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Kapitel 4
ОглавлениеJe weiter sie flussabwärts fuhren, desto kälter wurde es. Mit der allmählich aufgehenden Sonne im Rücken verstärkte sich der Eindruck, dass diese Nacht ungewöhnlich lang war.
Fröstelnd zog sich Sara eine der Naardecken enger um die Schultern. Sie hätte Yos gern geholfen, das Boot zu steuern, aber der junge Fährer hatte ihr schnell klargemacht, dass er allein besser zurecht kam. Dank des gleichmäßigen Nordostwinds hatten sie bislang kaum die Ruder benötigt und mit ein wenig Glück würde es noch eine ganze Weile so bleiben.
„Im Winter kommt der Wind fast immer aus'm Norden.“ hatte Yos gesagt. Ansonsten war er wortkarg geblieben. Scheinbar hatte er sich mit seinem Schicksal abgefunden, glücklich darüber war er aber sicher nicht.
„Wenn wir an der Küste sind, solltest du mir zeigen, wie man die Barke steuert.“ versuchte Sara, eine Unterhaltung zu beginnen. „Du brauchst Ruhepausen und wir kommen schneller voran, wenn wir abwechselnd schlafen und der Wachende das Boot übernimmt.“
Yos knurrte verstimmt. Natürlich hatte Sara recht. Und natürlich hatte sie auch das Sagen, immerhin war es nicht nur ihre Reise, sondern auch die Barke selbst gehörte ihr. Nun, nicht direkt ihr, wie er glaubte, aus ihren Andeutungen herauszulesen, aber ihm noch sehr viel weniger.
„Ist es sehr schwer?“ fragte sie, als er sich zu keiner ausführlicheren Antwort herabließ.
Er zuckte die Schultern.
„Braucht schon Übung.“ sagte er dann knapp.
„Und vermutlich einen guten Lehrer?“
„Wirst dich schon mit mir begnügen müssen. Du hast es ja nich anders gewollt. Hab mich nich' drum gerissen.“
Sara stand auf. Das Schaukeln der Barke bereitete ihr erstaunlich wenig Probleme, auch fühlte sie nichts von der Angst vor dem Wasser, die man den Mittelländern nachsagte.
Sie legte ihre Hand auf Yos' Schulter.
„Sieh mich an.“
Zögernd drehte Yos sich halb um, beließ es aber bei einem Blick aus dem Augenwinkel.
„Nein, sieh mich richtig an.“
„Was willste denn?“ murmelte er ärgerlich, aber auch etwas verunsichert. Schließlich kam er ihrer Bitte aber dann nach.
„Ich weiß, dass du das hier nicht gerne tust. Aber du tust es. Du hast dich dazu bereiterklärt. Yos, ich brauche deine Hilfe. Und ich glaube, dass es für uns beide besser wäre, wenn wir versuchen, miteinander auszukommen. Ich habe nicht gelogen, als ich dir versprochen habe, dir jede Belohnung zu geben, die du dir wünschst, sofern sie in meiner Macht steht. Sobald das hier alles vorbei ist. Du tust das hier nicht für mich. Sondern für etwas sehr viel Größeres und Wichtigeres. Lass uns zusammenarbeiten. Dann wird diese Reise vielleicht nicht nur kürzer, sondern auch schöner. Du hast nichts davon, wenn du dich immer nur ärgerst.“
„Is nich' so, wie du sagst.“
„Was meinst du?“
„Ich mach's nich' wegen 'ner Belohnung oder so. Ich mach's, weil mein Onkel das erwartet. Er denkt, du hilfst ihm. Deshalb. Weil ihm sonst ja keiner hilft. Aber ich glaub nich', dass es klappt. Und ich mach's, weil du sagst, dass es wichtig für die Shaj is. Dann muss ich's ja tun, oder nich'? Aber ich mach's nich' gern. Will nich' weg aus'm Sichelland. Und nich' aufs Meer.“
„Ich habe dich nicht gezwungen. Du hast dich dazu bereiterklärt. Aber jetzt möchte ich mich auch darauf verlassen können. Und du kannst dich auf mich verlassen. Nur so schaffen wir es.“
Yos schaute ins Leere.
„Als ich heut' meine Sachen gepackt hab', da dachte ich: Vielleicht is' das meine Aufgabe. Vielleicht hat jeder eine. Aber vielleicht irr' ich mich auch. Weißte, ich halt nich' so viel von Fremden. Und du hast keine Ahnung von dem Ganzen hier. Ich kann nich' so tun, als wäre es anders. Aber meinetwegen. Versuchen wir's zusammen. Aber wenn wir merken, dass es keinen Sinn hat, dann kehren wir um!“
Sara nickte ernst.
„Versprochen. Aber erst, wenn es wirklich keinen Sinn mehr hat.“
Irgendetwas hatte die Spannung zwischen den beiden gelöst. Für Sara war es wichtig, dass Yos sich auch wirklich bemühte und vielleicht letztendlich auch das gleiche Ziel hatte wie sie, nämlich möglichst schnell unentdeckt ins Mittelland zu kommen. Und für Yos war es wichtig, dass er sich nicht als ein willenloser Diener fühlte, sondern dass man ihm das Gefühl gab, selbständig zu denken und zu handeln.
Nach einer Weile suchte Yos wieder das Gespräch.
„Is' aber eigentlich dumm, was du da machst.“
„Was meinst du damit? Was ist dumm?“
„Naja, das mit'm Boot. Ich denk, es soll schnell gehen?“
„Aber das ist es doch. Wir können in drei oder vier Tagen die Ruinen erreichen. Zu Fuß hätte ich wohl doppelt so lange gebraucht. Durch den Shanguin-Gürtel und über die Berge.“
„Na, schon. Aber ich soll dich doch zu diesen komischen Ruinen bringen, ne? Und dann? Was willst'n dann machen? Wo willste hin?“
Ein wenig verwirrt sah Sara ihn an.
„Nun ja, ich muss natürlich erst einmal herausfinden, wo sich die Shaj und die Cas aufhalten. Aber das kann wohl nicht so schwer sein. Sie fallen ja auf und man wird sicher überall von ihnen reden.“
Ungläubig riss Yos die Augen auf.
„Das is' alles? Das is' dein Plan?“
„Man kann nicht immer alle Schritte planen! Das ist das, was ich tun werde.“
„Und dann? Willste zur Shaj oder was? Warum? Denkste, sie bräuchte deine Hilfe beim Kämpfen?“
„Nein.“ Sara versteifte sich. Sie konnte und wollte Yos nicht einmal ansatzweise das sagen, was sie wirklich zu ihrem Entschluss bewegt hatte, noch wollte sie diesen näher erklären. Es wäre auch schwer gewesen, das, was in ihr vorging, in Worte zu fassen. Ihre Vermutung war vage, die Hoffnung schwach. Aber es war das einzige, woran sie sich festhalten konnte.
„Ich habe meine Gründe, Yos. Ich muss ins Mittelland und ich muss dort eure Shaj finden. Und zwar so schnell wie möglich. Es ist wichtig für sie und für euch alle.“
„Wie du meinst, dann sagste halt nichts. Aber trotzdem isses dumm. Bin ja auch nich' von gestern. Über die Berge wärste schneller gewesen.“
„Und weshalb?“
„Na, die Ruinen sind ganz im Westen. Aber im ganzen Sichelland gibt es nur zwei Wege nach Süden. Den Ost- und den Westbogen. Und durch den Westbogen sind se sicher nich' gegangen, das hätte dann ja jemand gesehen, so viel wie da jetzt los is. Ich kenn mich ja nich' aus im Süden, aber so viel weiß sogar ich. Du brauchst viele Tage, um von den Ruinen aus dorthin zu kommen, wo die Cas sind. Wenn du sie überhaupt findest.“
Noch während Yos sprach, erkannte Sara, dass er aus seiner Sicht natürlich recht hatte. Aber sie hatte sich längst überlegt, wie dieses Problem zu lösen war. Alles was sie dazu benötigte, war ein wenig Gold, das sie sich noch aufgehoben hatte und Glück.
„Da vorn.“ sagte der junge Mann plötzlich. Er deutete auf einen Punkt in der Ferne. „Hinter den Hügeln. Da ist die Küste. In einer Stunde sind wir auf dem Meer.“
Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf und ihre Glieder seien aus Stein. So schwer und so unbeweglich. In ihrem Knie hämmerte ein Übelkeit erregender Schmerz.
Nur langsam und widerwillig richtete sie sich auf.
Der nächste Tag war angebrochen und sein Morgenlicht offenbarte aufs Neue die Geschehnisse der vergangenen Nacht.
Unter den Tannen grasten friedlich die Mondpferde, unbeirrt und unbeeindruckt von den toten Hantua, die sich auf der Erde türmten. Mehrere Dutzend. Sie lagen in ihrem getrockneten Blut, viele von ihnen verstümmelt – kopflos, mit aufgeschlitzten Bäuchen und herausgequollenen Eingeweiden, manchen fehlte auch ein Arm oder die missgestaltete Nase. Trotz der Winterkälte ließen sich die ersten Fliegen auf den Kadavern herab.
Es war ein nebliger Morgen, der einen ungewöhnlich schönen Tag versprach.
Die Cas saßen nicht weit entfernt am Rand des Weges, der an dieser Stelle weiter hinabführte und kurz darauf auf die Sümpfe stieß, die jetzt noch im Nebel verborgen lagen. Außer Faragyl und Karuu schienen alle anderen Krieger bereits wach zu sein. Sie räkelten sich in der Morgensonne und man sah ihnen an, dass sie noch nicht so klar und kräftig waren, wie man es nach einigen Stunden Schlaf hätte erwarten können. Gerade jetzt sammelten sie die liegengebliebenen Kelche ein, reinigten ihre Sicheln und blinzelten müde über den Ort, der in der vergangenen Nacht so viele Leben gefordert hatte.
Als die Shaj der Nacht von dem Steinblock, auf dem sie geruht hatte, herunterrutschte, knickte sofort ihr Bein unter dem stechenden Schmerz ein. Sie kannte sich gut genug, um zu wissen, wie ernst eine Verletzung zu nehmen war oder nicht. Noch einmal versuchte sie vorsichtig, das Knie zu belasten. Es war mehr als unangenehm, aber nicht unmöglich.
Rahor, der als erster in ihre Richtung sah, runzelte die Stirn, als Lennys auf sie zu hinkte.
„Das sieht nicht gut aus.“
Aber sie beachtete seinen Einwand nicht und schaute hinab zu den Sümpfen.
„Wir müssen darauf gefasst sein, dass es noch mehr solcher Angriffe geben wird. Das hier war nur ein kleiner Vorgeschmack. Lasst uns diese Gegend schnell hinter uns bringen, ich will lieber auf festem Boden kämpfen.“
Kurz darauf waren auch Karuu und Faragyl aus dem Schlaf geholt. Wie alle Cas – außer Haz-Gor, Zom und Balman – waren auch sie Batí, die des nachts reichlich die Kelche gefüllt hatten und nun mit den Nachwirkungen kämpften. Sehr bald schon konnte sie das nicht mehr beeinträchtigen, allein der lange Verzicht brachte ihre Wahrnehmung noch etwas durcheinander.
Grinsend nickte Haz-Gor zu den Toten hinüber.
