft er sie. Die Batí. Die Verräter. Und deshalb habt ihr alle Angst. Ihr habt Angst vor ihr, weil der Dämon ein Teil von ihr ist. Und ihr habt Angst um sie, weil dieser Teil sie irgendwann töten wird. Und deshalb sucht ihr den Erben des Himmels. Weil der als einziger die Macht hätte, Ash-Zaharr zu bändigen. Und nur weil sie ist, was sie ist, hat sie das alles überlebt. Den Krieg. Sagun. Die Zeremonie im Tempel. Er will nicht, dass sie stirbt, er will nur, dass sie leidet. Aber eines Tages wird sie sterben und ihr alle wisst das. Und davor habt ihr Angst.“

„Das reicht.“ sagte Wandan tonlos. Es klang fast, als würde er aufgeben.

„Es spielt überhaupt keine Rolle, ob du recht hast oder nicht.“ fuhr er dann fort. „Sprich nie mit jemandem darüber. Wenn es die Wahrheit ist, darf niemand sie erfahren. Und wenn es eine Lüge ist, darf niemand sie glauben. Verstehst du das?“

„Ich verstehe besser, als du denkst. Ich wollte nur eines wissen. Ob Akosh den richtigen oder den falschen Weg geht. Denn ich habe für mich einen anderen gefunden. Ich weiß nicht genau, was er vorhat. Und ich denke immer noch, dass er vielleicht wirklich ein Verbündeter Talmirs ist, auch wenn er mir das Gegenteil beteuert. Er sagte, er habe Lennys nie verraten. Er sagte, er wollte Talmir nur auskundschaften. Ihn aushorchen. Und sie habe die ganze Zeit davon gewusst. Ihn sogar beauftragt, obwohl sie unseren Verdacht kannte. Sie hat es in Kauf genommen, dass er für uns ein Verräter ist. Sie hat unsere Freundschaft dafür geopfert! Und er hat es akzeptiert, um ihr zu dienen. Aber jetzt will er in den Süden, zu eurer Shaj. Was hat er vor? Will er sie beschützen? Oder will er sie bändigen, weil er glaubt, sie wäre krank und hätte sich nicht unter Kontrolle? Es ist mir gleich, was er will. Aber ich weiß, was ich will. Ich musste nur erst sicher sein.“

„Was hast du vor?“

„Ich werde zu ihr gehen. Ich werde sie finden. Ich habe keine Angst vor eurem Gott. Und auch nicht vor dem, was in ihr ist. Es ist nur ein kleiner Teil von ihr. Langsam glaube ich, es ist der einzige, den irgendjemand überhaupt zu kennen glaubt.“

„Das ist nicht wahr. Ich kannte sie als junges Mädchen... lange bevor...“ Er schluckte. „...bevor sie so war wie jetzt.“

„Du kanntest sie als Satons Tochter. Satons Tochter! Er war auch einer. Wie blind ist euer Volk, das nicht zu erkennen? Ihr habt euch immer bemüht, Lügen in die Welt zu setzen. Der Blutsträger sei verschollen. Er wüsste vielleicht selbst nicht um seine Identität. Er sei vielleicht ein Greis oder ein Säugling. Und dabei sitzt er längst auf dem Thron, so offensichtlich, dass es doch jeder erkennen muss!“

„Sara, bitte hör auf. Ich will dich nicht anlügen. Zwing mich nicht dazu. Ich kann dir nur eines sagen: Es stimmt, dass sie weder krank noch wahnsinnig ist. Keiner soll das von ihr glauben, aber manchmal... ist eine Lüge besser als eine Wahrheit. Auch für Akosh. Es wäre besser gewesen, wenn Mondor mitgekommen wäre. Er hätte vielleicht die richtigen Worte für dich gefunden. Aber bitte versuch, mich zu verstehen. Ich habe viele Eide geschworen in meinem Leben. Einer war, Saton zu beschützen. Und seine Tochter. Mit meinem Leben. Ein anderer war es, ein bestimmtes Geheimnis zu wahren. Sie alle habe ich bei meinem eigenen Blut und Leben geleistet. Ich werde keinen davon brechen, Sara. So gern ich es täte. So gern ich mit dir darüber sprechen würde. Aber ich kann es nicht.“

Sie setzte sich wieder neben ihn und dachte eine Weile nach.

