Читать книгу Weltgefühl - Christine Enzinger - Страница 6

Оглавление

2. Weltgefühl

Immer wieder werden wir gefragt, was uns dazu bewegt, unser zu Hause zu verlassen, das Auto zu verkaufen und mit drei Kindern, Rucksack und Zelt in die Welt aufzubrechen. Dazu möchte ich folgende Erlebnisse erzählen:

2.1. Zeit haben

Sommerferien 2017

„Bring das Knoblauchbrot mit. Die Koteletts sind gleich fertig.“, ruft Steve aus dem Garten in die Küche herein. „Kinder, Essen ist gleich fertig!“, rufe ich, während ich das Knoblauchbrot mit den Fingerspitzen schnell aus dem Backrohr fische, so dass ich mich gerade noch nicht verbrenne. In der linken Hand einen Krug mit eiskaltem Zitronenwasser und in der rechten das Knoblauchbrot steige ich durch die Terrassentür in den Garten hinaus. Der Duft nach gegrilltem Fleisch steigt mir in die Nase und ich merke, dass ich schon ganz schön hungrig bin. Ich stelle die Sachen auf den bereits gedeckten Gartentisch und gehe zum Griller hinüber, bei dem Steve und mein Nachbar gemütlich stehen und gemeinsam ein Bier trinken. „Und fährt ihr heuer in den Ferien noch irgendwo hin?“, fragt mein Nachbar gerade, als ich mich dazugeselle. „Nein“, sagt mein Mann gelassen. „Drei Wochen der Ferien sind ja schon um und jetzt haben wir nur mehr sechs Wochen. Da rentiert es sich auch nicht mehr zu verreisen.“ Grinsend dreht er sich zu mir und sieht dann schelmisch zu unserem Nachbarn zurück, weil er genau weiß, dass er gerade dessen wunden Punkt in der schon oft geführten Berufswahldiskussion trifft. Im ersten Moment schaut unser Nachbar wirklich verdutzt, dann merkt er aber gleich, was hier gespielt wird und schimpft dieses Mal nur kurz, nachbarschaftlich freundlich und der Ordnung halber über alle Lehrer Österreichs. Wir wissen, dass er uns um unsere viele freie Zeit beneidet. Wir wissen aber auch, dass er mitbekommt, was wir in der Schule mit den vielen Kindern auch immer wieder leisten.

Eine große Motivation für unsere Reise ist, es Zeit zu haben. Zeit zu haben für alles, was wir schon immer gerne Mal machen wollten, Zeit zu haben für das, was gerade so auf uns zu kommt, soviel Zeit zu haben, dass wir sie sogar „verschwenden“ können. Verschwenderisch mit der Zeit umgehen zu können, das ist ein Luxus, den wir uns gönnen wollen. Zeit haben, um zu staunen über die Kreativität und Buntheit der Menschen, ihre Einfälle und ihre Herzlichkeit. Zeit zu haben für die Welt. Gemeinsam Spiele spielen und gemeinsam spielerisch die Welt kennen lernen. Wie fragt man auf thailändisch, wo das nächste Klo ist? Wie findet man am Flughafen ein Gate, wie den richtigen Zug? Wo sucht man einen tollen Campingplatz? Wie kocht man ohne Küche, wäscht Wäsche ohne Waschmaschine und wie isst man mit Stäbchen? Diese Erfahrungen und noch viele mehr dürfen unsere Kinder machen, weil wir Zeit haben zum Reisen. Dafür braucht es keine Weltreise. Diese Erfahrungen dürfen Kinder auch machen, wenn wir mit ihnen in Urlaub fahren, unser Land für einige Zeit verlassen und mit ihnen reisen. Das wünsche ich jedem Kind. Ab und zu verreisen. Urlaub ist Zeit haben für uns und für jedes einzelne Kind. Diese Zeit ist eine geschenkte Zeit an unsere Kinder, um ihre Persönlichkeit wachsen und reifen zu lassen und um ihr Vertrauen in unsere gemeinsame Welt und ihre Zukunft zu stärken.