„Ein Festmahl ist angerichtet. Ein Paradies für die Krähen.“
„Sollen sie ihnen die toten Augen aushacken.“ meinte Lennys gleichgültig und rief dann ein knappes Kommando in Richtung der Pferde, woraufhin ihr mächtiger schwarzer Hengst auf sie zutrabte.
„Wie gefährlich sind die Sümpfe eigentlich?“ fragte Sham-Yu unsicher, während sich die Krieger auf die Rücken der Tiere schwangen. „Ich meine, wie sicher sind die Wege dort? Es heißt, auch im Winter könne man dort leicht versinken.“
„Nur, wenn man unvorsichtig ist.“ antwortete Rahor. „Man sollte auf jeden Fall auf den Pfaden bleiben, die schon vor langer Zeit ausgetreten wurden. Die sind auch recht gut zu erkennen. Abseits davon sollte man sich aber nicht zu weit hinauswagen. Schon gar nicht zu Pferd. Die Hantua können sich durchaus auch an anderen Stellen verschanzen. Sie können die Sümpfe noch weniger ausstehen als wir, vermutlich werden wir also nur auf einzelne kleine Verbände treffen, wenn überhaupt. Lennys hat auf jeden Fall recht, wir müssen sehen, dass wir so bald wie möglich von hier wegkommen.“
„Wir halten uns westlich.“ erklärte die Shaj jetzt. „In dieser Gegend ist der Boden etwas fester. Geradewegs nach Süden zu reiten, wäre zu gefährlich und kostet zudem noch mehr Zeit als dieser Umweg. Wenn wir nicht ständig von den Missgeburten aus Zrundir aufgehalten werden, erreichen wir morgen die Waldgrenze.“
„Dann sind wir doch auch nicht mehr weit vom Fluss entfernt, oder?“ erinnerte sich Faragyl.
„Nein, nicht sehr weit. Trotzdem bleiben wir im Drei-Morgen-Wald und werden erst vom Mondsee aus am Ben-Apu entlang reiten. Bis Qorell. Und von da aus direkt südwärts nach Manatara.“
„Log wird sich freuen.“ grinste Haz-Gor. „Ob er uns einen königlichen Empfang bereitet?“
„In seinen Augen zumindest einen angemessenen.“ Lennys Tonfall war angriffslustig. „Es wird nicht leicht, an ihn heranzukommen, geschweige denn an die Cycala, die er in seiner Gewalt hat. Aber noch ist es nicht so weit. Erst einmal will ich dieses stinkende Brühe hier hinter mich bringen.“
Es zeigte sich bald, dass die Sonne, die im restlichen Sacua vermutlich für Freudenrufe sorgte, für die zehn Krieger einen zusätzlichen Nachteil brachte. Zwar war es auch im Mittelland noch Winter und die Temperaturen waren durchaus erträglich, doch aus unerfindlichen Gründen wimmelte selbst jetzt die Luft von Stechmücken und anderen Insekten. Bei eigentlich viel zu kaltem Klima bildeten sich mancherorts wahre Wolken von ihnen, insbesondere dort, wo die Sonnenstrahlen gebündelt auf stinkende Tümpel und faulige Schlammlöcher trafen. Unentwegt schlugen die Mondpferde mit dem Schweif nach ihnen, stampften zornig auf und schüttelten ihren Kopf und die nachtschwarze Mähne, wenn die Plagegeister sich auf ihren Augen, Ohren und Nüstern festsetzten. Auch ihre Reiter hatten reagiert und sich schwarze Tücher vor das Gesicht gebunden, die nur die Augen frei ließen.
Scheinbar war dies nicht der erste sonnige Tag im Mittelland in der letzten Zeit. Der Boden war weicher und morastiger, als man es hatte erwarten können, vermutlich durch gerade erst vergangene milde Tage, die dem heutigen geähnelt haben mussten. Immer wieder bekräftigte Zom, dass man sich im Mittelland noch nicht einmal auf den Winter verlassen könne und bekam regen Zuspruch. Ansonsten waren alle aber viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Pferd auf den festen Wegen zu halten, die Insekten abzuwehren und vor allen Dingen die Umgebung im Auge zu behalten. Aber alles, was sich dort regte, waren Krähen, Wasservögel, Ratten und einmal sogar eine Wasserschlange, was in dieser Jahreszeit sehr ungewöhnlich war. Horem und Karuu stiegen mehrmals ab, um auch jenseits der Pfade nach Hantua-Spuren Ausschau zu halten, kehrten jedoch immer nur mit einem Kopfschütteln und gleichgültigem Achselzucken zurück.
„Von hier sind die, die wir oben erledigt haben, jedenfalls nicht gekommen.“ meinte Horem einmal. „Hier war schon lange keiner mehr.“
„Könnten sie nicht noch weiter draußen sein?“ Rahor hegte Zweifel an der Ruhe.
„Könnten sie. Aber ist nicht sehr wahrscheinlich. Die kennen sich hier auch nicht aus und haben auch keine große Erfahrung mit solchen Gegenden. Alles, was weiter weg ist, ist tödlich. Würde nicht mal ich mich 'rauswagen. Sieht so aus, als hätte es hier in letzter Zeit häufig geregnet und es ist auch nicht so kalt, wie es sein müsste momentan. Die Sümpfe sind genauso gefährlich wie im Frühling.“
Horem gehörte zu den wenigen, die schon einmal hiergewesen waren. Seine langjährigen Erfahrungen als Kundschafter und seine Gabe, Spuren schneller zu finden und zu erkennen als alle anderen, waren nicht zu unterschätzen. Auch Lennys wusste das.
Gegen Mittag kam ein leichter Wind auf. Er vertrieb die Stechmücken, überrollte die Landschaft aber immer wieder mit einer Woge üblen Gestanks. Ein merkwürdiges Heulen fing sich in den Senken.
Sham-Yu sah sich verwirrt um.
„Ist das der Wind? Klingt eher menschlich...“
Ausgerechnet der stille, aber umso belesenere Garuel gab ihm die Antwort.
„Dieses Heulen gab der Gegend den Namen. Singende Sümpfe. Früher wurden hier die Toten im Morast begraben und das abergläubische Volk hier ist der Überzeugung, sie jammern bis in alle Ewigkeit darüber. Tatsächlich ist es wirklich nur der Wind. Es liegt daran, dass wir noch so dicht an Valahir sind.“
„Als ein Singen würde ich das aber nicht bezeichnen.“
„Das kommt auch auf die Jahreszeit an. Gerade im Herbst müssen die Töne durchaus beeindruckend sein.“
Das Heulen begleitete die Gruppe noch eine ganze Weile. Es schwoll an, nahm wieder ab, wurde mal höher und dann wieder tiefer und zehrte so an den Nerven. Dies, die Nachwirkungen des Blutrausches und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie kaum voranzukommen schienen, steigerte die Reizbarkeit der Cycala. Gerade jetzt hätten sie dies nur allzu gern an einigen Hantua oder zumindest an manatarischen Soldaten ausgelassen. Dazu kam, dass sie mit ihren Wasservorräten sparsam umgehen mussten, denn die Tümpel um sie herum waren so schlammig, dass noch nicht einmal die Mondpferde daraus tranken.
Ein jeder fluchte mehr oder weniger lautstark vor sich hin, wenn eine Morastgrube den Weg versperrte, er sich durch die Sonne geblendet fühlte oder sich der Rüssel eines gierigen Insekts in seine Haut bohrte.
Nur Lennys blieb stumm. Sie hatte es aufgegeben, sich gegen die Erinnerungen aufzulehnen, die sich gerade hier wieder entschieden in ihr Bewusstsein drängten.
Es war die Nacht gewesen, in der sich ihr Weg von dem Akoshs getrennt hatte. Der letzte Gefährte, der sie noch begleitet hatte, während alle anderen mehr oder minder schwer verletzt nun unter Menrirs Fürsorge wieder zu Kräften zu kommen ersuchten, um dann nach Hause zurückzukehren. Viele hatten sie angefleht, zu bleiben, vor allem, weil sie ihr nicht mehr zutrauten, allein besonders lang zu überleben. Aus diesem Grunde und weil er erwog, vorerst noch im Mittelland zu bleiben, hatte sich Akosh, der damalige Cas, entschlossen, mit ihr zu gehen. Zumindest bis hierher. Er wäre ihr sicher noch weiter gefolgt, doch das hatte sie nicht gestattet. Sie brauchte keinen Aufpasser. Sie wollte allein sein.
Jeder Schritt hatte damals geschmerzt. Die vielen Kämpfe, die kurze aber umso schreckensreichere Gefangenschaft im Drei-Morgen-Wald und vor allem die Schlacht in der Festung von Orio hatten Spuren hinterlassen. Cycala können Schmerz bis zu einem gewissen Grad ignorieren und hinnehmen, aber sie können ihn nicht erlöschen lassen. Manchmal hatte es in diesen Tagen in den Sümpfen Momente gegeben, das sie versucht war, sich einfach hinzulegen und zu sterben. Es wäre so leicht gewesen. Und heute, viele Jahre später, war sie sich sicher, dass es nicht ihr eigener Wille gewesen war, der sie davon abgehalten hatte. Sie war nicht den gleichen Weg gegangen wie jetzt, aber die Singenden Sümpfe boten überall das gleiche Bild. Eine schilfüberwuchterte Anhöhe, ähnlich der, an der sie gerade erst vorbeigeritten war, war ihr vor über zwölf Jahren fast zum Grab geworden. Aber irgendetwas hatte sie wieder aufstehen und wie von fremder Hand einen Fuß vor den anderen setzen lassen. Ihr eigenes Blut auf ihrer Kleidung blieb feucht wie die Luft ringsum und haftete auf ihren Lippen, wenn sie sich mit dem Arm über das Gesicht wischte. Bitter und kalt war es, das Blut. Und ringsum hatte, so wie jetzt, der Wind geheult und gejammert. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, aber noch nicht einmal dafür hatte ihre Kraft noch gereicht.
Irgendwann war es besser geworden. Vielleicht in dem Moment, in dem sie zum ersten Mal die Schatten Valahirs am Horizont erblickte. Ab diesem Augenblick befand sie sich in einem zermalmenden Auf und Ab. Mal euphorisch und wie trunken, dann wieder hoffnungslos und voller Zweifel.
Wenn sie so zurückdachte, fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, wie lange diese qualvolle Reise gedauert hatte. Es waren Tage, eher Wochen gewesen, in denen zwar ihre Wunden allmählich geheilt waren, ihr Geist aber immer mehr zu verenden schien. Immer häufiger und länger waren die Stunden geworden, in denen sie gar nichts mehr dachte, sondern nur noch wie willenlos Schritt für Schritt weitergegangen war. Diese Sümpfe hatten sie gelehrt, zu vergessen.
Und doch empfand sie dafür keine Dankbarkeit. Denn diesen Ort selbst hatte sie nicht vergessen können. Ihm jetzt wieder zu begegnen, war wie die Rückkehr zu dem alten Ich, das sie hier abgelegt hatte. Das alte Ich, das kurz zuvor schon den Tod gefunden hatte und das sie hier ebenso begraben hatte, wie es die alten Mittelländer mit ihren Ahnen getan hatten.
„Wir reiten die Nacht durch.“ sagte sie wie von selbst. Sie wollte keinen Augenblick länger als nötig hierbleiben.
Erleichtert trieben die Cas ihre Pferde an.
