Читать книгу Geh in die Wueste - Christine Jörg - Страница 3
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ОглавлениеAls der Wecker um sechs Uhr läutet ist für es Ruth eine Erlösung. Sie hat sehr unruhig geschlafen. Hat sie überhaupt geschlafen? Sie fühlt sich wie gerädert.
Gestern Abend hatte sie Baldrianpillen eingenommen. Die Wirkung blieb jedoch aus. Das bildet sich Ruth zumindest ein.
Sie ist zu aufgeregt vor dem großen Treffen heute. Wie kann man sich mit sechsundvierzig noch so kindisch benehmen. Sie versteht sich selbst nicht. Trotzdem hat sie zu einem Treffen eingewilligt.
Schnell duscht sie und zieht sich an. Gestern hat sie bereits die Kleidung bereit gelegt. Eine Stunde hatte sie ratlos und suchend vor ihrem Kleiderschrank gestanden. Heute fragt sie sich, ob sie die richtige Kleidung ausgesucht hat, doch es bleibt keine Zeit nochmals von vorne anzufangen. Es muss passen. Ist auch besser so!
Obwohl sie keinen Hunger hat, zwingt sie sich eine Tasse Milch zu trinken und ein Marmeladenbrot zusammen mit der Milch hinunterzuwürgen. Sie hat es sich angewöhnt, nach Möglichkeit, nicht ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen. Daran hält sie sich auch heute Morgen.
Zähne putzen. So, jetzt die Zahnbürste und Zahncreme in die Reisetasche und fertig!
Noch einmal macht sie eine Runde durch die Drei-Zimmer-Wohnung, kontrolliert ob alle Geräte ausgeschaltet sind. Dann nimmt sie den Schlüssel, ihre Reisetasche, die Handtasche und die Bauchtasche, oder Wimmerl, wie man so schön sagt, und verlässt die Wohnung. Sorgfältig verriegelt sie die Türe und begibt sich zu Fuß zum Bahnhof. Die große Reisetasche zieht sie auf Rädern hinter sich her.
*
In München ging sie früher auch immer zu Fuß oder fuhr mit U-Bahn und Bus. Auto hatte sie damals, während ihrer Studienzeit, keines. Sie hatte es auch nicht vermisst.
Ruth hat den Eindruck, dass ihr Leben erst im Frühjahr 1992 in München begann, damals als sie Fernando zum ersten Mal begegnete. Für Ruth war es Liebe auf den ersten Blick. Sie bildete sich sogleich ein der Liebe ihres Lebens begegnet zu sein.
Zum ersten Mal trafen sich die Beiden in der Kneipe La Peseta Loca. Für Ruth war es stets der Ort, an den sie Latinos treffen und gute lateinamerikanische Musik hören konnte.
Oft kam sie mit den Gästen, meist Latinos, ins Gespräch. Für die Lateinamerikaner war es der Treffpunkt mit der Heimat. Ruth diskutierte gerne mit diesen Menschen. Auf Spanisch, natürlich!
Sie studierte zwar die Hauptfächer Englisch und Erdkunde für das Lehramt. Jedoch war Spanisch ihr Lieblingskind. Deswegen hatte sie an der Uni zusätzlich Spanischkurse belegt. Sie verliebte sich in alles was in irgendeiner Art mit Spanisch und der spanischsprachigen Kultur zu tun hatte. Essen, Literatur, Musik, Länder und Leute. Einfach alles saugte sie in sich hinein und fühlte sich wohl dabei.
Mit ihrer Schulfreundin und damaligen Mitbewohnerin der Wohngemeinschaft, Gabi, ging sie regelmäßig in ihre Lieblingskneipe.
An einem dieser Abende, Mitte April, begegneten die Freundinnen Fernando. Ruth diskutierte in dem Augenblick mit Atilio, den sie bereits kannte. Zusammen mit Fernando und Oscar spielte er in einer Gruppe für lateinamerikanische Musik. Das Trio konnte sich nicht auf eine Musikrichtung einigen, also spielten sie verschiedenartige Musik aus verschiedenen Ländern Mittel- und Südamerikas. Das kam bei den Gästen besonders gut an.