2.2. Ganzheitliches Lernen

„Mama, morgen haben wir Geographietest. Ich kann jetzt alle Klimazonen auswendig!,“ freut sich meine Tochter Sarah und ohne abzuwarten bekomme ich die Seite 15 im Geographiebuch auswendig aufgesagt. “Tropen, Subtropen, Mittlerer Breitengrad, Polarzone ...es gibt Polartage, Polarnächte, Zenit ...“ Während ich erfolglos versuche das Gesicht und die Kleidung meiner kleinen Tochter vom Mittagessen zu befreien, frage ich: „Und wie ist es in den Subtropen und Tropen so?“ „Weiß nicht“, entgegnet sie, „das steht erst auf Seite 16 genauer und kommt nicht zum Test.“ Zufrieden klappt sie das Buch zu und geht.

Unser Schulsystem ist eines der besten Schulsysteme der Welt, stellen wir auf unserer Reise immer wieder fest, und doch kann die Schule nur von der Welt erzählen und sie beschreiben. Spüren, wie sich die Hitze der Tropen anfühlt, wie es ist auf einem Elefanten zu reiten, wie es sich anfühlt im Ozean an einem Riff zu schnorcheln und mit einem vietnamesischen Kind um die Wette zu laufen, das sprengt unser Bildungskonzept und alle Lehrpläne.

Feuer machen in der afrikanischen Wüste, auf einem australischen Campingplatz bei 35°C Weihnachten feiern und in Thailand thailändisch kochen zu lernen steht in keinem Lehrbuch. Die Schule ist gut und wichtig. Durch das Reisen bieten wir dazu unseren Kindern noch ein zusätzliches Lernfeld an, indem sie in der Schule Gelerntes integrieren und viele zusätzliche und ganzheitliche Erfahrungen für ihr Leben machen können.

2.3. Frei sein

Sechs Uhr morgens. Der Wecker klingelt. Sophia bekommt einen neuen Zahn und die Nacht war unruhig, trotzdem heißt es aufstehen. Sarah und Elija gehören in die Schule. Stefan ist schon dort. Er genießt es, als Lehrer einer der ersten zu sein, um noch die letzten Vorbereitungen fürs Unterrichten zu treffen. Im Kopf gehe ich die Termine des Tages und das Nachmittagsprogramm der drei Kinder durch. Sarah hat Klavier, Elija Ballspiele und Sophia muss ich mit ihren zwei Jahren überall hin mitnehmen. Zeitlich knapp, aber machbar, stelle ich für mich zufrieden fest. Mit Mühe und den Gedanken an den Kaffee, den ich mir verspreche, zwinge ich mich aus dem Bett und sehe, dass es in der Nacht das erste Mal geschneit hat. Ich spüre kurz die kindliche Freude über die wunderbar weiß zugedeckte Landschaft, ein herrlicher Blick. Zugleich ärgere ich mich aber über den Anblick, weil ich gerade keine Ahnung habe, wo ich die Schihosen der Kinder versteckt habe. Am Küchentisch entdecke ich eine romantische Nachricht meines Mannes: „Elektriker kommt um 9, die Putzfrau hat gestern für die ganze Woche abgesagt und ich komme heute später.“ Bussi, Stefan

Wer kennt ihn nicht, den Wunsch nach der einsamen Insel? Keine Termine haben, nur Sonne, Wärme und jeden Tag ausschlafen. Nicht mehr zu besitzen als einen Rucksack mit etwas Gewand und einer Zahnbürste. Einfach losziehen, schauen, wo es einen hinzieht. In die weite Welt hinein … Meistens kommt dieser Wunsch, wenn uns momentan alles „zu viel“ wird. Dann tut es gut, sich eine Auszeit zu nehmen. Auszeiten sind wichtig, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kinder! Oft reichen dafür auch schon ein Wochenende, ein kurzer Urlaub, ein Tapetenwechsel für die Seele. Kraft tanken, Abstand gewinnen, damit ein Raum zwischen uns und dem Stress entstehen kann, dann können wir Erwachsene und unsere Kinder manche Dinge gleich wieder gelassener nehmen.