Yos brach in schallendes Gelächter aus. „Ne, is' nich' wahr, oder? Nee nee. Sie hat's dir nich' gesagt?“
„Warum hätte sie das auch tun sollen? Ich war die Dienerin einer Botschafterin, das schien ihr zu genügen.“
„Na, am Anfang. Aber soviel Humor hätt ich ihr nich' zugetraut. Schleift dich wochenlang mit, durch halb Sacua und sagt dir nich' mal, mit wem du es zu tun hast. Wann hast es denn erfahren?“
„Als wir Vas-Zarac erreichten. Ich hatte vorher schon ein seltsames Gefühl. Schon bei unserer Ankunft in Askaryan.“
„Wieso 'n das?“
„Die Tore gingen auf, wie von selbst und die Menschen auf den Straßen haben sich verneigt. Und dann... Wir waren bei Talmir und ich habe mich gewundert, dass sie so einfach zu einem Herrscher durchgelassen wurde und… ihm nicht gerade besondere Ehrerbietung entgegenbrachte.“
„Na, das hat sie ja wohl nich' nötig, ne? Ja, so isse. Hier dachten alle, sie wär' verschwunden oder noch schlimmer. Da ham doch wirklich Leute erzählt, sie wär' vielleicht sogar tot. Und zur selben Zeit macht sie sich nen Spaß und verheimlicht dir, dass sie die Shaj der Krieger is'.“ Noch immer grinste Yos. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Lennys die Bewahrung dieses Geheimnisses über einen so langen Zeitraum hoch anrechnete.
Seit Stunden schon verlief seine und Saras Fahrt entlang der cycalanischen Westküste ereignislos. Der Wind füllte ihr Segel, der Himmel war klar und wolkenlos und die steilen Felsklippen, an denen sie sich gut orientieren konnten, vermittelten die Illusion eines unüberwindbaren Schutzwalls, der Feinde und neugierige Beobachter fernhielt. Yos ließ Sara immer wieder das Steuer übernehmen, so dass sie recht schnell an Übung gewann, auch wenn ihr das Segeln nicht so leicht von der Hand ging, wie der Umgang mit dem Säbel. Von diesem konnte Yos allerdings seinen Blick nicht mehr abwenden, kaum, dass er ihn unter ihrem Umhang hatte hervorblitzen sehen und schließlich hatte er seine Neugier nicht mehr bezähmen können und fragte, woher sie denn eine so herrliche Waffe habe. Und wie sie überhaupt ins Sichelland gekommen war.
Sara war froh, dass Yos ein wenig Interesse zeigte. Nicht, weil sie gern von sich erzählte, sondern weil sie das Gefühl hatte, wenn sie sich nur ein wenig besser kennenlernten, würde der Fährjunge auch bald nicht mehr so verbissen darauf beharren, diese Reise sei eine einzige Dummheit, die er zutiefst bereue.
„Manchmal...“ gab Sara zu, „... Also ich hatte einmal den Eindruck, dass sie glaubte, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben, es mir zu sagen. Nein, das ist nicht ganz richtig. Aber als wir damals vor Vas-Zaracs Toren standen und sie mir sagte, wer sie wirklich ist, … Ah, ich kann es nicht erklären. Es kam mir einfach so vor, als hätte sie in diesem Moment bedauert, es nicht früher gesagt zu haben.“
Entgegen ihrer Erwartung lachte Yos nicht. Sein Mund wurde schmal.
„Weißte, es heißt immer, wir einfachen Leute würden nichts mitkriegen. Die sagen immer, wir wüssten nichts von der Burg und so, ne? Nee, wir sind ja nich blind. Hast ganz schön für Aufsehen gesorgt.“
„Ich?“
„Na klar. Bist ja die erste Fremdländerin da oben. Ich mein' jetz', die da auch wohnt. Nich' nur 'n Gast wie der Heiler. Gehörst ja schon fast dazu. Die Leute reden halt. Fragen sich alle, warum sie dich so an sich 'ran lässt. Weil du ja auch 'ne Heilerin bist. Denken halt viele, sie wär' krank oder so. Und wenn du das jetzt so sagst, dass es ihr vielleicht leid getan hat... Weißte, das passt nich' zu ihr. So jemand isse nich'. Vielleicht isse ja doch krank, ne? Aber das wirste mir kaum sagen...“
Sara seufzte.
„Sie ist nicht krank. Oder wahnsinnig oder verrückt oder was die Leute sonst so sagen. Wenn du das meinst.“
„Naja, so ungefähr schon. Stimmt ja auch, haste ja schon selber mitgekriegt, richtige Heiler ham wir hier nich'. Is' ja kein Wunder, dass man da sowas denkt. Wenn du da plötzlich auftauchst. Und wenn ich jetz' seh, wie du ihr nachrennst. Aber naja, das ham schon andere gemacht.“
„Andere?“
„Naja, gab früher ab und zu mal so Mädchen, die dachten, sie wären was Besonderes und so. Die ham gedacht,… na, is' ja auch egal. Aber du bist n bisschen anders. Hast mehr Biss als die. Die sind reihenweise rausgeflogen bei ihr. Ham sich danach die Augen aus'm Kopf geheult. Aber in den Süden wär' keine von denen gegangen, neee.“
„Diese anderen...“ meinte Sara zögernd. „Kennst du sie? Ich meine,…“
„Nee, kenn ich nich. Also eine war da mal, da schien's 'n bisschen ernster zu sein. Irgendwie 'ne Schwester von 'nem Cas oder so, ne? Aber ging auch vorbei. Die hat dann keiner mehr gesehen, is' wohl weggegangen. Nee, die Shaj, die lässt keine an sich ran. Nich' so, wie sie es gern hätten. Weißte, vielleicht kannste froh sein, dass du nur 'ne Dienerin von ihr bist. Vielleicht biste nur deshalb noch da. Da sind ständig Mädchen in der Burg und nach einer Nacht kommen se zurück und denken, sie wären jetz' 'ne riesen Nummer. Aber von denen will se dann nichts mehr wissen. Is' scheinbar nich' gut. Wenn man ihr zu nah kommt, is' man danach weit weg.“
Unwillkürlich dachte Sara an die Nacht in Balmans Haus. Danach hatte sich wirklich vieles geändert. Und sie waren einander nah gekommen. Sehr nah. Vielleicht wirklich zu nah. Nicht aus ihrer Sicht, das hatte sie sich längst eingestehen müssen. Aber aus Lennys' Sicht – da war sie sich inzwischen sicher.
„Ich glaube, du bist ein guter Schauspieler, Yos.“ sagte sie dann freundlich.
„'N Schauspieler? Willste mich beleidigen?“
„Gar nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, dass du sehr viel klüger bist, als du zeigst. Ich habe dich wohl unterschätzt. Zuerst dachte ich, du wärst ein Wichtigtuer. Bis ich gemerkt habe, wie viel dir an deinem Onkel liegt. Dann dachte ich, du wärst ein Feigling. Bis mir klar wurde, dass du nur vorsichtig bist. Das ist etwas anderes. Und ich dachte auch, dass du dich nur für dich interessierst und gar nicht versuchst, andere zu verstehen. Aber jetzt höre ich, wie du dir Gedanken gemacht hast. Wahrscheinlich hast du auch recht damit. Und all das hat auch sehr viel mit Klugheit zu tun.“
„Willst mich auf'n Arm nehmen, ne?“ Aber er konnte nicht verbergen, wie sehr ihn Saras Worte freuten. „Willst mich aber nich' 'rumkriegen, oder?“
Nun war es an Sara, lauthals zu lachen.
„Nein, wirklich nicht, Yos. Keine Sorge, du musst dich nicht gegen eine aufsässige Fremdländerin wehren. Ich sage nur ehrlich, was ich denke. Das würde ich auch tun, wenn es unangenehm wäre.“
„Na dann.“ Er schien erleichtert. „Wär' wohl auch nich' so gut gewesen. Weißte, in der Burg, da schaut man schon, wer sich mit wem einlässt. Und falls du jemals wieder da hin kommst, … Na, die wären nich' begeistert, wenn du da 'nen Fährmann an der Angel hättest, ne?“ Sein Grinsen kehrte zurück. „Vor allem der eine da, der fänd' das nich' lustig.“
„Wen meinst du?“
„Na den Rahor, den Obersten Cas. Ich glaub, das war sogar seine Schwester damals, die da was mit der Shaj hatte. Aber dich, dich mag der schon, kannste mir sagen, was du willst.“
„Wir sind Freunde, mehr nicht.“
„Nee, aber deswegen kann er doch trotzdem mehr wollen, ne? Auch wenn nich' mehr is'. Nee, musste nich' antworten. Geht mich ja nichts an. Hauptsache, wir beide wollen nich'. Und jetzt musste nochmal ans Steuer, ich hab Hunger.“
Erleichtert, dass dieses etwas peinliche Gespräch beendet war, nahm Sara Yos' Platz ein. Der Wind blies ihr von hinten die Haare ins Gesicht. Sie mochte dieses Gefühl, der Natur völlig ausgesetzt zu sein. Den Wind um sich herum, das stürmische Meer unter sich, in einer Barke, die allein von beidem angetrieben wurde. Es gab ihr das Gefühl, dass diese Kräfte sie zu ihrem Ziel brachten. Sie halfen ihr und stellten sich ihr nicht entgegen. Abergläubisches Denken. Aber es machte Hoffnung.
„Glaubst du, dass man mich suchen wird?“ fragte sie, als Yos gerade in einen Brotkanten biss.
„Dich? Wieso? Also haste doch was angestellt?“
„Nein. Ich bin freiwillig gegangen. Es gab... so etwas ähnliches wie einen Streit. Mehr nicht.“
„Aha. Na, warum sollten sie dich dann suchen? Und wer überhaupt? Sind doch alle weg.“
„Nicht alle. Der Shaj der Erde ist ja auch noch da.“
„Ach, kennste den auch näher?“
„Ein wenig schon. Wir... sind so etwas wie Freunde,... glaube ich. Zumindest sagt er das.“
Yos riss die Augen auf.
„Du bist mit dem befreundet? Was bist'n du für eine? Erst die Shaj der Nacht und jetzt noch der der Erde? Glaub' dir langsam kein Wort mehr, sowas geht ja gar nich'. Ich mein', der Kämmerer kommt glaub ich mit beiden aus. Und die Cas vielleicht auch. Und die Dunen. Aber das is ja keine Freundschaft. Der Mondor oder so vielleicht. Aber du.. du hast ja nich' mal sowas wie 'n Rang. Wie kommst'n du an den Imra?“
„Ich habe ihn in Fangmor kennengelernt. Als er noch dort lebte. Wir waren ein paar Tage in seinem Haus zu Gast.“
„Is' nich' wahr. Da hab ich ja wohl doch nich' nur 'ne einfache Dienerin an Bord, ne? Muss ich wohl auch noch auf dich aufpassen?“
„Ich kann schon selbst auf mich aufpassen. Also was ist jetzt, glaubst du, Imra könnte mich suchen?“
„Woher soll ich das wissen? Sagst mir ja nich', warum. Ich kenn den auch nich' so. Scheint 'n guter Herrscher zu werden. Aber mehr weiß ich nich. Aber wenn ihr Freunde seid, dann musst du das doch besser wissen.“
„Aber ich kenne euer Land nicht gut genug. Es weiß ja keiner, dass ich nicht mehr dort bin. Würden sie denn eine Mittelländerin so ohne Beobachtung durch die Gegend ziehen lassen?“
Yos schien unschlüssig.