„Ich verstehe dich.“ sagte sie dann. „Es tut mir leid, dass ich so wütend war. Aber nur so konnte ich… mir meine Frage beantworten. Ich werde gehen, Wandan. Ich suche und ich finde sie. Und ich hoffe, dass ihr auch findet, was ihr irgendwo verborgen glaubt.“

„Du gehst allein, nicht wahr?“

„Ja. Akosh und Menrir… ich kann nicht bei ihnen sein und Tag für Tag hören, wie sie über sie sprechen. Weil sie es nicht besser wissen. Und ich muss es ihr sagen. Was sie alle glauben. Wandan... sie werden... sie doch nicht....? Können sie ihr gefährlich werden?“

„Ich weiß es nicht. Nein, ich glaube nicht. Und das wollen sie auch gar nicht. Ich glaube, sie wollen nur, dass jemand in ihrer Nähe ist, um sie... nun ja... zu beobachten. Mehr nicht. Sara, Lennys ist nicht allein. Rahor ist bei ihr. Und die anderen Cas. Sie werden immer hinter ihr stehen, egal was passiert. Warum glaubst du, dass du ihr helfen kannst?“

Plötzlich brannten ihre Augen und sie musste all ihre Kraft aufbieten, um die Tränen zurückzuhalten.

„Ich weiß nicht, ob ich es kann. Aber ich will es. Wandan, ich spüre einfach, dass ich zu ihr muss. So schnell wie möglich. Es ist das Richtige, das weiß ich jetzt.“

„Ich kann und will dich nicht davon abhalten.“ Er sah sie lange an. „Pass auf dich auf, Sara. Und pass auf Lennys auf. Und wenn ich dir noch irgendwie helfen kann – dann lass es mich wissen.“

Sara nickte traurig. Es tat ihr leid, sich nun von Wandan verabschieden zu müssen. Doch sein letzter Satz ließ sie auch Hoffnung schöpfen. Es gab ja wirklich etwas, was er für sie tun konnte.

Yos schimpfte wie ein Rohrspatz. Zuerst auf seinen Onkel, dann auf Sara, dazwischen immer wieder auf sich selbst.

„Der Alte muss vollkommen verrückt geworden sein. Aber bitte, er wird ja seh'n, was er davon hat. Warum hab' ich mich auch nur drauf eingelassen? Und du, du wirst dein blaues Wunder erleben, wenn du dein Versprechen nicht hältst!“

Sara war klug genug, ihn reden zu lassen und nichts dazu zu sagen. Kaum dass Wandan verschwunden war, war Yos fluchend zurückgekommen und es dauerte eine ganze Weile, bis Sara aus seinem Genörgle heraushören konnte, dass sein Onkel ihrem Vorschlag wohl nicht abgeneigt war.

„Denkt wirklich, 'ne fremdländische Dienerin könnt' ihm helfen, nur weil se die Heilerin der Shaj is. Will halt nich' seh'n, dass er einfach alt is. Alter Esel!“

So war es munter weitergegangen, während er Sara am Flussufer entlang zu einem Pfad führte, der nicht weit entfernt in einem Waldstück verschwand. Sie folgten ihm und standen schließlich vor einer kleinen Hütte, die recht robust gebaut schien.

„Ich warne dich!“ drohte Yos mit erhobenen Finger, bevor sie eintraten. „Wenn du mir Märchen erzählt hast, dann wird auch die Shaj davon erfahren. Das dürfte dir nicht gut bekommen.“

„Es wäre ihr ziemlich egal.“ entgegnete Sara gelassen.

Das Häuschen des Fährmanns bestand nur aus zwei Räumen. Der eine diente gleichzeitig als Wohnzimmer und Küche, im anderen standen zwei klapprige Betten und mehrere Kleidertruhen. Es roch nach Fisch und scharfen Gewürzen. Alles in allem fühlte Sara sich nicht sehr wohl hier, alles war muffig und schlampig, aber das Lächeln des Hausherrn besserte ihre Laune gleich wieder.

Der alte Mann saß gebeugt auf einer einfachen Liege. Hinter ihm lagen zerdrückte Kissen. Anscheinend hatte er sich noch kurz zuvor hingelegt. Es war ja inzwischen schon Mittag geworden.

„So so,....“ nuschelte der Alte. „Da hat mein Neffe ja wohl mal ausnahmsweise etwas richtig gemacht. Dachte wohl, ich habs nicht so mit Fremdländern.“

„Ich bin Sara aus dem Mittelland.“ Sara sprach leise, langsam und betont höflich. Das schien dem Fährmann zu gefallen.

„Ach, weißte, Kind, ich habs nicht so mit Fremden, das stimmt schon. Aber sind ja nicht alle gleich. Und immerhin behandelst du die Shaj, so verkehrt kannste da nicht sein. Der Yos, der meint auch immer, er wäre was Besseres.“

Im Hintergrund schnappt Yos empört nach Luft, doch sein Onkel beachtete ihn nicht weiter.

„Mich nennt man Rumpamar. Rumpamar, der Fährer. Aber damit isses nicht mehr weit her. Kann mich kaum noch rühren. Und da kommt mein Neffe daher und faselt 'was, dass die Heilerin der Shaj meine Schmerzen lindern könne. Dummes Geschwätz, dachte ich. Kenn' ihn ja. Aber als ich ihn fragte, wo sie denn sei, die Heilerin, da wollte er mich plötzlich davon abbringen. Dachte wohl, ich will das gar nicht. Dummkopf. Wenn er meine Knochen hätte, würde er anders denken.“

Sara legte den Kopf auf die Seite.