Tapetenwechsel ist gut, den Zwängen entkommen auch, aber davonlaufen ist schlecht. Wir haben das an einer Familie, die wir auf der Reiser getroffen haben, erlebt.

Thailand, Koh Phangan

Seit gestern wohnt eine sechsköpfige Familie aus Deutschland im Doppelbungalow neben uns auf der thailändischen Insel. Wir freuen uns nach fünf Monaten wieder einmal Deutsch sprechen zu können und erfahren, dass die Familie mit den vier Kleinkindern seit drei Wochen auf Weltreise ist. Es ist nicht leicht sich zu unterhalten, weil die Kinder dauerschreien und an ihren Eltern zerren. Weg von zuhause, der Flug nach Bangkok, die Zeitverschiebung, die Sightseeingtouren, dann die tausend Kilometer Fahrt auf die Insel. Die Kinder sind am Ende ihrer Kräfte und die vielen Eindrücke der letzten Zeit müssen sichtlich noch verdaut werden. Plötzlich schwappen die Gefühle der Mutter mit dem fünf Monate alten Baby an ihrer Brust über. Die viermonatige Reise um die Welt sollte eigentlich ohne das vierte (ungeplante) Kind stattfinden. „Wir haben die letzten drei Jahre Haus gebaut, mein Mann und ich haben zusätzlich neben den Kindern gearbeitet. Die Kinder waren in der Zeit viel in verschiedenen Betreuungsstätten. Wir konnten nicht mehr, wir mussten raus. Und jetzt sind wir hier.“ Trotzig sieht sie mich an. „Jetzt bin endlich Mal ich dran, das werden die Kinder schon noch kapieren“, faucht sie mich an, nimmt ihren zweijährigen laut protestierenden Sohn an der Hand und schleift ihn schreiend über den Strand hinter sich davon. Mein Mann und ich sehen uns an, beide den gleichen Gedanken. „Auf der Flucht“, nennen wir diese Familien, denen wir auf unserer Reise immer wieder begegnen. Auf der Flucht vor dem, was ihnen Zuhause zu viel wurde, auf der Flucht vor dem, was nun für die Einzelnen der Familie, für die Kinder dran wäre.

„Davonlaufen“ darf nicht der Ausschlag gebende Grund sein, um mit Kindern zu verreisen. An dem Beispiel der Familie mit den vier Kindern auf der Insel wird deutlich, dass sich die Probleme von zu Hause in der Welt nicht einfach in Luft auflösen, sondern dass viel von dem, was man zuhause nicht schafft, auch in der Welt nicht einfacher wird. Die eigenen Themen und Persönlichkeitsmerkmale nimmt man auf die Reise mit. Nimmt man sich zu Hause immer zu viel vor, macht man das Gleiche meistens dann auch auf Reisen. Kann man mit Kindern zu Hause nicht Ruhe bewahren, wenn ein Problem auftaucht, wird man das auf Reisen unter meist viel extremeren Umständen auch nicht besser schaffen. Man sollte sich vor der Reise der Motivation des „Weglaufens von …“ bewusst sein. So hat man vielleicht die Chance, am Zielort mit sich, dem Partner und den Kindern erst Mal zur Ruhe zu kommen, um dann bewusst zu schauen, was jede/r Einzelne wirklich braucht, damit die Reise eine schöne, gemeinsame Erfahrung wird, aus der alle erholt und gestärkt zurück kommen.