Fernando hörte, wie Atilio und Ruth Spanisch sprachen und mischte sich ein. Im ersten Augenblick waren sowohl Atilio, als auch Ruth über Fernandos Einwurf und Einmischung überrascht. Aber schnell bezogen sie ihn in die Diskussion mit ein.
Die Gruppe trat auf. Ruth und Gabi hörten, wie üblich, aufmerksam zu. Einige Passagen kannte Ruth schon und sang mit.
Während des Auftritts blieb Ruth genügend Zeit Fernando zu inspizieren. Er war etwas größer als sie. Eigentlich schade, dass er nur ein bisschen größer war, denn normalerweise zog sie richtig große Männer, so ab ein Meter fünfundachtzig, vor. Aber man konnte eben nicht alles haben. Einen großen, dunkelhaarigen, der auch noch Spanisch sprach. Das war wohl zu viel des Guten. Auf jeden Fall hatte Fernando dunkles, gelocktes, fast zotteliges, Haar, das einen Haarschnitt vertragen hätte. Die Haut des rundlichen Gesichts war getönt. Die indianischen Vorfahren ließen sich nicht verleugnen. Am meisten beeindruckten die großen, schwarzen Augen in dem Gesicht. Ruth hatte Mühe, nicht ständig in diese wunderschönen Augen zu starren.
Sie betrachtete Fernando unverhohlen. Bestimmt war er beim Musizieren mit den Freunden auf der Bühne abgelenkt und bemerkte nicht wie sie ihn taxierte. Ruth fuhr in aller Ruhe mit der Bestandsaufnahme fort. Fernando hatte volle Lippen, die er, wie die meisten Menschen, deren Muttersprache Spanisch war, viel bewegte, um seine Aussprache deutlich zu machen. Er trug ein Hemd, das er in die Jeans gesteckt hatte. Ruth vermutete, dass er eher schlank war, doch konnte das Hemd auch ein kleines Bäuchlein verbergen, aber viel war es bestimmt nicht. Alles in allem gefiel ihr durchaus, was sie zu sehen bekam.
Als der Auftritt einschließlich der Zugaben beendet war, setzten sich die drei Musiker zu den jungen Frauen an den Tisch. Gemeinsam genehmigten sie sich einen letzten Umtrunk und verließen das Lokal.
Fernando begleitete die Frauen nach Hause. Vor der Haustüre bat er Ruth um ihre Telefonnummer. Bereitwillig schrieb sie sie auf einen Zettel, den Fernando ihr reichte und händigte ihm das Papier und den Stift aus. Fernando versprach, sich zu melden.
Ruth war überglücklich. In Fernando hatte sie sich vom ersten Augenblick an verliebt. Sie musste nur noch herausbekommen, was er studierte oder arbeitete. Und vor allem, wie lange er in Deutschland blieb. Wenn er in ein oder zwei Monaten abreiste, lohnte es sich nicht, Zeit in eine Beziehung zu investieren.
Ihr Auserwählter hatte den ersten Schritt getan und von ihr die Telefonnummer erbeten. Alles Weitere würde folgen.
Erst dann, als Fernando weggegangen war, wurde Ruth klar: Von ihm hatte sie nichts! Sie konnte ihn also nicht erreichen. Hoffentlich meldete er sich. Sofort beruhigte sie sich wieder, weshalb wollte er ihre Telefonnummer, wenn er sich dann nicht mehr meldete?
Selten hat sie sich sofort derart stark zu einem Menschen hingezogen gefühlt. Die interessanten Ideen, die er während des Gesprächs entwickelt hatte, gefielen ihr und überzeugten sie. Nicht nur die Augen hatten eine große Ausstrahlung, auch seine warme, melodische Stimme wirkte anziehend um nicht zu sagen sexy.