„Hat euch denn schon einmal jemand behandelt? Oder habt ihr selbst Arzneien ausprobiert?“

„Euch? Ihr? Nee nee, junge Dame, mich kannste duzen. Eigentlich bist du ja die hohe Persönlichkeit, nicht ich. Nee, hab nie was ausprobiert. Will mich ja nicht vergiften. Doch, da war mal so 'n komisches Fett von irgendwelchen Hirschen oder so. Hat nix geholfen. Hat mir mal 'n Freund mitgebracht. Das Zeug war gut zum Kochen, aber nicht gegen die Schmerzen. Aaaah, ich sag dir, mein Rücken machts nimmer lang und die Knie auch nicht.

Nachdenklich musterte Sara die Hütte. „Es ist zugig hier. Da hilft auch das Herdfeuer nichts.“

„Tut mir leid, junge Dame, dass es hier nicht so schön is wie in der Burg oben. Bin froh, wenn ich mir das täglich Brot leisten kann.“

„Das meine ich nicht. Aber wenn du Sommer wie Winter hier lebst, ist es kein Wunder, dass deine Gelenke steif werden und schmerzen. Du bist den ganzen Tag draußen am Fluss, da ist es nass und kalt. Da wäre es besonders wichtig, dass du dich abends aufwärmst.“

„Wem sagste das? Aber hat halt nicht jeder so ein schönes Haus wie die Shaj oder so. Ne, mehr geht halt nicht. Hätte besser doch Jäger werden sollen wie mein Vadder. Oder wenigstens Schuster wie mein Bruder. Beide früh gestorben, aber nicht so arm wie ich. Aber ich wollt' immer an den Fluss. Weiß auch nicht, warum. So isses halt. Und der da....“ Er nickte zu Yos. „Der hat auch nix Gescheites gelernt. Würd ja sagen, der endet wie ich, aber das is ja jetzt schon so. Teilt sich mit mir die Hütte und hilft mir, wenn ich bei der Arbeit nicht mehr kann. Ja, so isses. Wie soll ich mir da 'ne warme Stube oder 'n Heiler leisten, hä?“

Irgendwie tat Sara der alte Rumpamar leid. Er hatte ehrliche Augen und ein offenes Lächeln.

„Wenn ich dir Silber gebe, wirst du mir dann versprechen, davon warme Kleidung zu kaufen? Und Baumaterial, um die Löcher in den Wänden abzudichten? Und nicht etwa Sijak?“

„He he, junges Fräulein, mit dem Teufelszeug hab ich nix am Hut. Trinke nur mal 'n Becher Wein zu besonderen Gelegenheiten. Zu meinem Geburtstag gönn ich mir das mal oder wenn was Wichtiges in der Stadt passiert. So wie die Shaj-Wahl. Aber sonst nicht. Mein Magen verträgt sowas nicht so gut. Nee, aber wieso willst'n mir Silber geben? Hast doch nix davon. Und ich kann dir auch nix dafür geben.“

„Das lass meine Sorge sein.“ Sie nahm einen kleinen Beutel aus ihrer Tasche, holte einige Münzen hervor und legte sie auf den wackeligen Tisch, der neben der Liege stand. Rumpamar und Yos machten große Augen. Sicher hatten sie noch nie so viel Geld besessen.

„Warme Kleidung, Holzbretter, Decken und was du sonst noch brauchst. Meinetwegen auch eine Flasche Wein. Und jetzt würde ich mir gern mal deine Gelenke ansehen, wenn ich darf. Ich glaube, ich habe etwas, was dir sehr schnell Linderung verschaffen wird.“

Der alte Fährer war viel zu beeindruckt, als dass er Sara diesen Wunsch verwehrt hätte. Es gefiel ihm, wie das Mädchen vorsichtig seine brennenden Knie, den steifen Rücken und die dürren Arme betastete und er gab bereitwillig auf all ihre Fragen Antwort.

Nach einer Weile war Sara fertig und kramte in ihrer Tasche, bis schließlich ein Töpfchen mit einer braunen Paste zum Vorschein kam.

„Das ist eine Salbe aus verschiedenen Kräutern, dem Hirschfett, dass du schon kennst und mehreren Ölen. Das Fett hat tatsächlich keine Wirkung, die Kräuter und Öle umso mehr. Reib dir jeden Morgen und Abend die schmerzenden Stellen damit ein. Schon morgen wirst du eine erste Linderung verspüren. Die volle Wirkung entfaltet die Salbe erst nach ein paar Tagen. Benutze sie, bis du keine Schmerzen mehr hast. Aber nicht länger. Und von da an nur, wenn du merkst, dass es wieder schlimmer wird. Wenn sie leer ist, schicke eine Nachricht an mich. Und sollte ich nicht in Vas-Zarac sein, dann schicke sie an Afnan, den Hauptkämmerer der Burg. Ich werde ihn darüber informieren.“

Rumpamar war vollkommen sprachlos. Ungläubig kratzte er mit einem Finger ein wenig von der Paste aus dem Töpfchen und bestrich sein rechtes Knie damit. Sofort fühlte er, wie die Stelle von einer angenehmen Wärme durchdrungen wurde.