2.4. Ein Gefühl für die Welt bekommen

Ein kleines Erlebnis aus dem Nachhinein. Vietnam, Hoi An

Fasziniert blicken unsere Kinder auf die 21 Tage alten Seidenspinnerraupen herab, die gerade genüsslich die frischen Maulbeerblätter anknabbern. „Sind die süß“, findet Sophia. Elija hält seine Hand hin und eine kleine Seidenraupe krabbelt langsam den Zeigefinger hinauf. „Sie werden sich bald verpuppen“, erzählt uns die junge, hübsche in ein Seidenkleid gekleidete Vietnamesin auf Englisch. In der Nähe von Hoi An wird viel aus Seide produziert und so, wie bei uns Milchkühe gemolken werden, verdienen hier die Bauern mit der Produktion von Seide ihr Geld. Unter einem Holzverschlag sehe ich einige Damen um einen großen Kessel herumsitzen. Sie unterhalten sich sichtlich nett, während sie die Seidenraupenkokons ins kochend heiße Wasser geben und den Seidenfaden abwickeln. Wir gehen hinüber und werden freundlich begrüßt, unsere Kinder noch freundlicher. Ich freue mich, weil die Vietnamesen so kinderfreundlich sind. Die Menschen haben hier nicht viel, aber sie beschenken unsere Kinder laufend mit dem, was die Natur hergibt. Hier eine Banane, dort eine Mango, ein kleiner Reiskuchen ... Sarahs hilfesuchender Blick reißt mich aus meinen Gedanken. Eine alte Frau hält den Kindern etwas hin und nickt ihnen aufmunternd zu, es zu nehmen. Die nette englischsprechende Vietnamesin, die uns herumführt, reagiert jetzt auch, nimmt der alten Dame das kleine, dicke weiße rundliche Ding aus der Hand und zeigt es mir. „Das ist eine gekochte Seidenraupe“, erklärt sie begeistert. „Die bleiben übrig, wenn man den Kokon rund herum abgewickelt hat, und die verkaufen wir in der Stadt am Markt zu einem guten Preis. Besonders die Damen schätzen diesen Snack, denn Seidenraupen machen schön!“ Lächelnd hält sie mir die Seidenraupe hin. Ich nehme die Raupe tapfer höflich entgegen. Essen werde ich sie nicht, aber ich werde von nun an jedes Mal dankbar an die lieben seidenspinnenden Damen denken, wenn ich mich in meinen Seidenschal kuschle.

Wie aus den Erlebnissen heraus zu spüren ist, gibt es viele Gründe, warum man gerne mit den Kindern vereisen möchte.

„Weltgefühl“, den Kindern ein Gefühl für die Welt zu geben ist die Hauptmotivation unserer Reise.

Darin sind mein Mann und ich uns einig. Reisen bildet ganzheitlich. Ein kleiner Wochenendausflug oder ein Urlaub genauso wie eine Weltreise. Immer wenn man die gewohnte Umgebung verlässt und aufbricht an einen neuen Ort, bieten wir unseren Kindern ganz viele Lern- und Erfahrungsfelder. Nehmen Sie Ihr Kind und zeigen Sie ihm ein Stück Welt, es wird sich lohnen. Es ist eine Investition in die Zukunft unserer Kinder und in die Beziehung zu jedem einzelnen Ihrer Kinder.

Überlegen Sie sich für Ihre Reise mit Ihren Kindern, warum Sie diese Reise machen möchten. Hier einige Fragen, die Ihnen helfen können, Ihre Motivation für Ihre Reise zu klären.

Fragen zu meiner Motivation für meine Reise:

Kenne ich meine Motivation(en) für die geplante Reise mit meinem Kind/meinen Kindern?

Reise ich gerne? Reist mein/e Partner/in gerne? Reisen meine Kinder gerne? Warum möchte ich mit meinen Kindern verreisen?

Was möchte ich, dass meine Kinder auf dieser Reise sehen oder erfahren können? Was kann ich gut? Was können wir gut? Was tun wir gerne? Z. Bsp.: Ich koche gerne und möchte in jedem Land einen Kochkurs machen. Meine Kinder schwimmen gerne. Wir möchten viel Zeit am Meer verbringen.

Welche Gefühle hätte ich gerne, wenn ich in ein paar Jahren an diese Reise mit meinem Kind/meinen Kindern zurückdenken werde?

Nach der Reise sollen meine Kinder wissen, dass…?

Weltgefühl

Подняться наверх