Was wird die Zukunft bringen? Meistens hielten sich die Studenten aus Mittel- und Südamerika nur begrenzte Zeit in Deutschland auf. Sie bezogen ein Stipendium. Wie lange, also würde Fernando im Land bleiben? Hoffentlich recht lange, damit sie genügend Möglichkeit hatten, sich eingehend kennen zu lernen.
Vielleicht wurde ihre Beziehung so intensiv, dass er das Land gar nicht mehr verlassen wollte und bei ihr blieb. Aber das waren nur Hirngespinste und Zukunftsmusik, sie wusste das. Schließlich hatte sie andere Latinos getroffen. Nur ganz wenige kehrten nicht in ihre Heimat zurück.
Oft verlangten auch die Familienbande, dass sie in die Heimat zurückkehrten. Einige waren bereits verlobt oder hatten feste Bande. Vielleicht blieben sie auch deshalb in Deutschland in Cliquen zusammen. Im Augenblick wusste sie zu wenig über den Mann ihrer Träume.
Sie war nicht abgeneigt, Deutschland nach ihrem Studium den Rücken zu kehren und mit ihrer großen Liebe in ein anderes Land auszuwandern.
Im Augenblick hieß für Ruth abzuwarten, bis Fernando sich meldete. Dann würde sie seine Telefonnummer erfragen. Und auch seine Adresse!
*
Eine Woche später, für Ruth erschien es wie eine Ewigkeit, stand Fernando vor der Türe.
Gabi hatte ihm geöffnet. Ruth kehrte gerade von der Uni zurück. Als sie Fernando im Gang stehen sah, klopfte ihr Herz wild.
„Hola, Ruth“, meinte Fernando lächelnd und selbstverständlich in Spanisch. „Willst du mit mir Essen gehen?“
„Hola Fernando“, gab Ruth ebenfalls in Spanisch überrascht zurück, „schön, dass du vorbeikommst. Ja, wir können essen gehen.“ Sie ging auf ihn zu und küsste ihn auf beide Wangen, wie das in diesen Kreisen üblich war.
Diesmal schien Fernando etwas erstaunt, hatte sich aber gleich wieder unter Kontrolle.
„Ich räume nur meine Bücher weg“, erklärte Ruth, während sie geradeaus auf ihr Zimmer zuging. Sie öffnete die Türe. „Komm rein“, forderte sie ihn auf und unterstrich mit einer Kopfbewegung ihre Einladung.
Fernando schien zu zögern, betrat dann jedoch das Zimmer.
Etwas hilflos stand der junge Mann im Zimmer, bis Ruth ihn aufforderte: „Setz dich doch.“ Dabei machte sie mit der rechten Hand eine einladende Geste zum einzigen Sessel, der im Zimmer stand.
*
Fernando ließ sich in den Sessel fallen.
Während Ruth ihre Sachen auf den Schreibtisch legte, schaute sich der Gast neugierig in ihrem Zimmer um.
Rechts von ihm stand der Schreibtisch, direkt unter dem Fenster. Auf der linken Seite war ein buntes Sofa, das abends wahrscheinlich als Bett umgebaut wurde. Gegenüber, hinter der Zimmertüre verbarg sich die große Schrankwand. Im Zimmer herrschte ein gemütliches Durcheinander. Auf dem kleinen Tisch vor dem Sessel befand sich eine Schale in der zwei Äpfel und eine Birne lagen. Zwischen Sofa und Türe stand ein kleiner Nachttisch, auf dem ein Lämpchen, Wecker und ein Buch Platz gefunden hatten. Der alte, wuchtige Schreibtisch dominierte das ganze Zimmer. Auf der einen Seite hatte Ruth ihre HiFi-Ecke installiert. Fernseher gab es in diesem Raum nicht.