„Gibt's nicht. Gibt's nicht.“ murmelte er immer wieder. Noch waren die Schmerzen da, Sara hatte ja gesagt, dass es anfangs dauerte, bis sich die Wirkung zeigte. Und doch spürte er, dass diese Salbe ihm helfen würde. Er war sich ganz sicher und wagte es doch nicht, daran zu glauben.

„Die kostet bestimmt 'n Vermögen.“ sagte er dann bekümmert. Das kann ich dir nie bezahl'n. Und das da....“ Er deutete auf die Silbermünzen. „Das kann ich auch nicht zurückbezahl'n. Nimms besser wieder mit. Soviel verdien' ich nie, nicht mal, wenn ich gesund bin.“

„Du musst es mir nicht zurückgeben. Und die Salbe musst du auch nicht bezahlen. Auch nicht, wenn du noch mehr davon benötigst.“ Sie räusperte sich und warf Yos einen auffordernden Blick zu.

Allmählich begann der Alte zu begreifen.

„Was hast'n ihr dafür versprochen?“ fragte er seinen Neffen barsch. „Jetzt sag schon oder willste mich zum Narren halten? Sie macht das doch nicht, weil sie dich so gern hat. Also?“

Yos wurde blass.

„Mensch, Onkel, ich dachte doch, sie wär 'ne Stümperin. Und noch biste ja nich' geheilt. Die kann doch viel erzählen! Und ich hab ihr gar nix versprochen! Hab nur gesagt, dass ich mit dir rede, sonst nix.“

Bevor Rumpamar noch etwas darauf erwidern oder auf seinen Neffen losgehen konnte, mischte sich Sara ein.

„Ich muss zur Grenze ans Mittelland. Und ich brauche dazu jemanden, der mich in einer Barke oder einem guten Boot an der Westküste entlang bis zu den Ruinen von Chaz-Nar bringt. Und das möglichst schnell. Es stimmt, Yos hat mir nichts versprochen. Aber ich habe das. Ich habe ihm mein Wort gegeben, dass ich dich heile, wenn er sich dazu bereiterklärt. Aber in meinem Tempel habe ich auch einen Schwur geleistet, nämlich den, dass ich Menschen helfe, die diese Hilfe auch brauchen. Und das habe ich getan. Auch, wenn Yos mir jetzt seinerseits seine Unterstützung verweigert.“

Rumpamar stand auf. Es kostete ihn viel Mühe und Kraft und er musste ein Stöhnen unterdrücken. Aber dann sah er seinem Neffen gerade in die Augen. Und plötzlich klang er überhaupt nicht mehr wie ein einfacher, alter Fährer, sondern wie jemand, der sehr wohl mit Worten umzugehen wusste.

„Dieses Mädel hat mehr für mich getan, als du in deinem ganzen Leben! Ich habe dich ernährt als deine Eltern starben. Meine Hütte ist klein und arm, aber ich teile sie mit dir. Du bekommst deinen Lohn, wenn du für mich auf den Fluss fährst. Aber das, Yos, das ist jetzt eine Schuld, die du begleichen musst! Du wirst sie zu den Ruinen bringen, hast du mich verstanden? Wenn es sein muss, schon heute! Dieses eine Mal wirst du mir keine Schande bereiten!“

Sara verkniff sich ein Grinsen. Mehr noch, ihr Herz schien vor Freude zu explodieren. Daran konnte auch Yos' niedergeschlagenes Gesicht nichts ändern.

„Aber Onkel...“

„Nein, Yos, diesmal kannst du mich nicht überreden. Sie sagt, du hast ihr nichts versprochen. Aber ich sage, du hast es! Sonst wärst du nie mit ihr hierhergekommen. Nehmt mein Boot, es ist das einzige, was ich ihr geben kann. Das Boot und deine Dienste!“

„Ich brauche dein Boot nicht.“ sagte Sara zur großen Überraschung der beiden Männer. „Ich habe eines.“

„Was?“ fragte Yos erschüttert. „Wie meinst'n das? Ich hab dir doch gesagt, dass...“

„Ich habe dir gesagt, dass ich eines habe, das muss dir reichen. Ein Gutes.“ Sie dachte an Wandan. Er hatte ihr versprochen, ihr eine Barke der Säbelmeister zur Verfügung zu stellen. Sie musste ihm nur durch Zaryc eine weitere Nachricht zukommen lassen, wann und wo sie sie benötigte.

„Dann ist ja alles geregelt.“ sagte Rumpamar geschäftsmäßig. Er lächelte wieder. „Und sie ist keine Stümperin. Ich merke jetzt schon, wie mein Knie weniger zwickt. Der Große möge dich beschützen, Sara aus dem Mittelland!“

Bei diesen Worten lief Sara ein eisiger Schauer über den Rücken.

