Читать книгу Geh in die Wueste - Christine Jörg - Страница 4

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Inzwischen hat Ruth den Bahnhof erreicht. Sie begibt sich in die Halle, zieht ihre Brille aus dem Etui und studiert den Fahrplan. Schon seit zwei Jahren benötigt sie eine Brille zum Lesen. Es stört sie zwar, aber ändern kann sie die Tatsache nicht. Die Fahrkarte hat sie bereits in der Tasche. Sie hat sie am Vortag gekauft. Nun muss sie nur herausfinden, auf welchem Gleis der Zug abfährt.

Noch hat sie zehn Minuten Zeit und schlendert in die Bahnhofsbuchhandlung. Zeitschrift möchte sie keine kaufen, doch einen Blick kann man wagen.

Die Tageszeitung hat sie in der Tasche und auch ein Buch. Schließlich hat sie genügend ungelesene Bücher zu Hause. Also wird nichts gekauft.

Langsam verlässt sie die Buchhandlung, steigt die Stufen in der Unterführung hinunter, durchquert den Tunnel und nimmt langsam Stufe um Stufe auf der anderen Seite. Nun steht sie auf dem Bahnsteig. Einige Frühaufsteher, die zur Arbeit fahren wollen, lungern mit verschlafenen Gesichtern herum und warten, genau wie Ruth, auf den Zug.

*

Nachdem Fernando Ruth und Gabi am Sonntagabend vom Bahnhof abgeholt hatte, blieb er die Nacht bei Ruth.

„Ihr seid wirklich wie für einander geschaffen“, stellte Gabi einmal überraschend fest. Sie, die immer einen so kühlen und überlegten Kopf hatte, schien ebenfalls davon überzeugt zu sein, dass Ruth und Fernando noch einen langen, gemeinsamen Weg vor sich hatten.

Nach einem Monat einigten sich die Frauen darauf, es sei vernünftiger Fernando einen eigenen Wohnungsschlüssel zu überlassen, da er inzwischen mehr Zeit bei Ruth verbrachte als in seinem Zimmer im Wohnheim.

„Was, das ist dein Zimmer!“, rief Ruth an dem Tag, als Fernando sie mit ins Wohnheim nahm und ihr zeigte, wo er hauste.

„Kein Wunder, dass es dir hier nicht gefällt“, stellte sie nüchtern fest. „Das ist ja fast wie in einer Gefängniszelle.“

„Na ja, so schlimm ist es vielleicht nicht“, milderte Fernando das Urteil ab, „aber gemütlich ist es auch nicht gerade.“

„Das kann man wohl sagen“, sagte Ruth und drückte Fernando einen dicken Schmatz auf die Wange.

„Einen Vorteil hat das Wohnheim aber auch“, gab Fernando zu bedenken, „hier habe ich Atilio und Oscar kennen gelernt.“ Er streichelte ihr über die Wange. „Und über Atilio konnte ich dich treffen. Also hat es sich gelohnt, dass ich im Wohnheim abgestiegen bin.“

„Oh ja“, erwiderte Ruth mit sanfter Stimme, „das war der schönste Moment in meinem Leben.“

„Und es wird noch viele schöne Stunden geben“, Fernando legte die Arme um Ruth und zog sie fest an sich.

Meistens hielt sich das Paar in Ruths und Gabis Wohnung auf. Es war angenehmer und gemütlicher dort.

Gabi hatte sich ebenfalls verliebt und war am Wochenende kaum noch in München. Waren sie und ihr Freund Stefan jedoch in der Stadt, planten die zwei Paare gemeinsame Unternehmungen. Schnell hatte Ruth festgestellt, dass Fernando ausgezeichnet kochte und ließ sich von ihm die ausgefallensten Gerichte vorsetzen. Sie wurde regelrecht zur Feinschmeckerin.

Natürlich hatten Fernando und seine Freunde hin und wieder Auftritte zu denen Ruth sie gerne begleitete.

Der Sommer nahte. Die Tage wurden länger. Zusammen mit Fernando, manchmal schloss sich Atilio an, ging Ruth in den Straßen von Haidhausen joggen.

Oft trafen sie sich mit anderen Latinos am Chinesischen Turm im Englischen Garten oder sonst in einem der Biergärten Münchens.

Als das Wetter richtig sommerlich wurde, musizierten die drei Freunde Fernando, Atilio und Oscar im Englischen Garten. Sehr zur Freude der Spaziergänger.