Nachdem er das Zimmer taxiert hatte, ließ Ruth ihm noch Zeit. Er konnte sie also eingehender betrachten. Sie war beinahe so groß wie er selbst. Schlank, zu schlank. Für Fernandos Geschmack fast zu schlank. Das halblange Haar war rotblond und umgab in lockeren Naturlocken den Kopf. Sommersprossen zierten das Gesicht. Fernando vermutete, dass es in der Sonne noch ein paar mehr würden. Besonders beeindruckend fand er jedoch die grünen Augen, die von langen, dunklen, gebogenen Wimpern umrahmt waren. Ruth schien legere Kleidung zu lieben. Sie trug blaue Jeans und einen viel zu großen, grünen Pullover. Fernando verstand nicht, weshalb sie ihre Figur versteckte. Man konnte nur erahnen, dass sie mager war. Schließlich riss er sich vom Anblick los.
„Wohnst du schon lange hier?“, erkundigte er sich, während Ruth mit dem Rücken zu ihm am Schreibtisch stand.
„Seit zwei Jahren“, antwortete sie und drehte sich zu ihm um. „Gabi kenne ich schon seit dem Gymnasium und irgendwann hatten wir das Glück, die Wohnung zu ergattern.“
*
„Schön“, stellte Fernando anerkennend fest und nickte kaum merklich.
Ruth beschloss die Gelegenheit sofort beim Schopf zu packen. Sie wollte an Fernandos Adresse kommen.
„Und wo wohnst du?“, fragte sie, während sie sich langsam dem Sessel näherte. „Du hast mir gar nicht deine Adresse gegeben.“
„Ja, ich weiß“, Fernando zuckte die Schultern, „ich wohne da, wo jeder lateinamerikanische Praktikant wohnt. In einem Wohnheim, in dem man kein Wort Deutsch, aber dafür perfekt Spanisch in allen Dialekten aus den verschiedenen Ländern lernen kann.“
„Das ist frustrierend“, bemerkte Ruth, die nun direkt vor Fernando stand. „Und wo ist das Wohnheim?“
„In der Schleißheimer Straße“, war die kurze Antwort. „Leider ist es ziemlich schwierig etwas anderes zu finden, besonders, wenn man nur ein knappes Jahr in Deutschland bleibt. Also gibt man sich mit dem zufrieden, was einem zugewiesen wird.“
„Hast du auch eine Telefonnummer?“, hakte Ruth sofort nach, bevor sie vom Thema abkamen. Natürlich hatte sie die Information, dass Fernando nur ein Jahr in Deutschland verweilen würde sofort registriert. Schade, dachte sie sich.
„Ach, das ist so eine Sache“, stöhnte Fernando und holte sie aus ihren Gedanken. „Ein Telefon für alle. Meistens ist niemand da, der abnimmt, und geht doch einer ans Telefon, macht er sich nicht die Mühe die gewünschte Person zu suchen, sondern sagt einfach, sie sei nicht da.“
„Unverschämt!“, ereiferte sich Ruth.
„Es gibt keinen regulären Telefondienst“, meinte Fernando nur, „deswegen habe ich dir weder meine Adresse noch meine Telefonnummer gegeben. Ich hätte es dir gleich erklären sollen. Aber gib mir mal einen Zettel“, gleichzeitig streckte Fernando unerwartet die rechte Hand aus und berührte flüchtig Ruths linke, „dann schreibe ich dir die Adresse und Telefonnummer trotzdem auf.“
Als Fernando ihre Hand berührte, durchzog Ruth ein warmes Gefühl. Es dauerte nur Sekunden! Dann tat sie, wozu sie aufgefordert worden war und holte Zettel und Stift.
Ruth reichte ihm beides. Er schrieb seine Daten auf und gab Papier und Kugelschreiber zurück.
„So“, sagte Ruth munter, „wenn du willst, können wir gehen. Ich bin fertig.“
Fernando erhob sich gemächlich und ging langsam zur Zimmertüre. Dort blieb er kurz stehen, drehte sich um und schaute Ruth fest in die Augen. Diese wäre beinahe in ihn gerannt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Fernando an der Türe anhielt. Jetzt stand sie ganz nah vor ihm.