Der Große.

Als Yos nach nebenan ging, um dort völlig niedergeschlagen seine Sachen zu packen, war sie mit den Gedanken wieder ganz woanders.

Der Ostbogen. Der breite, kurze Felstunnel trennte nicht nur das Mittelland vom Shanguin-Gürtel, sondern in diesen Tagen auch den Frieden vom Krieg. Doch noch war von dem Unterschied nichts zu spüren. Der Tunnel war nicht einmal einhundert Schritte lang und schnurgerade. Am anderen Ende strahlte ihnen die milchige Nachmittagssonne des Mittellands entgegen. Aber kein Feind, kein axtschwingender Hantua stürmte ihnen entgegen.

Sie hatten für das letzte Stück länger gebraucht als erwartet. Ein starker Wind war aufgekommen und hatte Sand und Staub aufgewirbelt und ihnen so das Vorankommen und die Sicht erschwert. Trotzdem waren sie zufrieden.

Kurz vor dem Ende des Bogens wartete Lennys auf die Cas. Rahor war bei ihr.

„Wir werden bis zum Einbruch der Nacht hierbleiben. Wenn es dunkel wird, überqueren wir das Plateau und steigen zu den Sümpfen hinab. Wir müssen uns nicht früher als nötig zeigen.“

Es war ein merkwürdiger Ort für eine längere Rast. Der Wind heulte draußen, doch obwohl hin und wieder eine Böe durch den Tunnel fegte, war es hier doch weitestgehend geschützt. Wenn man an die südliche Öffnung trat, bot sich einem ein weiter Blick über eine Felsebene, die man, weil sie direkt an den Bogen anschloss, das 'Ostplateau' nannte. Dahinter schien die Welt zu Ende. Erst wenn man weiterging, konnte man im Dunst der tieferliegenden Landschaft das satte Grün der Sümpfe erahnen. Doch von hier aus gesehen hüllten sich die Ränder der Ebene noch in schmutziges, undurchdringliches Grau.

Zuerst waren die Cas verwundert gewesen, dass es am Ostbogen keine Wachen gab. Sie alle kannten das Steinhaus auf dem Gipfel im Westen, wo mittelländische Soldaten den Durchgang bewachten. Hier schien es aber keinen zu interessieren, wer die Grenzen passierte. Die Antwort auf diese Frage ließ nicht lange auf sich warten.

„Da vorn liegt was.“ sagte Haz-Gor, der gerade auf der anderen Seite nach dem Rechten sehen wollte. Er war noch nicht ganz aus dem Tunnel heraugetreten.

Die anderen kamen näher.

„Das sind Tote.“ meinte Karuu. „Vielleicht die Wachen?“

„Haz-Gor, Zom und Garuel, ihr seht nach.“ befahl Lennys knapp. „Bleibt in Rufweite und kommt so schnell wie möglich zurück.“

Die drei Angesprochenen zogen ihre Sicheln und machten sich auf den Weg. Die dunklen Körper, die Haz-Gor am Rand des Plateaus erspäht hatte, bewegten sich nicht. Sie lagen direkt am Hang des benachbarten Berges. Während sie langsam darauf zugingen, postierten sich die anderen Cas am Eingang des Bogens und beobachteten die Umgebung. Sie schien wie ausgestorben.

Die drei Cas beschäftigten sich nicht lange mit den Gestalten, die am Boden lagen. Garuel beugte sich kurz darüber und untersuchte sie flüchtig, Haz-Gor und Zom nahmen den Felshang und den Boden genauer in Augenschein. Erstaunlich schnell kehrten alle drei zu Lennys zurück.

Haz-Gor erstattete Bericht.

„Wir hatten recht, es waren die Wachsoldaten. Vier insgesamt. Haben sich nicht viel Mühe gemacht, die Hantua. Nur ihr Gold haben sie anscheinend mitgenommen. Aber nicht mal die Spuren verwischt.“

„Es gibt keine Zweifel?“ fragte Lennys.

„Nein. Es sei denn, die Mittelländer sind inzwischen auf Kriegsäxte spezialisiert. Oder die Shangu, was ja noch unwahrscheinlicher ist.“

„Wie lange?“

Haz-Gor dachte kurz nach.