Ruth war glücklich. Leider nahten die Semesterferien und sie musste nach Kempten zurückkehren. Schon vor einem Jahr hatte sie sich um einen Ferienjob als Verkäuferin beworben, den sie nun wohl oder übel antreten musste.

Inzwischen hatte Ruth ihre Eltern in ihr Verhältnis mit Fernando eingeweiht.

„Ruth, du solltest dir das gut überlegen“, war das Erste, was ihrer Mutter einfiel.

„Mama“, beschwichtigte Ruth ihre Mutter, „wir lieben uns.“

„Was ist schon Liebe?“, wollte Ruths Mutter wissen, „die vergeht und was dann?“

„Wieso sagst du das?“, Ruth wurde ärgerlich. „Du kennst ihn doch überhaupt nicht. Bist du neidisch?“

„Sag mal, wie redest du mit deiner Mutter?“, Ruth hatte nicht bemerkt, wie ihr Vater die Küche betreten hatte.

„Stimmt doch“, sagte Ruth trotzig. Beinahe wäre sie mit dem Fuß aufgestampft wie ein kleines Kind.

„Ihr könnt doch Fernando nicht aburteilen“, fuhr Ruth verärgert fort, „nur weil er Chilene ist.“

„Das will auch keiner“, mischte sich die Mutter wieder ein, „aber er ist weit weg, wenn er in seine Heimat zurückkehrt. Das musst du bedenken.“

„Ja“, lenkte Ruth ein, „das stimmt schon, aber er ist wirklich ein lieber Mensch.“

„Sag ihm doch einfach, er soll dich hier besuchen, wenn du in den Semesterferien in Kempten arbeitest“, schlug der Vater vor.

„Mach ich auf jeden Fall“, erwiderte Ruth freudig und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange.

Als Ruth nach diesem Wochenende, wie üblich abends mit dem Zug nach München zurückkehrte, erwartete Fernando sie am Bahnhof. Zuerst schloss er sie in seine Arme und küsste sie, dann nahm er ihr die Reisetasche ab und beide gingen Hand in Hand zur S-Bahn.

„Meine Eltern wollen dich kennen lernen“, erzählte ihm Ruth freudestrahlend, kaum waren sie in die S-Bahn eingestiegen und hatten Platz genommen.

„Meinst du, das ist eine gute Idee?“, gab Fernando zu bedenken.

Ruth war über Fernandos Reaktion verblüfft. Was sollte denn das? „Natürlich ist das eine gute Idee. Wieso fragst du?“

„Nun ja, wir kennen uns noch nicht lange“, überlegte Fernando, „und überhaupt, bei uns stellt man seinen Freund erst den Eltern vor, wenn man sicher plant, sich zu verloben.“

„Das ist bei euch“, meinte Ruth und puffte ihn mit der Faust leicht auf die Brust, „aber nicht hier.“ Insgeheim hoffte sie jedoch, dass es irgendwann auf eine Verlobung hinauslaufen würde. Und das noch vor Fernandos Abreise nach Chile. Fernando erzählte sie selbstverständlich nichts davon.

„Mal sehen“, sagte der junge Mann zurückhaltend.

Ruth, die sich eine freudigere Reaktion erhofft hatte, konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen, deswegen schaute sie aus dem Fenster in den finsteren Tunnel der S-Bahn und biss sich auf die Lippen. Auf keinen Fall wollte sie hier und jetzt zu heulen anfangen.

Fernando schien Ruths Erregung und vor allem Enttäuschung zu spüren, denn er nahm ihre Hand und drückte sie fest.

„Natürlich besuche ich dich, während der Semesterferien“, sagte er mit weicher Stimme, hob ihre Hand an seine Lippen und drückte einen zarten Kuss darauf. „Ich hätte dich auch ohne Einladung deiner Eltern besucht.“

Ruth schaute durch einen Tränenschleier auf Fernando und lächelte ihn scheu an. Er legte den Arm um ihre Schulter, doch sie kamen schon an den Rosenheimer Platz. Beide erhoben sich. Fernando nahm die Tasche auf und sie verließen die S-Bahn.

In der Wohnung waren sie alleine, da Gabi bei ihrem Freund verweilte und erst am Dienstag zurückkehren würde.

Fernando stellte nur die Tasche neben der Wohnungstüre ab und schob die Türe mit dem Gesäß zu. Dann beugte er sich herab, hob Ruth hoch und trug sie ins Zimmer. Sie lachte und versuchte sich scheinbar zu wehren, doch erfolglos.