Fernando lächelte sie an, drehte sich wieder um und öffnete die Türe.
Was war das denn, stellte sich Ruth die Frage. Da sie keine Antwort darauf kannte, folgte sie dem Mann schweigend.
„Wir gehen essen“, rief sie Gabi kurz zu, die sie links durch die offene Türe in der Küche hantieren sah.
„Viel Spaß und guten Appetit“, war die Antwort. Schon waren Ruth und Fernando geradeaus durch die Wohnungstüre verschwunden.
Weit wollten sie nicht gehen, also entschieden sie sich für die Pizzeria um die Ecke. Die kleinen Tische waren alle besetzt, deshalb mussten sie sich zu einem anderen Paar setzen. Als Fernando ihr den Stuhl zurechtrückte, konnte Ruth es nicht glauben. So gute Manieren hatte sie Fernando nicht zugetraut. Dass er ihr die Restauranttüre aufgehalten hatte, okay, aber Stuhl zurechtrücken und sich erst setzen, als sie saß! Sie dachte bislang, das machten nur die alten Männer. Ruth fühlte sich plötzlich damenhaft.
Die Unterhaltung wurde auf Spanisch geführt und Fernando wunderte sich über Ruths ausgezeichnete Sprachkenntnisse.
Auch er schien neugierig zu sein und wollte einiges über Ruth wissen. Was sie studierte, Geschwister und noch einiges mehr. Sie erzählte, dass sie fürs Lehramt studierte.
Ja, Lehrer brauchte man immer, meinte er. Als Ruth ihm erzählte, dass sie nicht wusste, ob sie wirklich eine Planstelle bekommen würde, wenn sie einmal mit dem Studium und der Referendarzeit fertig war, sagte Fernando spontan. „Dann kommst du nach Chile, da findet sich immer etwas.“
Ruths Herz begann heftig zu schlagen. Konnte es sein, dass es auch bei Fernando Liebe auf den ersten Blick war? Oder hat er das mit Chile nur so dahin gesprochen? Sie beschloss im Augenblick nicht nachzuhaken und der Aussage nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Doch es war, wie in nordamerikanischen Filmgerichten, wenn der Verteidiger oder der Staatsanwalt etwas sagte, und der Richter dann die Geschworenen bat, das Gesagt nicht zur Kenntnis zu nehmen. So kam Ruth Fernandos Satz, dass sie in Chile unterrichten konnte, immer wieder in den Sinn. Klar, sie kannte Fernando zu wenig, aber wenn man verliebt war, spielte das keine Rolle.
Von Fernando erfuhr sie, dass er für ein zehnmonatiges Praktikum bei Siemens nach München gekommen war. Er war bei Siemens in Chile bereits angestellt, jedoch wurde ihm dort nahegelegt, das Praktikum in Deutschland zu absolvieren.
Seit drei Monaten war er nun in München und würde noch sieben bis acht Monate bleiben. Dann musste er zurück.
„Und gefällt es dir hier“, wollte Ruth wissen und schaute von ihrer Pizza hoch.
Fernando antwortete nicht sofort, doch dann hob auch er den Kopf und schaute Ruth in die Augen. „Ich weiß nicht recht. Bei den Deutschen fehlt ein wenig die Herzlichkeit. Jeder arbeitet vor sich hin, geht nach Hause und das war’s dann. Bei uns in Chile geht man ein wenig aus und diskutiert und trinkt etwas zusammen. Hier ist es schwierig Kontakt zu bekommen.“
„Ich denke, da muss ich dir leider recht geben“, gestand Ruth ein. „Und von Siemens? Hast du keine Freunde und Arbeitskollegen, die sich um dich kümmern?“
„Das ist es ja eben“, erklärte Fernando ruhig, „jeder kehrt nach der Arbeit sofort nach Hause zurück. Deswegen bin ich immer mit Freunden von Süd- und Mittelamerika zusammen.“
„Das ist ja gut und recht“, wandte Ruth ein, „aber Deutsch lernst du dabei nicht viel.“
„Ja“, gab Fernando mit traurigem Gesicht zu, „ich dachte nicht, dass es so schwierig sein würde.“
„Dann sollten wir nicht Spanisch miteinander sprechen“, gab Ruth zu bedenken und zog die Augenbrauen hoch.