„Gestern nachmittag schätze ich. Nicht später. Wahrscheinlich sind die Hantua noch runtergestiegen, bevor es ganz dunkel wurde. Dann haben sie wohl am Rand der Sümpfe ihr Lager aufgeschlagen.“

„Waren es die gleichen, die in den Bergen ihre Spuren hinterlassen haben?“

„Gut möglich. Dann waren sie verdammt schnell, aber wir hatten ja auch Pech mit dem Wind. Außerdem kennen sie die Gegend besser als wir. Trotzdem hatten sie Verluste. In Valahir waren es wenigstens zwanzig, jetzt nur noch ein gutes Dutzend. Sind wohl ein paar in die Schluchten gestürzt. Sollen sie doch da unten verrotten.“

Lennys runzelte die Stirn. „So viele? Wir sollten uns nicht zu sicher sein. Vielleicht hat sich eine kleinere Gruppe abgespaltet.“

„Dann wären sie noch dümmer als ohnehin schon. Zwanzig stellen schon keine Gefahr dar... vier oder fünf... die erledige ich mit einer Hand und im Schlaf!“ Haz-Gor lachte dröhnend. Die anderen Cas stimmten mit ein.

„Genug jetzt.“ Lennys deutete auf die Pferde. „Bringt sie raus zur Quelle. Es wird sie schon keiner sehen. Sham, was haben wir noch an Vorräten?“

Sham-Yu durchsuchte die Proviantbeutel, die am Sattel seines Pferdes befestigt waren.

„Ein bisschen Brot und geräucherten Fisch. Mehr nicht. Wir werden uns bald etwas Frisches besorgen müssen.“

Jetzt schaltete sich Haz-Gor wieder ein. „Ich wollte eben vorschlagen, mit Zom zur anderen Seite des Plateaus zu gehen. Dort haben die Soldaten normalerweise ihr Lager. Sie müssen ja auch irgendwo Proviant versteckt haben.“

Lennys nickte. „Mach das, wenn du die Pferde rausbringst. Und nimm Garuel und Sham mit. Wer weiß, ob nicht doch noch jemand hier herumlungert.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis die vier Cas zurückkamen. Das, was Haz-Gor als 'Lager' bezeichnet hatte, war nicht mehr als eine kleine Hütte, die noch schäbiger als die des Westbogens war. Wahrscheinlich hatten die Soldaten bald eine Ablösung oder eine Lebensmittellieferung erwartet, denn viel war nicht zu finden gewesen. Mit einer mageren Ausbeute von getrocknetem Obst, billigem Wein und den Resten eines Hasenbratens kehrten sie zurück. Auch eine nochmalige Durchsuchung der Leichen förderte nichts Brauchbares zutage.

„Sie haben sich wohl vor allem von den Pflanzen und Tieren aus dieser Gegend ernährt.“ mutmaßte Sham. „Aber für uns wird es reichen. In den Sümpfen können wir sicher auch jagen.“

„Das würde ich dir nicht raten.“ Lennys hatte sich auf dem Boden ausgestreckt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Man sollte sich dort nicht zu weit hinauswagen, es gibt nur wenige sichere Pfade. Wir werden uns also einschränken, bis wir den Wald erreicht haben.“

Diese Aussicht schreckte die Cas nicht. Sie waren es gewohnt, Entbehrungen hinzunehmen. Stumm kauten sie auf ihren Brotkanten, am Fisch und am Trockenobst und applaudierten erst, als Faragyl ein paar Flaschen Rum zutage förderte, die er in weiser Voraussicht eingepackt hatte. Nur Lennys lehnte ab.

Sie wollte ihre Konzentration nicht beeinträchtigen. Von jetzt an mussten sie darauf gefasst sein, hinter jeder Wegbiegung auf die Hantua zu stoßen. Der Gedanke daran ließ sie ungeduldig werden. Sie konnte es kaum erwarten, wieder das herrlich süße Blut ihrer Feinde zu schmecken.

„Du hättest sie aufhalten müssen!“

Akosh ging wütend auf und ab. Gerade eben erst war er mit Racyl und Mo im Generalsviertel Semon-Seys angekommen, um sich dort in Rahors Haus mit Wandan und Mondor zu treffen. Eigentlich sollte er sich hier von dem jungen Mädchen und dem alten Diener fürs Erste verabschieden und bei dieser Gelegenheit noch ein letztes Mal Rücksprache mit dem früheren Cas und dem Batí-Priester halten, bevor er selbst mit Sara und Menrir gen Süden aufbrach. Oras und Haya würden sich nach dem Treffen auf den Weg nach Vas-Zarac machen, um dort Imra zu treffen. Doch als Wandan dem Schmied die letzten Neuigkeiten präsentierte, schienen diese all seine Pläne über den Haufen zu werfen.