„Weiß nich'. Die Krieger würden wohl 'n Auge auf dich haben wollen, wenn se da wären. Aber die meisten sind ja im Süden. Nee, also wenn du echt nichts angestellt hast, glaub ich nich', dass sie dich suchen. Haben jetzt gar keine Zeit für sowas. Und die Shaj is' auch nich' da. Die würd's vielleicht machen.“
„Lennys? Nein, ich glaube nicht. Sie weiß ja, warum ich gegangen bin.“
„Jaa, schon. Aber nich' deshalb.“
„Sondern?“
„Mensch, frag mich doch nich' sowas. Kann ich nich' erklären. Ich mein', sie würd' sich jetzt nich' groß Sorgen machen oder so, das is' nich' ihre Art. Aber vielleicht... ach, ich kanns halt nich' sagen, is' halt nur 'n Gefühl. Is ja auch egal, ne? Is' ja nich' da. Außerdem spielt's keine Rolle, weil es ja umgekehrt is'. Du suchst ja sie.“
Sara überlegte eine Weile.
„Glaubst du,...“ fing sie dann langsam an. „ ...dass sie einfach so... sterben kann?“
Der Fährer verschluckte sich an einem Stück Brot.
„Wie meinst'n das jetzt?“ hustete er und lief rot an, als ihm die Luft ausging.
„Ich meine, sie ist doch irgendwie... anders. Keiner kann sich das vorstellen, dass sie einfach im Kampf unterliegt oder so etwas.“
„Nee, glaub ich auch nich'.“ japste Yos. Als er wieder etwas zu Atem gekommen war, fügte er hinzu: „Aber wieso sollte sie nich' sterben können? Is' ja nich' so, dass man sich das nich' vorstellen kann. Eher so, dass man nich' will. Bei ihrem Vater war's ja auch so.“
„Hast du ihn gekannt?“
„Nee. Also nich' mehr als sie. War halt unser Shaj. Also der der Nacht. Aber eigentlich haben alle nur auf ihn gehört. Auch die anderen beiden. Is' bei ihr ja auch so. Sie hat das letzte Wort. Von wegen drei Herrscher. Kann mir keiner erzählen. Einer von denen is immer der Stärkste.“
„Und Saton war stark?“
„Na klar. Weißte doch. Oder nich'? Man redet ja nich' viel von ihm, weil sie das nich' will. Aber du bist doch nich' erst seit gestern hier, ne?“
„Und ihre Mutter? Cureda?“
Yos fuhr zusammen.
„Mensch, sprich den Namen bloß nich' aus, wenn wir an Land sind.“
„Warum nicht?“
„Nee, das macht man nich'. Will sie auch nich'. Noch weniger als bei ihrem Vater.“
„Mochte sie ihre Mutter nicht? Sie hat sie doch gar nicht gekannt, soweit ich weiß.“
Yos schüttelte den Kopf. „Mensch, Mädel, das is viel schwieriger. Kann man nich' so einfach sagen.“
„Dann erklär's mir.“
„Ich weiß doch selber nichts. Also nich' viel. Nur, dass man besser so tut, als wsie gar nich existiert.“
„Aber du musst doch wissen, warum. Es stimmt, ich bin nicht erst seit gestern hier. Aber du bist hier geboren! Es gibt doch sicher Geschichten, Gerüchte... Du hast selbst gesagt, dass du viel hörst.“
„Jaaa...“ Yos schwankte zwischen Ärger und Belustigung. „Na meinetwegen, aber es sind nur Gerüchte. Wehe, du drehst mir da irgendwann 'nen Strick draus.“
„Versprochen.“
„Also... die Cureda... ich sag dir, die war was. Also als Frau. Haben alle gesagt, dass die was Besonderes is'. Also war ja vor meiner Zeit, aber sogar mein Onkel hat das gesagt. Sah wohl gut aus. Hat auch mein Onkel gesagt. So wie die Shaj jetzt. Aber sie war schon anders. Nich' so …Also, sie war halt... so, dass man sie mochte. Alle mochten sie. Ich mein', die Shaj mögen auch alle, aber anders. Die Cureda, die war nie böse oder so. Die hatte Geduld und war nett und so. Immer. Freundlich und sowas. Aber halt 'ne Priesterin. Haben viele nich' verstanden. Der Saton, der hat sie aus'm Norden geholt. Klar, 'ne Batí, ging ja gar nich' anders. Aber trotzdem. Der Shaj der Nacht und ne Priesterin. Dachten doch alle, der nimmt nur 'ne Kriegerin, sonst nichts. Aber nee, Cureda isses geworden. Aber dann is' sie ja gestorben bei der Geburt. Weiß nich', ich glaub', das hat dann doch alle umgehauen. Gab aber einige, die sagten, das wär sowas wie 'n Fluch. Und dass die zwei nie hätten zusammenkommen dürfen. Und viele denken halt, die Shaj jetzt denkt das auch. Dass ihr Vater nie 'ne Priesterin hätte nehmen dürfen.“
„Aber sie ist ihre Mutter!“
„Sie hätt' wohl lieber 'ne Kämpferin als Mutter. Is' ja kein Geheimnis. Und manchmal glaub' ich, geht’s ihr nich' so gut. Also der Shaj. Weiß nich', warum. Vielleicht doch krank, weiß nich'. In den alten Schriften steht halt so Zeug, was alles passieren kann, wenn man den Dämon ärgert.“
Das verschlug Sara fast die Sprache.
„Yos, du willst doch nicht sagen, Lennys gibt die Schuld für mögliche... Probleme, die sie hat, ihrer Mutter? Weil die eine Priesterin war und ein Kind von einem Krieger bekam?“
„Naaa, ich weiß nich', vielleicht ja doch. Is ja nich' so, dass das verboten wäre. Auch bei den Batí nich'. Aber es war halt einer der Herrscher, das is' was anderes.“
„Also tut mir leid, aber das ist vollkommen absurd. Lennys mag ja vieles sein. Aber abergläubisch ist sie sicher nicht!“
„Keine Ahnung. Du wolltest ja die Gerüchte wissen. Hab dir gleich gesagt, dass es nur Gerede ist.“ Er schluckte den letzten Happen hinunter. „So, lässte mich jetz' wieder?“
Seit Stunden hatten sie kein Wort gesprochen. Längst war die Nacht hereingebrochen und mit ihr war schier undurchdringlicher Nebel aufgestiegen, der alles verbarg, was mehr als nur ein paar Schritte entfernt war. Immer wieder mussten sie im letzten Moment die Richtung ändern, bevor der Boden allzu sumpfig und gefährlich wurde. Ein Pfad war kaum mehr zu erkennen.
Das Heulen des Windes war stärker geworden. Laute, die weder Mensch noch Tier gehörten, aber dennoch wie die eines lebenden Wesens klangen, jagten den Cas Schauer über den Rücken, auch wenn sie keine Angst davor empfanden. Dennoch war es selbst nach so langer Zeit unmöglich, sich daran zu gewöhnen.
Keiner wusste, wie weit die Waldgrenze noch genau entfernt war. Zwar gab es Karten, doch die wenigen markanten Punkte in dieser Gegend wie ein größerer See, ein besonders hoher Hügel oder eine halb verfallene Brücke, von der längst niemand mehr wusste, wer sie aus welchem Grund errichtet hatte, lagen weit von ihrem Weg entfernt und wären bei diesen Sichtverhältnissen ohnehin kaum auszumachen gewesen. Horem glaubte, dass sie gegen Morgen ein Gebiet erreichen konnten, das festeren Boden und somit eine höhere Reitgeschwindigkeit zuließ, so dass sie, sofern es keine besonderen Vorkommnisse gab, am Mittag endlich die letzten Ausläufer der Singenden Sümpfe hinter sich lassen konnten. Aber dies war nur eine vage Schätzung. Tatsächlich fühlte auch er, der beste Kundschafter und Fährtenleser der Gruppe, sich ein wenig verloren und sehnte sich sogar ins Felsland zurück, gegen das er nicht minder gewettert hatte.
Nach mehreren weiteren ereignislosen Stunden sorgten zwei verirrte Hantua dann aber doch noch dafür, dass die Sichelländer den Trübsinn, den die Sümpfe verbreiteten, für kurze Zeit vergaßen. Wieder war es Horem, der zuerst auf die Feinde stieß. Ihre Spuren hatte er nicht gefunden, doch Zrundirs Soldaten machten viel unmissverständlicher auf sich aufmerksam.
„So dumm können die doch nicht wirklich sein.“ Der ausschauhaltende Cas, der der Gruppe ein Stück vorausritt, zog hart an den Zügeln, so dass sein Pferd abrupt zum Stehen kam. Er verengte seine scharfen Augen zu Schlitzen und durchbohrte mit seinen Blicken förmlich den Nebel bis zu einer Stelle, von der ein schwaches Glimmen zu ihm durchbrach.
Rahor und Lennys schlossen als erste zu Horem auf. Ohne zu fragen, folgten sie seinem Blick.
„Ein Sonnenstein?“ Auch Rahor verbarg seinen Spott nicht. „Die scheinen tatsächlich um den Tod zu betteln.“
„Viele sind es sicher nicht, sogar unter den Hantua gibt es genügend, die wissen, dass die Verwendung eines Sonnensteins uns förmlich anzieht.“ Horem konnte es immer noch kaum glauben.
„Möglicherweise eine Falle.“ Rahor schien skeptisch. „Wer weiß, vielleicht ist genau dort ein Sumpfloch und wenn wir...“
„Nein.“ Lennys stieg ab und landete lautlos auf dem weichen Boden, wobei sie darauf achtete, das verletzte Knie nicht unnötig zu belasten. Sie griff nach ihrer Sichel. „Kein Sumpfloch. Es sind tatsächlich Hantua und sie sind nur zu zweit.“ Sie deutete auf eine Stelle im Schlamm, die nur wenige Schritte entfernt war. Mit viel Mühe konnte man darin halb überschwemmte Fußspuren erkennen, die beim bloßen Vorbeireiten verborgen geblieben wären. „Außerdem fehlt es den Hantua an Verstand, eine solche Art von Plan auszuhecken. Sie hätten ja auch keine Ahnung, wie viele von uns sie damit anlocken würden.“
Rahor sah über die Schulter zurück.
„Die anderen sind auch gleich da.“
„Du bleibst hier und sagst ihnen, dass sie warten sollen. Horem und ich kümmern uns um die Missgeburten.“
Erstaunt hob Rahor die Brauen.
„Ihr beide?“
Doch Lennys antwortete nicht mehr und bahnte sich schon, gefolgt von ihrem Späher, den Weg durch die Schlammlöcher und Schilfstauden, die überall wucherten.