„Eigentlich nicht“, Fernando war einer Meinung mit ihr, „aber du sprichst so gut und ich höre dir gerne zu, wenn du Spanisch sprichst.“
„Das ist ein Grund, aber kein Hindernis“, sagte Ruth streng. „Von jetzt an sprechen wir Deutsch.“
„Bitte nicht jetzt und hier“, flehte Fernando in gebrochenem Deutsch und legte dabei seine rechte Hand auf Ruths linke.
Die Gabel, die Ruth in der Hand hielt, fiel krachend auf den Teller. Beide erschraken und begutachteten ob Schaden entstanden war. Peinlich berührt schaute Ruth in die Runde. Einige Gäste von den umliegenden Tischen hatten neugierig zu ihnen herübergestarrt. Gleich darauf schauten sich Ruth und Fernando wieder an und lächelten.
Oh, du meine Güte, diese schönen Augen! Kein Wunder, dass ich mich sofort in ihn verknallt hatte. Das war verrückt. Ruth entzog Fernando die Hand nicht. Der hielt sie weiterhin fest, zog sie schließlich an seine Lippen und setzte sie sanft darauf. Ruth fühlte wie eine Gänsehaut über ihren Arm und dann über den ganzen Körper wanderte. Zum Glück trug sie lange Ärmel, so fiel es nicht auf. Jetzt nur nicht rot werden, befahl sie sich.
Als sie mit Essen fertig waren, blieben sie noch ein wenig sitzen und unterhielten sich. Fernando wollte für beide bezahlen, doch Ruth lehnte das ab.
„Ruth“, beharrte Fernando, „ich habe dich eingeladen. Also!“
„Ich möchte das nicht“, widersprach Ruth, „schließlich bist du auch Student und musst dein Geld zusammenhalten.“
„Trotzdem, heute ich bin dran“, dabei legte Fernando wieder seine rechte Hand auf Ruths linke, „und nächstes Mal du. Okay?“
Ruth ließ sich breitschlagen. Schließlich wollte sie hier keinen Zwergenaufstand veranstalten.
Dann verließen sie die Pizzeria und gingen ein wenig spazieren.
„Kannst du auch länger in Deutschland bleiben, wenn du möchtest?“, erkundigte sich Ruth wie nebenbei. Sie hütete sich sorgsam, sich dem Angebeteten zu nähern. Er sollte ihre Erregung nicht spüren.
„So einfach ist das nicht“, erklärte Fernando und griff plötzlich und unerwartet nach ihrem Arm, als sie, ohne auf die rote Fußgängerampel zu achten, auf die Straße trat, um sie zu überqueren. „Gib mir deine Hand, auf dich muss man aufpassen wie auf ein kleines Kind.“ Damit ergriff er entschlossen ihre Hand und ließ sie auch nicht mehr los, als sie sicher die andere Straßenseite erreichten.
Ruth schwebte im siebten Himmel. Nun ging sie Hand in Hand mit ihrem Liebsten durch die Straßen. Das hätte sie sich nicht träumen lassen.
„Ja, also mit dem in Deutschland bleiben ist das so eine Sache“, fuhr Fernando nun unbeirrt fort. „Wir bekommen ein Visum für die Zeit, die die Firma beantragt. Und danach müssen wir wieder gehen. Zu einer Verlängerung eines Praktikumsvertrags kommt es so gut wie nie.“
Ruth wurde ein wenig traurig. Wie sie schon befürchtet hatte, war es also nur eine Liebesgeschichte auf Zeit. Sie beschloss die Monate mit Fernando bis auf die letzte Minute voll auszukosten. Dann würde man weitersehen.