„Sie aufhalten?“ Wandan grinste. „Mach dich nicht lächerlich, Akosh. Du kennst doch Sara. Neuerdings kann sie ebenso stur sein wie Lennys. Vielleicht hat unsere verehrte Shaj ein bisschen auf sie abgefärbt. Sie ist damals aus dem Nebeltempel weggelaufen und jetzt eben noch ein zweites Mal. Seltsamerweise tat sie es beide Male aus dem gleichen Grund – um bei ihrer Herrin zu sein. Das nenne ich einmal wahrhafte Treue...“

„Schön, dass du das so gelassen siehst, Wandan. Aber darf ich dich daran erinnern, dass Sara auch vor Lennys weggelaufen ist? Und zwar erst vor wenigen Tagen! Und jetzt will sie plötzlich zu ihr zurück? Und überhaupt... sie ist eine Fremde! Eine Mittelländerin in Cycalas! Ein Mädchen, dass kaum einen Säbel halten kann! Wie soll sie denn überhaupt lebend im Mittelland ankommen? Wie will sie Lennys finden? Und das alles im Krieg! Nein, wirklich, das war vollkommen verantwortungslos!“

„Das war es nicht.“ ertönte jetzt Mondors heisere Stimme. Er war ganz ruhig. „Akosh, das alles hier ist ein wenig schwierig. Wir sind nicht so stark, wie wir es gerne wären. Sieh mal, Oras wird noch heute all seine Überredungskünste aufbringen, um Haya in die Burg einzuschleusen. Zum Glück sieht sie den Sichelländern recht ähnlich, vielleicht wird sie gar nicht als Fremde erkannt. Aber sie haben beide keine Ahnung davon, wie es in Vas-Zarac zugeht. Dann haben wir eine junge Priesterin in unseren Reihen, die aber erst einmal ihr eigenes Leben in Ordnung bringen muss.“ Er sah Racyl nicht an. „Und dann noch einen Schmied, dem viele unserer Verbündeten mit Misstrauen begegnen, einen fremdländischen Heiler, der seine kräftigsten Jahre schon hinter sich hat und einen Diener eines Cas, der für die meisten Menschen keine respekteinflößende Person darstellt. Und zuletzt noch uns beide, Wandan und mich. Viele sind der Meinung, wir sollten in den Norden zurückkehren und dort den Tod erwarten. Nein, Akosh, wir haben den Lügen, dem Verrat und all unseren Feinden nicht viel entgegenzusetzen. Deshalb müssen wir so viele verschiedene Wege in Betracht ziehen, in der stillen Hoffnung, dass einer zum Erfolg führt – nämlich unser Land zu retten. Samt unserer Shaj! Oh ja, Akosh, auch das ist unser Ziel. Und jetzt gibt es da eine nette kleine Heilerin aus dem Mittelland. Fällt dir eigentlich auf, wie viele Fremde in unseren Reihen kämpfen? Sara, Menrir, Haya... seltsam, oder? Nun, da ist dieses Mädchen, die mehr Willenskraft und Mut aufbringt als manch ein Sichelländer. Lass sie gewähren, Akosh. Sie ist eine mächtigere Waffe, als du dir gerade vorstellen kannst. Und ich fürchte, es wird der Tag kommen, an dem Lennys froh sein muss, dass Sara in ihrer Nähe ist. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ja, auch wir machen uns Sorgen. Aber wir müssen ihr auch vertrauen. Sie wird es schaffen.“

„Und wie? Allein kommt sie nicht einmal bis nach Valahir, geschweige denn darüber!“

„Lass das mal ihre Sorge sein.“ lächelte Wandan. Noch nicht einmal Mondor wusste, dass Sara keineswegs vorhatte, das Gebirge zu besteigen, und natürlich erst recht nicht, dass sie mit einer Kriegsbarke aus Semon-Seys Kasernen reisen würde. Vielleicht würde er es ihm irgendwann erzählen.

Akosh schien immer noch nicht beruhigt, wechselte aber dann doch das Thema. „Sie glaubt mir nicht. Sie denkt, ich benutze nur eine Ausrede und hätte eigentlich vor, die Shaj zu stürzen.“ Es klang verbittert. „Eigentlich sollte sie mich gut genug kennen. Ich habe ihr erklärt, dass Lennys von Anfang an von meinen Kontakten zu Talmir wusste - ja, dass sie mich sogar damit beauftragt hatte, mich als Verbündeter Talmirs auszugeben. Ihn zu bestärken, um dadurch zu erfahren, wie weit er gehen würde.... Als ich mit ihr in dieser Nacht in der Bibliothek sprach, da schien sie mir sogar wirklich zu glauben. Und sie war wütend, weil Lennys mit diesem Befehl unsere Freundschaft zerstört hat. Und dann wieder konnte sie sich das alles nicht vorstellen. Dass sie unsicher ist, verstehe ich, aber... wie gesagt... Ich dachte sie kennt mich.“

„Vielleicht denkt sie etwas ähnliches.“ meinte Wandan vorsichtig. „Vielleicht meint sie, du müsstest Lennys gut genug kennen.“

„Das dachte ich ja ursprünglich auch. Nur leider...“

„Akosh, wir alle geben dir Recht, wenn du sagst, dass Lennys sich manchmal etwas seltsam verhält und dass sie völlig anders ist als wir. Aber das muss nichts Schlechtes bedeuten.“

„Trotzdem seid ihr meiner Meinung, dass man sie beobachten sollte. Ich sage ja nicht, dass sie...“

„Verrückt ist.“ ergänzte Mondor trocken.

Akosh verdrehte die Augen.