„Ein Wochenende ohne dich, das ist einfach zu lange“, sagte Fernando mit rauer Stimme. Er stellte sie in Ruths Zimmer auf den Boden und nahm sie ganz fest in die Arme.

„Ja, viel zu lange“, hauchte Ruth nur, denn Fernando drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Langsam strichen sie sich die Kleidung vom Körper und liebkosten sich.

Irgendwann landeten sie auf dem Teppich und liebten sich hingebungsvoll. Fernando war nicht ihr erster Mann, doch empfand sie den Sex mit ihm als besonders schön und sie genoss es jedes Mal in seinen Armen zu liegen.

„Oh, mein Liebster“, hauchte sie nun, „wie werde ich es ohne dich nur aushalten?“

„Wieso?“, wollte Fernando wissen und nagte zärtlich an ihrem Ohr, „ich bin doch da.“

„Ja“, Ruth drehte sich ihm zu und schaute ihn eingehend an. „Aber deine Zeit hier ist begrenzt. Und dann wirst du weit weg sein. Unerreichbar! Es macht mich jedes Mal verrückt, wenn ich darüber nachdenke.“

„Denk einfach nicht dran“, schlug Fernando vor und spielte mit ihren Brustwarzen.

„Ich muss aber ständig daran denken“, gestand Ruth. „Es ist nun einmal so.“

„Ach, Ruth“, stöhnte Fernando, „musst du alles vermiesen? Lass uns doch einfach die Zeit genießen, die wir zusammen sein können. Später wird man weitersehen.“

„Fernando, ich liebe dich“, meinte Ruth eindringlich und fuhr mit ihrem Zeigefinger über seine vollen Lippen. „Du bedeutest mir sehr viel.“

„Aber mein Herzchen, ich liebe dich auch“, bestätigte ihr Fernando, nachdem er sanft auf ihren Finger gebissen hatte. „Und du weißt, dass du mir viel bedeutest. Genau deswegen genieße ich jetzt jede einzelne Minute mit dir. Mehr können wir doch gar nicht tun. Komm, lass dich streicheln. Ich habe so sehr Lust auf dich.“

Immer noch auf dem Teppich liegend liebten sie sich erneut. Diesmal war Ruth jedoch nicht bei der Sache, weil sie immer daran denken musste, dass ihre gemeinsame Zeit mit Fernando in München sehr gegrenzt war, und dass er dann weit weg von ihr sein Leben führen würde.

Nachdem sie sich zum zweiten Mal geliebt hatten, erhoben sie sich. Ruth ging nackt in den Gang, holte die Reisetasche und räumte sie endlich aus. Natürlich hatte ihre Mutter wieder feine Sachen zum Essen mitgegeben. Das war so üblich.

Fernando folgte ihr bekleidet mit ihrem Bademantel, als sie die Lebensmittel in die Küche trug. Er stellte sich hinter sie und küsste sie auf den Nacken. Ruth drehte sich zu ihm um und wieder lagen sie sich in den Armen.

Ein drittes Mal liebten sie sich in der Küche auf der Arbeitsplatte.

„Wir müssen verrückt sein“, stellte Ruth atemlos fest.

„Wieso, ist doch schön“, meinte Fernando schlicht, löste sich von ihr und betrachtete sie eingehend. „So einen schönen Körper bekommt man nicht alle Tage zu sehen, anzufassen und zu lieben.“

Ruth boxte ihn. Fernando lachte und küsste sie auf die rechte Brust. Beide verließen die Küche und gingen nacheinander duschen.

Danach begaben sie sich brav ins Bett. Sie lagen sich noch ein wenig den Armen, doch an Sex dachten sie nicht mehr. Bald schlief das Paar zufrieden ein.

*

Zwei Wochen später begannen die Semesterferien. Ruth würde sieben oder acht Wochen arbeiten. Mit Fernando vereinbarte sie, dass sie sich ein Wochenende in München und eines in Kempten treffen würden. Es kam natürlich immer drauf an, ob Fernando mit seiner Gruppe auftreten musste.

„Du kannst in der Zeit hier in der Wohnung bleiben“, bot Ruth ihm an. „Mit Gabi ist es abgesprochen.“

„Nein, das möchte ich nicht“, wehrte Fernando ab. „Ich bleibe lieber im ungemütlichen Wohnheim.“

„Gut“, sagte Ruth nur schulterzuckend, „den Schlüssel hast du.“

Für Ruth war es ein trauriger Augenblick, als Fernando sie am Sonntagnachmittag zum Bahnhof brachte und alleine winkend auf dem Bahnsteig zurückblieb. Sie setzte sich auf ihren Platz und schaut teilnahmslos auf die vorbeirasenden Häuser vom Stadtrand Münchens.