Etwas ratlos blieb der Oberste Cas zurück und schilderte seinen Gefährten kurz darauf, was gerade vor sich ging. Tatsächlich mussten sie nicht lange warten, schon bald kehrten die Shaj und Horem zur Gruppe zurück. Während Lennys es gar nicht erst für nötig hielt, zu berichten, erklärte Horem:
„Nicht der Rede wert. Waren wirklich nur zwei und einer von beiden hat sogar noch geschlafen. War gleich erledigt. Sieht nicht so aus, als wären noch mehr in der Gegend.“
Über diese kurze Unterbrechung wurde auch nicht weiter gesprochen. Sowohl Lennys als auch Horem hatten, wenn auch nicht ohne Bedauern, darauf verzichtet, ihre Kelche zu füllen. Sie wollten keine weitere Zeit verschwenden und hätten nach einem Bluttrunk unweigerlich eine Pause einlegen müssen, die sie sich jetzt nicht leisten konnten und wollten.
Schweigend ritten sie weiter gen Süden. Im Stillen fragte sich Rahor, wie es den cycalanischen Boten gelingen sollte, sie hier zu finden, falls es etwas Wichtiges zu berichten gäbe. Einige Säbelwächter, die die großen Heere anführten, konnten sich natürlich denken, wo in etwa sich die Cas und die Shaj aufhielten und würden, sollte es nötig sein, versuchen, ihre Berichte dorthin zu schicken. Hier in den Singenden Sümpfen war es jedoch aussichtslos, eine einzelne Person oder auch eine kleine Gruppe, wie sie es waren, auszumachen. Vor dem Erreichen des Drei-Morgen-Waldes war also eine Botschaft von den cycalanischen Truppen nicht zu erwarten. Er machte sich deshalb aber keine Sorgen. Seit jeher hatten sie so ihre Kriege geführt, die obersten Kämpfer immer abgespalten von den Heeren, jedoch genauso tödlich für den Feind. Sie mussten ihre Herrscher nicht an die Spitze einer Schlacht stellen, um den anderen Kriegern Mut einzuflößen. Sie mussten nicht ständig taktische Besprechungen abhalten, um die Angriffe zu koordinieren. Jeder, der es in den Rang eines Säbelwächters oder gar Sichelkriegers geschafft hatte, wusste, was zu tun war und wie er die ihm Unterstellten anzuführen hatte, selbst wenn er tagelang keine Befehle oder auch nur Lebenszeichen von den Cas oder der Shaj erhielt. Nicht zuletzt deshalb blieb die Kampfstärke Cycalas unerreicht und würde auch Logs angeblich so furchteinflößender Armee trotzen.
Plötzlich fühlte Rahor einen ungeheuren Stolz in sich aufwallen. Zum ersten Mal seit langer Zeit wurde ihm wieder bewusst, dass er nach der Herrscherin der Nacht der oberste Kämpfer eines Volkes war, das nahezu unbesiegbar schien. Ganz Sacua erzitterte vor der Macht des Sichellandes, die legendären Cas galten seit dem Anbeginn der Zeit als die tödlichste Waffe des ganzen Kontinents. Und er stand an ihrer Spitze. Nicht, weil er besser war als seine acht Gefährten. Nicht, weil er ihnen Befehle erteilte. Sondern, weil er Derjenigen am nächsten stand, die diese Macht in sich verkörperte wie kein anderer. Es würde der Tag kommen, an dem dies ein Ende hatte. Einer von ihnen beiden würde diese Welt für immer verlassen und Rahor wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er der erste war. Er konnte sich ein Cycalas ohne Lenyca Ac-Sarr nicht vorstellen und er wollte es auch nicht. Seine Bestimmung war es, die Shaj mit seinem Leben zu schützen und dies war auch das, was er als sein stärkstes Begehren empfand. Er sehnte sich nicht nach dem Tod, aber er hoffte, dass der Tag, an dem er selbst sein Leben gab, auch einer war, an dem dieses Sterben mit Sinn erfüllt war. Und nichts würde seinem Tod mehr Sinn geben, als dadurch ihr Leben zu erhalten.
Natürlich dachte nicht er allein so. Allen Kriegern und insbesondere den neun Cas war dieses höchste Bestreben gemein. In der Vergangenheit hatte es Generationen gegeben, in denen der Shaj nicht so wie heute aus seinen engsten Gefolgsleuten herausstach. Schwach war er nie gewesen, aber es hatte ihm an dem Glanz gefehlt, den die Ac-Sarr-Linie ausstrahlte. Saton war nicht der erste Nachkomme dieses uralten Geschlechts gewesen, der über die Nacht herrschte, aber die Zeit, da seine Ahnen an der Macht gewesen waren, lag lange zurück. Sie hatten sich zurückgezogen, hinauf nach Yto Te Vel und dort vielfach von sich reden gemacht, oft auch als Cas, zumindest aber als vielbeachtete Krieger. Nicht jedem von ihnen lag es, zu befehlen und viele widmeten ihr Leben eher den alten Kulten und Ritualen, die bis heute überlebt hatten. Mit Saton waren die Ac-Sarrs aber wieder auf den Thron zurückgekehrt. Damals war Rahor noch nicht geboren gewesen, aber wie oft hatte sein Vater von jenen Tagen erzählt, da der große Krieger aus dem Norden gekommen war und in Semon-Sey Einzug gehalten hatte. Wie schnell hatte er bewiesen, dass niemand ihm im Zweikampf das Wasser reichen konnte, wie deutlich war der Zuspruch gewesen, den er nicht nur von den Batí, sondern auch von allen anderen Sichelländern erhalten hatte. Und als dann die Wahl des neuen Shajs anstand, gab es schon im Vorfeld keinerlei Zweifel daran, dass er als der Erwählte daraus hervorgehen würde.
Umso tiefer war aber auch der Abgrund gewesen, in den das Land bei seinem Tode gestürzt war. Selbst die Tatsache, dass seine Tochter die Linie weiterführen konnte, tröstete nicht über diesen Verlust hinweg, aber sie gab doch Anlass zur Hoffnung. Zu recht, wie sich bald herausstellte. Die Verehrung, derer Saton sich rühmen konnte, war auch Lennys zuteil geworden, auch wenn sie ihrem Vater längst nicht in allen Bereichen ähnelte. Aber das tat ihrer Beliebtheit und dem Respekt, den man ihr gegenüber empfand, nicht den geringsten Abbruch. Vielleicht strahlte sie sogar noch ein wenig heller.
Wie lange noch? Und vor allem: Was kam dann? Fast jeder verschloss sich diesem Gedanken. Die Wahrheit war bitter und nicht zu leugnen. Lennys hatte keine Kinder. Und allein die Vorstellung, sie könne je einen Nachkommen zur Welt bringen, war absurd. Mit ihr würde eine Linie sterben, die das Sichelland beherrscht hatte wie keine andere. Nicht wenige Cycala waren der Meinung, dass Lenyca Ac-Sarrs Tod – wann auch immer er kommen würde – nicht nur das Ende einer uralten Dynastie war, sondern dass er ein neues Zeitalter bedingen würde. Ein Zeitalter, dass sich wiederum niemand vorstellen mochte.
Was viele nur fürchteten, war für Rahor zur Gewissheit geworden. Das Geheimnis, das Lennys umgab, das Geheimnis der Ac-Sarrs, würde verloren gehen. Es gab kaum etwas, was ihm Angst machte, doch dieser Gedanke erfüllte ihn mit grenzenlosem Schrecken. Dazu kam die Aussichtslosigkeit, es zu verhindern. Menschen starben. Der Tod war ein Teil des Lebens, für jeden unausweichlich. Wie lächerlich erschien doch in Anbetracht dieser Aussichten ein Krieg wie dieser, in dem es nur darum ging, sich an einem unwürdigen Volk zu rächen. Oder war es doch mehr? Hatte nicht die Tatsache, dass ein Verräter ihres eigenen Landes den großen Saton getötet hatte, diese Aussichtslosigkeit erst ausgelöst?
Wäre Saton noch am Leben, wäre vielleicht auch die große Veränderung ausgeblieben, die in Lennys stattgefunden hatte. Und vielleicht hätte sie dann doch die Linie weitergeführt. Vielleicht.
Rahor wischte den Gedanken weg. Er war nicht der Mann, der sich über Dinge den Kopf zerbrach, die nicht zu ändern waren. Schon früh hatte er gelernt, sie hinzunehmen und immer wieder war er darin bestätigt worden, dass es besser war, seine Energien dort aufzuwenden, wo sie Sinn machten und sie nicht zu verschwenden in aussichtslosen Träumereien.
Er kehrte zurück ins Hier und Jetzt. Das Bild seines Landes, an das er so voll Sehnsucht gedacht hatte, verschwand und die nebelverhangenen Sümpfe traten wieder in den Vordergrund. Hin und wieder glaubte er, dass die Hufe seines Pferdes nun etwas härter aufschlugen, als würde sich der Untergrund langsam wandeln und der Morast mehr und mehr schwinden, doch möglicherweise spielten ihm seine Sinne einen Streich, gerade weil er es sich so wünschte. Auch die anderen Cas ließen sich nicht anmerken, ob sie ähnlich empfanden. Ein kurzer Blick nach Osten verriet, dass der Morgen noch auf sich warten ließ, auch wenn sich der Himmel dort schon leicht aufhellte. Bis zum eigentlichen Sonnenaufgang war es noch lange hin.
Müde blinzelte Yos zur Steilküste hinüber. Seine Augen tränten im Wind, aber das störte ihn nicht. Es war wichtiger, rasch voranzukommen und ebendieser Wind war derzeit ihr stärkster Verbündeter.
Am Heck der Barke hatte sich Sara unter einigen Decken zusammengerollt und schlief. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie erst ab dem Morgengrauen das Steuer übernehmen sollte, so dass er dann ein wenig ruhen konnte. Es war besser, wenn er als der weitaus erfahrenere Steuermann und zudem noch dunkelheiterprobtere Sichelländer in diesen tückischen Stunden die Arbeit übernahm. Außerdem hatte er schnell gemerkt, dass Sara wohl in den letzten Tagen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gekommen war. Anscheinend hatte sie sich nicht ausreichend Schlaf gegönnt, von dem sie ja doch mehr benötigte als die Cycala.
Inzwischen empfand Yos mehr Respekt vor der Heilerin, als er anfangs für möglich gehalten hatte. Obwohl Sara ausgesprochen bescheiden von ihren Erlebnissen der letzten Wochen und Monate berichtet hatte, war ihm doch nicht entgangen, dass sie durchaus nicht zu unterschätzen war. Er nahm an, dass diejenigen, die engeren Kontakt zu ihr hatten, wie zum Beispiel der hohe Cas Rahor, aber auch der Heiler Menrir oder nicht zuletzt Imra, der neue Shaj der Erde, nicht ohne Grund ihren schnellen Aufstieg in der strengen Hierarchie Vas-Zaracs unterstützten. Immerhin war sie nicht nur die Leibdienerin Lennys', sondern als oberste Heilerin der Burg inzwischen durchaus eine Person hohen Ranges, selbst wenn ihr dies gar nicht klar war. Wäre sie eine Sichelländerin, so hätten viele Cycala auf der Straße das Haupt vor ihr geneigt.
Nach allem, was er inzwischen herausgefunden hatte, war ihre Abstammung tatsächlich Saras größtes Problem. Sie war mutig, klug, talentiert und überdies sogar eine recht brauchbare Säbelkämpferin, Dies hatte sie ihm natürlich nicht selbst berichtet, aber Gerüchte über ihr Geschick mit der Waffe hatten bereits kurz nach ihrer Ankunft in Semon-Sey die Runde gemacht.