„Ich wollte eigentlich sagen, dass sie vielleicht gar nicht krank im eigentlichen Sinne ist. Aber was, wenn doch? Wir können sie doch nicht einfach mit den Cas losziehen lassen – in einen Krieg gegen Log, Iandal und die Hantua! Nicht, wenn sie dann plötzlich … Ach, ich weiß auch nicht. Ihr ward nicht mit ihr im Mittelland und in Manatara unterwegs! Ihr habt nicht gesehen, wie sie das Blut getrunken hat. Das war kein normales Batíverhalten mehr! Sie hat dieses Verlangen nicht unter Kontrolle! Sie hat sich selbst nicht unter Kontrolle! Und dann das in Sagun. Meine Güte, ich kenne die alten Rituale und weiß, was da angeblich passiert. Aber dann müsste sie jetzt entweder tot sein oder eine blendende Schauspielerin. Und sie ist beides nicht.“

„Sei vorsichtig, Akosh.“ mahnte Mondor nachdrücklich. „Du weißt nicht einen Bruchteil von dem, was Ash-Zaharrs Macht bewirken kann. Aber es hat keinen Sinn, darüber weiter zu diskutieren. Wir sind uns einig, dass Lennys nicht wie wir ist. Vielleicht noch nicht einmal wie Saton. Etwas an ihr ist anders und es gibt großen Anlass zur Sorge. Und jeder von uns hat seine eigene Erklärung. Solange wir nicht wissen, welche die richtige ist, sind das alles nur Spekulationen und bringen uns nicht weiter. Wir müssen dafür sorgen, dass ihr und den Cas nichts passiert und dass wir sie davon abhalten, irgendwelche Alleingänge zu unternehmen, die dann in einer Katastrophe enden könnten. Das ist deine Aufgabe, Akosh. Und Menrirs. Und natürlich vor allen Dingen die der Cas. Und Sara wird genau dasselbe tun, aber auf ihre Art. Wandan, Racyl und ich werden versuchen den verlorenen Erben ausfindig zu machen. Und ihr beide....“ Er wandte sich an Oras und Haya. „Ihr beide müsst Imra davon abhalten, uns auf die Schliche zu kommen. Er würde schnell einen Verrat wittern und Lennys warnen. Das wäre ganz und gar nicht in unserem Interesse.“

„Imra hat Afnan unter seinen direkten Befehl gestellt, solange Lennys weg ist.“ berichtete Oras, der sich inzwischen in der Stadt umgehört hatte. „Es scheint, dass er durch ihn einen Großteil seiner Informationen erhält.“

„Afnan wird nicht leicht zu täuschen sein. Zumal er ein persönliches Interesse an Saras Verbleib und offenes Misstrauen gegen Akosh hegt.“ gab Wandan zu Bedenken. „Und er hat in Vas-Zarac mehr Rechte als sonst irgendein Diener, wenn man einmal von Sara absieht, die ja nicht da ist. Er hat den gesamten Hausstand unter sich. Macht euch darauf gefasst, dass er euch auf Schritt und Tritt im Auge behält. Wäre Sara hier, könnten wir ihn vielleicht sogar auf unsere Seite ziehen, er vertraut ihr blind. Aber es ohne sie zu versuchen, hätte mit Sicherheit zur Folge, dass er noch argwöhnischer wird. Nein, ihr müsst Afnan glauben lassen, dass unser aller Verschwinden nicht das Geringste mit Lennys Verhalten zu tun hat. Und unsere Suche nach dem Erben... Nun, die ist ja kein großes Geheimnis. Immerhin wird sie sogar von der Shaj gebilligt.“

Während die anderen weiter diskutierten, saß Racyl still in der Ecke. Es verletzte sie, dass Sara sich noch nicht einmal von ihr verabschiedet hatte. Und noch mehr tat ihr der Grund für dieses Verhalten weh. Ihre einzige Freundin zog es vor, allein und so schnell wie möglich zu dem einzigen Menschen zu gelangen, den Racyl seit so vielen Jahren versuchte zu vergessen. Und jetzt musste sie sich all die Dinge hier anhören. Über Lennys und Sara und über die Bedeutung, die ihr Tun für Cycalas hatte. Sie wollte das alles nicht miterleben, aber hatte sie denn eine Wahl? Sara hatte sie in den Kreis dieser Personen gebracht, hier war sie gut aufgehoben. Vielleicht konnte sie mit dem einen oder anderen sogar Freundschaft schließen. Mit Haya oder Mo oder sogar Wandan. Die Zeit des Versteckspiels im Hause ihres Bruders war vorbei. Aber zu welchem Preis?

Sie verstand nicht, dass Sara sie nicht eingeweiht hatte. War der Mittelländerin ihre Gesellschaft jetzt schon lästig geworden? Stand Lennys auf irgendeine Weise zwischen ihnen beiden? Racyl hatte sich stets bemüht, dass das nicht der Fall war.

Sichelland

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