Am Montag trat sie, wie schon während der vergangenen Semesterferien ihre Aushilfsstelle als Verkäuferin in einem Schuhladen an.

Am Mittwochabend rief Fernando Ruth bei ihren Eltern an.

„Hola, querida“, begann er das Gespräch, als Ruth den Hörer aus der Hand ihrer Mutter erhielt. „Qué tal?“

„Mir geht es gut, mein Liebling“, erwiderte Ruth brav, „und dir?“

„Ja, auch. Du fehlst mir“, gestand Fernando.

„Du mir auch“, pflichtete Ruth bei, „wann kommst du am Wochenende?“

„Deswegen rufe ich an“, Ruth spürte, wie Fernando zögerte, „wir müssen am Samstag auftreten. In La Peseta Loca ist jemand ausgefallen, und sie haben uns gebeten, einzuspringen.“

„Ach, nein“, rief Ruth aus. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Ja, leider“, sagte Fernando. „Wir können das Treffen um ein Wochenende verschieben, wenn es deinen Eltern recht ist.“

„Muss es ja“, Ruth wurde fast garstig. „Dann komme ich am Samstag nach der Arbeit nach München.“

„Machst du das wirklich?“, Fernandos Stimme klang hoch erfreut.

„Ja“, erwiderte Ruth, „ich nehme den Zug um halb fünf, dann bin ich um sechs da.“

„Ich weiß nicht, ob ich dich abholen kann“, gab Fernando zu bedenken. „Wir müssen ein wenig proben.“

„Ich finde den Weg“, sagte Ruth nur, „schließlich wohne ich lange genug in der Gallmayrstraße.“

„Wir treffen uns am besten in La Peseta“, schlug Fernando munter vor.

„Okay“, antwortete Ruth.

„Muy bien“, stellte Fernando fest, „Grüße deine Eltern unbekannterweise von mir, und ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten. Tschüs, meine Liebste.“

„Tschüs, te quiero“, rief Ruth kurz, doch sie war sich nicht sicher, ob Fernando die letzten Worte gehört hatte.

„Mama“, Ruth ging in die Küche. „Fernando kann am Wochenende nicht kommen. Sie haben einen Auftritt. Ich werde am Samstag direkt nach der Arbeit nach München fahren.“

„Lohnt sich das denn?“, wollte ihre Mutter wissen.

„Für Fernando lohnt sich das immer“, stellte Ruth nüchtern fest und hatte ihre Enttäuschung während des Telefongesprächs schon vergessen.

„Sag mal, Ruth“, hörte sie ihre Mutter sagen. „Hier gibt es doch das Haus International. Da könnten deine Freunde auch auftreten. Du solltest nachfragen.“

„Und wo sollen die drei übernachten, wenn sie von München kommen?“, Ruth schaute ihre Mutter fragend an.

„Na, hier bei uns“, meinte die nur. „So viel Platz haben wir schließlich und es wäre nur für ein Wochenende.“

„Ja“, Ruth fand die Idee gar nicht mehr so schlecht. „Ich frage im Haus International nach. Dann kann ich das Thema am Wochenende bei den Dreien erwähnen.“

Am Samstag war Ruth zwar erledigt von der Arbeitswoche, trotzdem fuhr sie, wie sie es mit Fernando vereinbart hatte, nach München.

Zu ihrer Überraschung holte ihr Liebster sie vom Bahnhof ab. Sie fiel ihm um den Hals und sie küssten sich.

„Ich habe nicht viel Zeit“, erklärte Fernando, als sie in der S-Bahn saßen. „Ich muss gleich zur Peseta. Die anderen warten auf mich.“

„Kann ich meine Tasche in die Wohnung bringen?“, wollte Ruth wissen, „dann komme ich gleich mit.“

„Ja“, meinte Fernando lächelnd. „So viel Zeit muss sein.“

Ruth öffnete die Wohnungstüre, ging sofort in ihr Zimmer und stellte die Tasche in eine Ecke. Fernando folgte ihr, drehte sie zu sich um, legte seine Arme um sie und küsste sie lange. Doch dann besannen sie sich auf die Verabredung mit Atilio und Oscar. Sie lösten sich voneinander und verließen die Wohnung beinahe fluchtartig.

„Hola, amigos!“, wurden Fernando und Ruth lautstark von Atilio und Oscar begrüßt. Sie gaben sich, wie es üblich ist, Küsschen rechts und links auf die Wange.