Nachdem sie eine große Runde Händchen haltend spaziert waren, begleitete Fernando Ruth nach Hause. Unten vor der Haustüre verabschiedete er sich von ihr, indem er ihr einen Kuss jeweils auf die rechte und linke Wange drückte. Ruth hätte mehr erwartet, aber sie wollte nicht alles auf einmal fordern. Fernando sollte einen guten Eindruck von ihr haben, darauf legte sie großen Wert.
„Hast du am Freitag Zeit?“, wollte Fernando wissen, bevor er ging.
„Nein, leider fahren Gabi und ich nach Hause“, Ruth zog, wie um sich zu entschuldigen, die Schultern hoch.
„Und wann kommst du zurück?“, Fernando ließ nicht locker. Auch ihre linke Hand hielt er immer noch fest.
„Ja, normalerweise am Sonntag, so gegen zehn Uhr abends“, antwortete Ruth wahrheitsgemäß.
„Aha.“ Die Enttäuschung war Fernando förmlich ins Gesicht geschrieben. „Dann wird es nichts mit einem gemeinsamen Wochenende.“
„Leider nicht“, auch Ruth war traurig, aber sie konnte die Fahrt nach Hause nicht mehr verschieben. Schließlich hatte sie sich mit Freunden verabredet. Außerdem wollte sie Wäsche waschen und Mamas Vorratskammer erleichtern.
„Also“, Fernando löste sich nur ungern von ihr. „Dann melde ich mich nächste Woche wieder. Qué nos vemos!“, war das Letzte, was Ruth von ihm hörte, dann war er auch schon weg. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit ihm Danke zu sagen und Gute Nacht zu wünschen.
Betreten stieg sie die Stufen in den zweiten Stock hinauf und mit hängendem Kopf schloss sie die Wohnungstüre auf. Gabi war nicht zu sehen. Besser so!
Ruth eilte sofort in ihr Zimmer und verriegelte die Türe. Kurz danach klopfte es. Die Klinke bewegte sich.
„Hey, Ruth“, hörte sie Gabis Stimme durch die verschlossene Türe.
Ruth überlegte sich, ob sie der Freundin die Türe öffnen sollte oder besser nicht. Schließlich entschied sie sich dafür. Sie erhob sich und ging zur Tür. Langsam drehte sie den Schlüssel im Schloss. Gabi stand vor ihr und schaute sie neugierig an.
„Was ist passiert?“, wollte die Freundin sofort wissen.
„Nichts“, Ruth schüttelte den Kopf, „wir haben gegessen und uns unterhalten. Es war schön. Dann sind wir spazieren gegangen, auch das war okay. Als er dann unten vor der Türe erfahren hat, dass ich am Wochenende nicht da bin, hat er nur gesagt, er meldet sich, und weg war er.“
„Aha“, war alles was Gabi sagen konnte oder wollte. „Na ja, wenn er sagt, er meldet sich, dann wird er es auch tun. Hat er ja heute auch gemacht.“
„Ja“, überlegte Ruth, „aber das war doch etwas anderes. Wir hatten uns nur einmal gesehen. Er denkt bestimmt, ich fahre nach Hause und habe da einen Freund.“
„Vielleicht“, bestätigte Gabi, „dann musst du es ihm eben erklären.“
„Du hast leicht reden“, fuhr Ruth etwas verärgert ihre Freundin an. „Was soll ich denn machen, wenn er sagt, er wohnt in einem Wohnheim für ausländische Studenten und ans Telefon würde sowieso niemand gehen. Und wenn einer abhebt, ruft er nicht die gefragte Person.“
„Ist jetzt auch egal“, versuchte Gabi ihre Freundin zu beruhigen, „ändern kannst du es heute Abend auch nicht mehr.“
„Genauso ist es“, dabei ließ sich Ruth schwer in den Sessel fallen, in dem vor ein paar Stunden Fernando gesessen hatte.