Yos war nicht dumm. Manchmal hatte er Schwierigkeiten, seine Gedanken in richtige Worte zu fassen, die aber, wenn es ihm doch gelang, nicht besonders weise klangen. Aber er hatte ein Gespür für die Gefühle der Menschen und häufig erwiesen sich seine Vorahnungen als richtig. Schon bevor er Sara kennengelernt hatte, war ihm einiges zu Ohren gekommen, dass ihn zu der Annahme verleitete, dass die Mittelländerin nicht ohne weiteres mit den bisherigen Dienerinnen der Shaj zu vergleichen war. Und dieser Eindruck hatte sich seit gestern noch verstärkt. Es änderte nichts daran, dass er dieser Reise hier kritisch gegenüber stand, ja mehr noch, dass er sie schon fast verfluchte und ihr baldiges und hoffentlich gutes Ende herbeisehnte. Aber er fing an, sich seinem Schicksal zu fügen und sogar ein wenig dankbar dafür zu sein, dass es ihm Sara an die Seite gestellt hatte und nicht irgendein naives Mädchen, dass schon beim Gedanken an die Seefahrt Albträume bekam. Nein, da hätte es ihn schlimmer treffen können.
Er stand auf, nahm sich eine Decke vom Stapel und hing sie sich über die Schultern. Der Fahrtwind war eisig, hielt ihn aber wach und erinnerte ihn daran, dass der Winter sich dem Ende neigte. Yos hatte schon schlimmere, härtere Winter erlebt als diesen. Die meisten waren im Grunde härter gewesen. Wochenlange Schneestürme und ein zugefrorener Fluss hatten ihn und seinen Onkel nicht nur gesundheitlich an ihre Grenzen gebracht, sondern auch noch dafür gesorgt, dass sie über einen langen Zeitraum so gut wie kein Silber verdient hatten.
Vielleicht war es in diesem Jahr ein gutes Omen. Überhaupt war es eine ungewöhnliche Zeit. Nicht nur der milde Winter, seine unerwartete Fahrt in den Süden und die Hoffnung auf Heilung für seinen Onkel Rumpamar gaben seinem Leben eine plötzliche Wendung, sondern auch die Ereignisse, die das ganze Land in Atem hielten. Erzählte man sich nicht, ein früherer Cas hätte Cycalas an den Feind verraten? Und dann diese seltsamen Geschichten aus dem Südreich. Der fortwährende Krieg mit Zrundir, der nun zu Ende gebracht werden sollte. Der plötzliche Tod des guten Makk-Uras und die Nachfolge eines zwar sympathischen, jedoch nicht wirklich bekannten Webers auf den Thron des Shajs. Und all die Geschichten um die Herrscherin Lennys. Ganz allmählich brach rings um das alltägliche Leben in scheinbares Chaos aus und jetzt hatte es sogar ihn, Yos, Neffe eines bescheidenen Fährmanns, erreicht. Was wartete noch auf ihn?
Das Meer wurde unruhiger. Die Wogen schlugen höher, als dass nur der Wind sie verursachen konnte. Zuerst glaubte Yos, er täusche sich, aber der Eindruck verstärkte sich zusehends und ein Blick zur den nahen Klippen verriet ihm schnell den Grund. Sie türmten sich nun immer höher auf, wurden noch schroffer und verliefen nach unten hin bald so zerklüftet, dass er die Barke weiter auf den Ozean hinaus steuern musste, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, auf einen Felsen dicht unter der Wasseroberfläche aufzulaufen.
Er kannte diese Gegend, auch wenn er nicht oft hier gewesen war. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, sie so früh zu erreichen. Das Glück war auf der Seite der Heilerin, denn ursprünglich hatte Yos geglaubt, frühestens zum Sonnenaufgang diese Stelle zu passieren.
„Sara!“ rief er laut genug, um den Wind und die Wellen zu übertönen. Jetzt wagte er es besser nicht, den Steuerplatz zu verlassen und sie durch ein Rütteln zu wecken.
„Sara, wach auf!“
Als hätte sie nur auf den Weckruf gewartet, schnellte die Heilerin hoch.
„Ist etwas passiert?“ fragte sie verwirrt und sah sich um.
„Nein, nichts ist passiert. Aber siehst du das da?“ Er deutete in Richtung Land. „Die Silberberge! Cycalas' größter Schatz!“
„Ehrlich gesagt, ich erkenne nicht viel!“ Auch Sara musste sich anstrengen, gegen die Elemente anzuschreien. „Ich habe nicht deine Augen, es ist einfach zu dunkel!“
„Macht nichts! Hab dich auch nich' geweckt, damit du sie anguckst! Sondern weil du dich jetzt entscheiden musst!“
„Entscheiden? Wofür denn?“
„Wie es weitergehen soll! Weiter an der Küste entlang oder direkt nach Süden? Ich sags dir, aufs offene Meer raus – das is' gefährlich! Weiss nich, ob die Barke das schafft! Aber es spart Zeit! Ich würd's nich machen, aber fragen muss ich dich ja!“
„Wieviel länger dauert es denn, wenn wir den sicheren Weg nehmen?“
„Mindestens einen Tag! Wenn's Wetter so bleiben würde, könnte man's vielleicht riskieren. Aber wenn ein Sturm kommt...“
Ein Tag. Zuviel, um den Vorteil zu ignorieren. Die Entscheidung war schwierig.
„Wenn's hell is, kann ich vielleicht mehr sagen. Wegen dem Wetter!“ rief Yos jetzt.
Sara nickte. „Tu, was du für richtig hältst! Ich will so schnell wie möglich in den Süden. Aber vor allem will ich lebend dort ankommen!“
„Bis Sonnenaufgang bleib' ich in der Nähe der Küste! Is' sicherer! Ich mach' das schon! Kannst noch schlafen, hier würd' ich dich nich' mal fahren lassen, wenn's hell wäre!“
Doch das Tosen und Heulen und das jetzt viel stärkere Schaukeln des Bootes machten es Sara schwer, wieder zur Ruhe zu kommen. Immer, wenn sie gerade wieder in den Schlaf hinüberglitt, riss eine besonders hohe Welle oder eine starke Böe sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Ihre Erschöpfung siegte erst im Morgengrauen.
Horem strahlte, als er die Anhöhe wieder herabstieg. Es war die erste größere Erhebung seit vielen Stunden und somit eine Gelegenheit, die Gegend weiter zu überblicken als bisher. Inzwischen war es vollständig hell geworden, der Nebel aber war geblieben.
„Der Drei-Morgen-Wald!“ rief er seinen Gefährten zu, die ihn gerade einholten. „Man kann ihn bereits sehen! Es ist nicht mehr weit!“
„Wie weit genau?“ fragte Lennys.
„Ein paar Stunden. Noch vor dem Mittag sind wir raus aus diesen widerlichen Sümpfen!“
„Ich kann es kaum erwarten.“ Auch Rahor setzte nun wieder eine freundlichere Miene auf. „Gab es sonst noch etwas Interessantes zu sehen?“
„Keine Hantua, wenn du das meinst.“
„Und sonst?“
„Nebel. Und noch mehr Nebel. Scheint aber am Wald besser zu werden.“
„Sehr aufregend.“ meinte Lennys trocken. „Nebel also. Da wären wir ohne dich sicher ganz überrascht gewesen.“
Erstaunt drehte sich Rahor zu Lennys um. So viel Humor bewies sie ausgesprochen selten. Gerade in den letzten Stunden war er sicher gewesen, ihre Laune bewege sich stetig einem absoluten Tiefpunkte entgegen. Mit diesem Empfinden war er auch nicht allein, denn sämtliche Cas vermieden überflüssige Wortwechsel und unnötige Verzögerungen, um nicht Ziel eines plötzlich hervorbrechenden Wutanfalls ihrer Herrin zu werden.
Und nun das.
„Ich hab Hunger!“ bemerkte Haz-Gor, ebenfalls ermutigt durch Lennys' letzte Bemerkung. „Altes Brot und getrockneter Fisch – ich brauch endlich was Vernünftiges zwischen den Zähnen!“
„Vielleicht hätten wir Afnan mitnehmen sollen.“ Zom setzte einen träumerischen Gesichtsausdruck auf. „Der hätte uns einen leckeren Sumpfwurmeintopf kochen können.“
Die Cas lachten.
„Oder Stechmückensuppe!“
„Krötenbraten!“
„Schlangeneier!“
Mit einem Mal schienen alle wie ausgewechselt und alberten durcheinander. Lennys sah sich den plötzlichen Ausbruch nicht lange an.
„Genug jetzt! Sobald wir am Waldrand sind, werden Haz-Gor und Zom sich um etwas Essbares kümmern. Das Jagen habt ihr ja wohl nicht verlernt?“ Ohne ein weiteres Wort stieß sie dem Hengst die Fersen in die Flanken. Sie kamen jetzt erheblich schneller voran, seit die Tümpel und Schlammlöcher immer weiter von ihrem Weg zurückwichen. Dennoch mussten sie noch immer mit zahlreichen Tücken kämpfen. Nicht lange, nachdem sie die Anhöhe hinter sich gelassen hatten, entkam Horem beim Untersuchen einiger abgebrochener Schilfhalme nur knapp den Zähnen einer Wasserschlange, die er aufgeschreckt hatte. Und gleich darauf mussten sie einen weiten Bogen um einen See herum schlagen, aus dem stinkende Blasen aufstiegen und an dessen Ufer der Boden wieder viel zu sumpfig wurde, um gefahrlos entlangreiten zu können.
Doch dann endlich veränderte sich ihre Umgebung immer schneller. Schlamm wandelte sich zu fester Erde, Schilf und Schlingpflanzen machten buschiger Vegetation Platz und statt dem Sirren der Stechmücken und dem nie ganz verebbenden Jaulen, das den Singenden Sümpfen ihren Namen gab, dominierte bald wieder der Gesang von Vögeln.
„Singende Sümpfe.“ schnaubte Faragyl. „So ein Blödsinn. Stinkende Hölle sollten sie es nennen. Das war ja nicht zum Aushalten!“
Im Schutze mehrerer alter Kiefern gönnten sie sich jetzt eine Pause. Haz-Gor und Zom erfüllten ihre Pflicht und hatten sich gleich aufgemacht, um den Wald nach Nahrung zu durchstreifen, während sich die anderen um Feuerholz, frisches Wasser und die Versorgung der Pferde kümmerten.
„Hier ist der Winter wohl wirklich vorbei.“ Rahor zupfte am Zweig einer Birke. „Wird schon grün. Meine Güte, da wäre in Cycalas noch nicht daran zu denken.“
„Und trotzdem jammern die hier immer.“ Balman bot ihm einen Schluck aus der letzten Sijakflasche an, die er noch im Vorrat gefunden hatte. „Wenn bei denen im Herbst die ersten Blätter fallen, schreien sie schon nach dem Frühling und beschweren sich über die Kälte.“
„Na, was kann man auch erwarten von... Ach, sieh mal einer an.“ Grinsend wies Rahor auf drei Gestalten, die direkt auf sie zukamen.
Haz-Gor und Zom wussten wohl nicht so ganz, was sie von ihrem Jagdglück halten sollten. Zwischen sich führten sie einen reichlich zornigen Mittelländer, der trotz der Fesseln, die seine Handgelenke umschlossen, alles daran setzte, dieser Gefangennahme zu entfliehen. Zoms harter Griff und Haz-Gors scharfe Worte beeindruckten ihn nur wenig.