„Wenn er sich nicht mehr meldet, musst du eben zu dem Wohnheim fahren und mit ihm reden. Eine andere Lösung sehe ich nicht“, schlug Gabi vor.
„Ich laufe ihm doch nicht nach“, sagte Ruth, der Tränen in die Augen traten, patzig.
„Wie du meinst. Und wie ist er sonst?“, Gabi war neugierig geworden und setzte sich zu Ruth auf die Sessellehne.
„Ich bin total in ihn verliebt“, mit verträumten Augen starrte Ruth an Gabi vorbei ins Leere.
„Gut“, sagte Gabi nüchtern und stand wieder auf. „Dann brauche ich nicht weiter zu fragen, wie er ist, weil ich doch keine objektive Antwort von dir bekomme.“
Ruth schien sie nicht zu hören, denn sie sagte: „Und wie er meine Hand genommen hat.“
„Ach!“, rief Gabi verwundert aus, „Händchen gehalten habt ihr auch schon!“
Das Läuten des Telefons riss Ruth aus ihren Gedanken. Sie wollte aufspringen, doch sie ließ sich einfach wieder in den Sessel zurückfallen als sie sah, dass Gabi zum Telefon rannte und sich meldete.
„Ruth“, hörte sie ihren Namen, „für dich.“
„Wer ist es?“, Ruth hatte keine Lust auf ein Telefongespräch mit irgendjemandem. „Ich bin nicht da“, rief sie zurück.
„Nein, das sage ich jetzt nicht“, widersetzte sich Gabi.
Langsam und unwillig erhob Ruth sich trotzdem und ging ans Telefon.
„Ja“, sagte sie lustlos. Doch dann stellte sie sich plötzlich stramm hin und begann zu strahlen.
„Ruth“, hörte sie Fernandos Stimme, „ich möchte mich bei dir entschuldigen, weil ich vorhin einfach verschwunden bin. Aber ich war so enttäuscht, dass du am Wochenende nicht da bist.“
„Ist schon in Ordnung“, Ruths Welt sah rosarot aus.
„Weißt du?“, fuhr Fernando fort, „ich habe vergessen, dass du hier in der Nähe wohnst und natürlich am Wochenende nach Hause fährst.“
„Ich fahre nicht jedes Wochenende nach Hause“, klärte Ruth ihn auf, „aber für dieses ist alles schon geplant.“
„Wann kommt denn euer Zug am Sonntagabend an?“, erkundigte sich Fernando nun, „ich hole euch ab.“
„Um 21:50 Uhr am Hauptbahnhof“, sagte Ruth prompt.
„Ich werde zur Stelle sein“, bestätigte Fernando nochmals. „Und Ruth...“
„Ja, Fernando“, säuselte diese.
„…vielen Dank für den schönen Abend“, sagte er lachend.
„Wenn sich hier einer bedankt“, meinte Ruth nun, „dann bin ich das. Es war wirklich ein schöner Abend.“
„Freut mich“, stellte Fernando fest. „Wir sehen uns also am Sonntagabend.“
„Ja, ich freue mich schon“, gestand Ruth ihm.
„Ich auch“, erwiderte Fernando, „und schönen Abend noch.“
„Ja, dir auch“, gab Ruth zurück. Fernando hängte ein. Auch Ruth legte langsam und nachdenklich den Hörer auf die Gabel.
„Siehst du“, stellte Gabi lächelnd fest, „er meldet sich doch. Und du überlegst schon Wenn und Aber.“
„Oh, ja“, Ruth packte Gabi bei den Schultern und begann mit ihr im Flur zu tanzen. „Er hat sich gemeldet, er hat sich gemeldet. Ich bin verliebt“, sang sie und ließ Gabi nicht mehr los. Diese befreite sich mühselig und begab sich in sichere Entfernung vor Ruth um nicht noch einmal herumgewirbelt zu werden.