Der Mann war etwa in Sham-Yus Alter, jedoch viel kleiner und schwächlicher als der junge Cas. Er trug abgewetzte Kleidung und wirkte alles in allem wie jemand, der sein Heim gegen die Wildnis eingetauscht hatte.
„Lasst mich los, ihr sichelländischen Bastarde!“ fluchte er. „Was fällt euch ein? Haut ab, dahin, wo ihr hergekommen seid.“
Rahor lachte und auch die anderen Cas waren inzwischen aufmerksam geworden.
„Also ehrlich, Haz, da hättest du besser einen Hirsch gejagt. An dem da ist doch nichts dran, davon werden wir nicht satt!“
Mit einem Mal wurde der Gefangenen bleich.
„Ist jetzt nicht euer Ernst, oder? Wollt mich nur einschüchtern!“
Haz-Gor hätte nur allzu gern etwas darauf erwidert, doch gerade in diesem Moment kam Lennys von der Quelle zurück, die sich nicht weit entfernt befand.
Ohne großes Interesse musterte sie den Mittelländer. „Warum bringst du so etwas hierher?“ fragte sie Haz-Gor.
„So etwas?“ Sofort keifte der Mann wieder los. „Was glaubst, wen du vor dir hast, elende...“
Das Wort blieb ihm förmlich im Halse stecken als Zom ihn hart am Kragen packte. „Was glaubst du, wenn du vor dir hast, du Ungeziefer?“
„Das reicht.“ Lennys Blick wechselte zwischen Haz-Gor und Zom. „Was soll das also?“
„Er hat uns gesehen, als wir einem Reh auf der Spur waren. Hat sofort losgewettert, dass er das irgendwelchen Wachen melden will. Ist natürlich Unsinn, das nächste Dorf ist viel zu weit entfernt. Aber laufen lassen wollten wir ihn dann doch nicht.“
„Meine Güte, warum habt ihr ihm nicht einfach die Kehle durchgeschnitten? Was soll ich mit ihm?“
Inzwischen gab der Gefangene keinen Laut mehr von sich. Allmählich wurde ihm der Ernst seiner Lage klar.
„Wir dachten, du wolltest ihn vielleicht vorher noch befragen.“
„Nein. Wozu auch? So einer kann uns nichts sagen, was von Belang wäre. Schafft ihn weg.“
Sie würdigte den verwilderten Mann keines Blickes mehr. Dieser aber begriff nun, dass sein Leben dem Ende zuging und versuchte verzweifelt, das Unausweichliche doch noch abzuwenden.
„Ich weiß vieles! Was willst du hören? Etwas über Log? Oder über Goriol? Oder über... über... Ich weiß, du willst wissen, wo sich diese Zrundir-Monster verstecken! Ich sage dir alles!“
Ohne sich umzudrehen fragte Lennys:
„Wann wird Log sein Heer aus Manatara abziehen und ins Mittelland schicken?“
Der Gefangene war verwirrt.
„Das... woher soll ich das wissen?“
„Es ist das einzige, was mich interessiert.“ In diesem Satz lag soviel kalte Endgültigkeit, dass der Mittelländer nicht mehr fähig war, etwas darauf zu erwidern.
Das Reh, das Haz-Gor und Zom letztendlich doch noch erlegen konnten, war für die Cas eine willkommene Abwechslung gegenüber der kargen Proviantreste, an die sie sich bis jetzt hatten halten müssen. Auch die Tatsache, dass die Leiche des mittelländischen Gefangenen noch fast in Sichtweite von ihnen im Unterholz lag, schien ihren Appetit eher noch zu steigern. Zom hatte nicht lange gezögert und nach Lennys letzten Worten zu dem Mann sofort seinen Dolch gezückt. Er hatte kein Interesse daran gehabt, ihn lange zu quälen und ihm daher einen raschen und fast schon gnädigen Tod beschert.
„Wenn wir wirklich alle Mittelländer umbringen, die unseren Weg kreuzen, sollten wir uns einen Schmied aus Cycalas kommen lassen, der zwischendurch unsere Sicheln schleift.“ grinste Faragyl zwischen zwei Bissen.
„Der soll aber dann über den Westbogen gehen.“ empfahl Sham-Yu. „Diese Sümpfe würde ich niemandem mehr zumuten.“
„Schluss damit.“ fuhr Lennys sie scharf an. „Ihr vergesst, wer ihr seid und was eure Aufgabe ist. Wir befinden uns hier nicht auf einem Festumzug. Sobald ihr alle gegessen habt, reiten wir weiter, die Pause war lang genug. Unser nächstes Lager werden wir erst am Mondsee aufschlagen, wenn ihr also müde seid, seht zu, dass wir so schnell wie möglich dorthin kommen.“
„Halten die Pferde noch so lange durch?“ fragte Rahor zweifelnd. „Seit dem Ostbogen sind sie kaum zur Ruhe gekommen.“
„Die Mondpferde haben mehr Durchhaltevermögen als ihr, wie mir scheint. Ich frage mich wirklich, wie ihr es zu einem so hohen Rang gebracht habt!“
Keiner der Cas wagte, etwas darauf zu erwidern. Hastig schlangen sie ihr Mahl hinunter, sammelten ihre Sachen zusammen und verstauten die Reste des Rehbratens. Kurz nachdem die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten hatte, waren sie schon wieder auf dem Weg.
„Hast du immer so ein Glück?“
Yos schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Der befürchtete Sturm war ausgeblieben, stattdessen strahlte über ihnen ein blauer Himmel und eine stetige Brise schickte sie zügig gen Süden. Kaum, dass der Tag angebrochen war, hatte der Fährer eine erste Voraussage gewagt und erwägt, dass eine Fahrt über das offene Meer gelingen könne. Sollte aber doch einer der häufigen Winterstürme urplötzlich über sie hereinbrechen, so wären sie verloren. Ob ein einziger Tag, den sie durch den direkten Weg vielleicht gewinnen könnten, dieses hohe Risiko rechtfertigen würde, hatte er gefragt.
Sara war sich der Verantwortung ihrer Entscheidung bewusst. Es ging nicht nur um ihr Leben, sondern auch um das des jungen Mannes, der zweifellos die sichere Alternative entlang des Sichelbogens bevorzugte. Aber ein ganzer Tag – wertvolle Zeit. Viel zu wertvoll, um sie nicht zu nutzen. Und sie hatte sich entschieden. Für die Gefahr und gegen die Küste.
Die Natur stärkte ihnen den Rücken. Noch. Sie hatten schon fast die Hälfte der gefährlichen Passage hinter sich gebracht. In der kommenden Nacht würden sie wieder sicherere Gefilde erreichen und Land vor sich haben, wo sie, sollte sich über ihnen doch noch ein Unwetter zusammenbrauen, Schutz suchen konnten. Jetzt galt es diese Stunden noch heil zu überstehen und die Zeichen dafür standen mehr als gut.
„Ich hatte noch nicht viele Gelegenheiten, mich auf mein Glück zu verlassen.“ gab Sara zu.
„Na, dann hast es zumindest noch nich' aufgebraucht.“ lachte Yos. Er war ausgesprochen guter Laune. Nicht nur, weil sie so zügig vorankamen und das Wetter auf ihrer Seite stand, sondern auch, weil er zunehmend Gefallen an dieser Reise fand. Sie war sein ganz persönliches Abenteuer und wenn er irgendwann ins Sichelland zurückkehrte, konnte er bei Freunden und auch bei seinem Onkel damit sicher jede Menge Respekt verdienen. Seine Zweifel und sein Ärger verschwanden zusehends, zumindest, solange er nicht mit Widrigkeiten zu kämpfen hatte.
„Es ist schade, dass ich die Silberberge nicht richtig sehen konnte.“ meinte Sara dann. „Ich habe schon viel von ihnen gehört.“
„Na, eigentlich haste da nich' viel verpasst. Sind halt Berge. Das, was an ihnen so besonders ist, siehste ja nich' von außen.“
„Stimmt es, dass sie von Sichelkriegern bewacht werden?“
„Die Minen, ja. Also nich' nur von Sichelkriegern, auch von Säbelwächtern und so. Im Moment vielleicht nich' mal das, wir brauchen die guten Kämpfer ja alle im Süden. Aber trotzdem kommt keiner in die Stollen, der nich' rein darf.“
„Habt ihr keine Angst, dass das Silber dort eines Tages ausgeht?“
Wieder lachte Yos.
„Neee, also wir werden das nich' erleben. So viel brauchen wir ja auch wieder nich' und du kannst dir die Mengen gar nich' vorstellen, die noch in den Bergen liegen.“
„Und trotzdem ist es so wertvoll? Obwohl genug da ist?“
„Ja klar. Is ja auch nich' so leicht, da 'ranzukommen. Is' schon 'ne schwere Arbeit. Und die Silberschmiede, die daraus den Schmuck und so machen, gibt’s auch nich' überall. Sind nich' viele, die das beherrschen. Haste mal solche Stücke gesehen? Ich mein' jetzt nich' Kerzenhalter und Sicheln und so. Sondern die richtig wertvollen Sachen.“
Sara überlegte. Dann fiel ihr etwas ein.
„Ich habe einmal einen Anhänger gesehen. Er zeigte Ash-Zaharr.“
„Ah, die geflügelte Schlange. Jaa, sowas mein' ich. Hast es bei der Shaj gesehn, nehm' ich an? Ich weiss schon, die Ac-Sarrs hatten sowas schon immer. Gibt auch andere, aber man sagt immer, ihre wären die schönsten und wertvollsten.“
„Es ist wohl eine sehr reiche… Familie?“
„Na, das kannste laut sagen. Und alt. Die gibt’s schon von Anfang an. Und die haben wohl auch mehr Silberkram als alle anderen. Viel Ritualzeug. Das sind so Batí von der obersten Riege. Hängen an den alten Kulten und so. Deshalb haben die Leute ja auch immer ein bisschen Angst vor ihnen. Ich glaub, von manchen Sachen hat man sogar im Süden schon gehört. Is' schon komisch, da wissen die Mittelländer und so fast nichts von unserem Land, aber den Blutkult der Batí kennen dann doch die meisten. Naja, haben wohl im Krieg einiges gesehen.“
„Viele glauben aber auch, dass das nur ein Märchen ist. Oder das Gegenteil. Nämlich, dass alle so sind.“
„Weißte, uns isses egal, was man im Süden denkt. Nichts für ungut. Bist ja sowieso 'ne Ausnahme. Aber für uns macht's halt keinen Unterschied, was man woanders glaubt.“ Plötzlich wurde er ernst. „Sag mal... Du weißt aber schon, was sie da unten jetzt machen, oder? Ich mein', die Cas und die Shaj und auch die anderen Sichelländer.“
„Ja, ich denke schon.“
„Und das stört dich nich'? Ich mein', is' ja deine Heimat irgendwo. Haste da keine Freunde oder so?“
„Nein.“
„Aber, wenn ich's richtig verstanden hab', dann willste uns doch helfen, oder? Obwohl dabei Leute aus deinem Land draufgehen?“
„Es geht mir nicht um den Kampf, Yos. Ich werde euch helfen, notfalls auch mit dem Säbel, wenn es darum geht, eure Feinde zu besiegen. Aber ich werde keine Unschuldigen töten.“
„Na, das mit der Unschuld is' immer so 'ne Sache. Die Shaj würde wohl sagen, dass sie auch keine Unschuldigen umbringt, weil für sie eigentlich jeder Fremdländer auf 'ne eigene Art schuldig is'.“
„Ich will überhaupt niemanden umbringen, wenn es nicht sein muss.“
„'Ne merkwürdige Einstellung. Auf der einen Seite machste alle verrückt, damit dich jemand in den Süden bringt zur Shaj, damit du zusammen mit ihr kämpfen kannst. Und dann sagste, du willst nur töten, wenn's sein muss. Warum biste dann nich' gleich in Cycalas geblieben?“
Sara sah ein, dass Yos überhaupt nicht begriffen hatte, worum es ihr ging.
„Ich gehe nicht in den Süden, um an ihrer Seite zu kämpfen. Es gibt andere Dinge, die ich für sie tun kann. Glaube ich. Oder ich hoffe es zumindest. Ich kann das jetzt nicht erklären.“
„Naja, musste auch nich', hab' ja schon gemerkt, dass du in dem Punkt empfindlich bist. Aber komisch isses trotzdem. Und komm' ja nich' irgendwann zu mir, von wegen du hättest nich' gewusst, was dich erwartet. Die Sichelkrieger sind nich' so wie du. Da, wo die auftauchen, gibt’s Tote. Und davon jede Menge. Wirst viel Tod sehen, wenn du ihnen folgst. Wird dir nich' immer gefallen.“
„Das weiß ich.“
„Hab' gehört, dass die Hantua wieder in der alten Festung sind, stimmt das? Da wo diese Fürstin mal gewohnt hat.“
„Ja, das ist richtig.“
„Dachte immer, das wäre nur noch 'ne Ruine. Wer will denn da schon noch hin? Obwohl ich's ja schon 'mal gern sehen würde. Is' ja doch sowas wie ein denkwürdiger Ort oder wie man so sagt.“
„Ich fand ihn nicht so besonders interessant.“
Yos war überrascht.
„Ach, du warst schon mal da? Ah, stimmt, ich hab da mal was gehört, die Shaj wäre kürzlich im Verlassenen Land gewesen. Hat aber wohl 'n paar Probleme gegeben. Und da warst du dabei?“
„Ja, aber bitte Yos, frag mich nicht weiter danach. Es ist richtig, die Erinnerung daran ist nicht besonders schön.“
„Aber kommste nich' da vorbei? Wenn du von den Ruinen bis nach Osten rüber willst?“
„Das wird sich zeigen. Es gibt viele Wege. Zuerst muss ich ja einmal herausfinden, wo Lennys und die Cas dann überhaupt sind.“
„Hast dir ja ganz schön was vorgenommen. Wenn nich' mal die Säbelmeister wissen, wo genau die Shaj grade steckt, wie willst'n du das dann rauskriegen? Kannst ja auch nur nach dem gehen, was man so erzählt.“
„Und was erzählt man?“
„Das weisste doch längst. Die einen meinen halt, dass sie wirklich zu der alten Burg will. Wegen irgendsoeinem Verräter. Glaub' ich ja nich' dran, ehrlich gesagt. Aber viele denken auch, sie gehen direkt zu Log. Und auf'm Weg dahin nehmen sie alles mit, was ihnen vor die Sichel kommt, wenn du verstehst, was ich meine. Aber Log is' ja auch nich' dumm, der kriegt das mit. Wäre ja schön blöd, wenn er in seiner Stadt bleibt. Dazu is' er zu feige. Der sucht sich bestimmt irgendwo anders ein Versteck.“
„Meinst du wirklich? Was denkst du, Yos, wo könnte er hingehen?“
„Na, das müsste ich dich fragen. Kenn' mich doch nich' aus im Süden. Woher soll ich wissen, wo er hin kann?“
Doch auch Sara konnte nur mit den Achseln zucken. In Manatar kannte sie gerade einmal den Mongegrund und die Vorstellung, Log würde sich vielleicht in Fangmor oder Westmonge im Wirtshaus verbergen, war einfach lächerlich. Auf die Idee, dass Log überhaupt fliehen könnte, war sie noch gar nicht gekommen. Aber Yos hatte natürlich recht. Sobald der König des Südreichs erfuhr, dass die obersten Krieger des Nordens Jagd auf ihn machten, würde er nicht die Dummheit begehen und in Log-Stadt auf sie warten. Vielleicht hatte er auch die Cycala dorthin gelockt, um sie dann anzugreifen, aber das musste noch lange nicht heißen, dass er selbst in seinem Palast blieb. Selbst wenn seine Soldaten dort noch in großer Zahl den Palast umringten, um ihn zu beschützen, so musste ihm doch klar sein, dass er an einem anderen, geheimen Ort sicherer war. Vielleicht in Ontur? Oder gar auf der Chaz-Insel? Oder er würde Manatar ganz und gar verlassen und im Mittelland nach einem Versteck suchen. Sofort schoss Sara das Bild des Nebeltempels durch den Kopf und sie musste ein wenig lächeln. Log als Flüchtling in Beemas Gemächern. Der Oberin würde dies sicher gefallen.
„Was grinst du denn so?“ fragte Yos misstrauisch.
„Ach, es ist nichts. Ich musste nur gerade an meinen alten Tempel denken.“
„Haste Heimweh?“
„Nein, sicher nicht. Ich will nie wieder dahin zurück. Und die Priesterinnen dort sind sicher auch froh, dass sie mich los sind.“
„Na, die würden ganz schön gucken, wenn sie wüssten, was aus dir geworden is'.“
Da fiel Sara ein, dass es doch jemanden aus dem Tempel gab, den sie vermisste.
„Yos, hast du schon einmal von Gromuit gehört?“
„Gromuit? Hm, wart mal, lass mich überlegen. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Der kam doch aus Askaryan, oder?“
„Ja, ich glaube. Er war ein Säbelwächter.“
„Kann sein. Wie kommste denn auf den?“
„Ich kenne ihn. In Cycalas dachten viele, er wäre im Krieg gefallen, aber das stimmt nicht. Aber ich habe erst später erfahren, dass er ein Sichelländer ist.“
„Dann lebt er im Süden oder was?“
„Ja, im Mittelland.“
„Na, dann frag ihn doch.“
„Was soll ich ihn fragen?“
„Na, wie du die Cas und die Shaj finden kannst. Wenn er ein früherer Säbelwächter is', kann's ja gut sein, dass er 'was mitkriegt.“
Sofort hellte Saras Miene sich auf.
„Du hast recht, ich könnte es versuchen. Es wird zwar nicht leicht, an ihn heranzukommen, aber vielleicht ist das die beste Möglichkeit, die ich habe. Allerdings... er lebt weit im Osten. Ich müsste quer durch das gesamte Mittelland reisen. Das kostet Zeit.“
„Na, auch nich' mehr, als wenn du einfach drauflos suchst.“
Zweiundzwanzig.
Es war keine besonders große Herausforderung gewesen, aber die Größe der Gruppe war ungewöhnlich. Wieder einmal.
Der Drei-Morgen-Wald schien voll mit Hantua zu sein, erst kurz davor waren sie auf einen kleinen Verband von vier Soldaten gestoßen, gleich darauf noch einmal auf einen einzelnen Nachzügler. Und jetzt das. Zweiundzwanzig.
Sie hatten keine Schwierigkeiten gehabt, den Gegnern Herr zu werden. Ein paar der Zrundir-Kämpfer waren keine missgestalteten Kreaturen gewesen, sondern muskelbepackte Männer, die wohl aus Iandals direktem Gefolge stammten und früher im Lande Orio gedient hatten. Es erschwerte den Kampf nicht nennenswert, denn obwohl sie intelligenter waren als die verbündeten Hantua, so waren sie doch weniger kräftig und ausdauernd. Nur ihr Blut schmeckte süßer und wirkte stärker. Lennys überraschte dies nicht, denn es waren genau jene Männer gewesen, die zwölf Jahre zuvor in derselben Schlacht gekämpft hatten wie sie selbst – hinter den Festungsmauern von Orio, dem verfluchten Ort, an dem die Fürstin durch ihre Hand vernichtet worden war.
Die Tatsache, dass sie bereits zweimal innerhalb kürzester Zeit auf Hantuagruppen gestoßen waren, die an Größe alles bislang Gewohnte übertrafen, war nur wenig beunruhigend. Im Kriege kamen solche kurzzeitigen Zusammenschlüsse durchaus vor. Es war auch anzunehmen, dass in diesen Fällen ein früherer orionischer Gefolgsmann die Führung solcher Gruppen übernahm und so dafür sorgte, dass die plumpen Krieger sich nicht allzu schnell selbst an die Gurgel gingen.
Dass dieses Aufeinandertreffen eine weitere Verzögerung mit sich brachte, störte niemanden, am allerwenigsten Lenyca Ac-Sarr. Neben dem Ziel, möglichst schnell Log-Stadt zu erreichen, war es ja vor allen Dingen ihr Ansinnen, recht viele Hantua in den Tod zu schicken. Die großen Schlachten überließen sie den Säbelmeistern und den cycalanischen Heeren, was aber nicht bedeutete, dass sie sich aus jeglicher weiteren Kampfhandlung heraushielten. Genausowenig würden sie es ignorieren, wenn tatsächlich in ihrer Nähe eine ganze Armee aus Zrundir auf die sichelländischen Truppen traf. Aber sie legten es nicht darauf an, erst recht nicht, solange der König Manatars und vor allen Dingen Iandal noch am Leben waren, Diese beiden Männer hatten absoluten Vorrang und ihr Tod würde den Krieg deutlicher entscheiden als jede noch so große Schlacht.
Nicht zuletzt deshalb galt es auch, möglichst lange nicht allzu offensichtlich in Erscheinung zu treten. Sie hätten einen direkteren, schnelleren Weg nach Süden wählen können, über den Ben-Apu und durch die Mittelebenen vielleicht. Doch je länger sie verborgen im Wald blieben, desto besser. Selbst der Fluss, dem sie danach zu folgen gedachten, bot zahlreiche Möglichkeiten sich zu verbergen, dank steiler Uferhänge, dichter Schilfwände und kleinerer Forste, die sich an ihn drängten.
Trotz der berauschenden Wirkung des Bluts von Iandals Soldaten konnten sie es sich jetzt aber nicht erlauben, zu lange auf dieser von Leichen bedeckten Waldlichtung zu bleiben. Sie mussten weiter.
Mit betäubten Sinnen ergriff Lennys die Zügel des Mondhengstes, der wie immer geduldig auf die Befehle seiner Herrin wartete. Wie verschwommen nahm sie die Cas wahr, die sich nun ebenfalls wieder auf das Weiterkommen besannen und die Pferde bestiegen. Keiner machte sich die Mühe, die Toten zu verstecken. Vielleicht würde es nur wenige Stunden dauern, bis man sie fand, vielleicht auch ein oder zwei Tage. Was spielte es schon für eine Rolle? Jeder Gefallene trug die Handschrift der Cycala auf seinem Körper. Aber bis die Nachricht, dass die Gebieter der Nacht das Mittelland mit ihrer Rache überzogen, die Runde gemacht hatten, war ein großer Teil des Heeres schon längst in diese Gegend eingezogen. Zu spät für eine Flucht. Lennys war zufrieden.