Die Proben begannen und Ruth hörte dem Trio interessiert zu. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie schrecklichen Hunger hatte. Sie wartete jedoch, bis die drei Männer ihre Proben beendet hatten.

Der Wirt, selbst ein halber Latino, stellte ihnen Empanadas mit Hackfleischfüllung hin. Die Fleischtaschen waren gut gewürzt und Ruth bekam Durst. Die anderen schien das Pikante nicht zu stören. Als Ruth nach Trinken verlangte, lachten sie nur und erklärten ihr, es sei besser zuerst Brot zu essen, als das Feuer im Mund durch ein Getränk löschen zu wollen.

Während sie beim Essen saßen, erzählte Ruth vom Internationalen Haus in Kempten.

„Ich habe dort nachgefragt“, erklärte sie, „die wären durchaus an einem Auftritt von euch interessiert.“

„Was?“, lachte Atilio, „bist du jetzt unser Impresario?“

Oscar und Fernando schauten etwas pikiert.

„Und wie soll das gehen?“, wollte Oscar ärgerlich wissen. „Wir fahren am Abend hin, treten auf und hauen wieder ab. Wie weit ist der Ort überhaupt weg?“

„Na ja“, Ruth war unsicher geworden, „eineinhalb Stunden mit dem Zug oder Auto.“

„Und das für einen Auftritt“, ungläubig schüttelte Atilio den Kopf.

Ruth wurde ärgerlich. „Aber ihr lasst mich ja nicht ausreden“, sagte sie schnell, „ihr könntet bei uns übernachten. Bestimmt wäre es möglich zwei Abende zu arrangieren. Dann würde sich die Sache doch lohnen. Oder?“, setzte sie vorsichtig hinzu. Sie konnte nicht verstehen, weshalb die Freunde ihren Vorschlag so vehement ablehnten. Schließlich hatte sie es nur gut gemeint und wollte den Dreien zu mehr Taschengeld verhelfen.

„Frag doch mal.“ Fernando mischte sich erst jetzt ins Gespräch ein.

„Gut“, sagte Ruth nur. Sie war beleidigt. Etwas mehr Begeisterung hatte sie seitens der drei Männer erwartet.

Der Abend verlief nach dieser kleinen Auseinandersetzung friedfertig. Fernando, Atilio und Oscar traten erst gegen halb zwölf Uhr auf. Also hatten sie Gelegenheit, ihre Mitstreiter anzuhören. Die waren nicht schlecht, doch als das Trio auftrat, gab es anhaltenden Applaus. Sie waren inzwischen in Insiderkreisen gut bekannt. Auch die Zugaben wollten nicht enden.

Nach der Vorstellung blieben sie zu einem Umtrunk in der Peseta Loca und kehrten erst gegen drei Uhr nach Hause zurück. Atilio, der als einziger ein Auto besaß, fuhr zuerst Fernando und Ruth nach Hause. Die beiden Männer, Oscar und Atilio wohnen im gleichen Wohnheim.

Ruth und Fernando waren zum Umfallen müde. Sie kuschelten sich aneinander und schliefen friedlich ein.

*

Das nächste Wochenende besuchte Fernando Ruth. Er kam schon am Freitagabend mit dem Zug. Ruth war natürlich erfreut. Für sie stand es fest, sie stellte ihren Eltern ihren Zukünftigen vor. Auch wenn einige das anders sahen.

Ruth parkte das Auto ihres Vaters am Bahnhof. Natürlich war sie viel zu früh dran. Zunächst blieb sie im Auto sitzen und hörte Radio. Zehn Minuten vor Ankunft des Zuges aus München verließ sie den Wagen und schaute auf dem Fahrplan nach dem Gleis. Gerade, als sie zum Bahnsteig kam, hörte sie die anonyme Stimme aus dem schrecklichen Lautsprecher. Der Zug hatte zehn Minuten Verspätung. Scheiße, ist das erste, was Ruth durch den Kopf schoss. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, verglich sie mit der Bahnhofsuhr. Es änderte nichts: zehn Minuten blieben zehn Minuten. Nervös lief sie in langsamen Schritten auf dem Bahnsteig entlang. Nach dem zehnten Mal kannte sie jedes Steinchen, jedes Loch auf dem Bahnsteig. Auch das Angebot des Automaten hatte sie inzwischen auswendig gelernt. Sie überlegte, wie die Chips wohl aussahen, wenn sie von oben bis zur Öffnung nach unten fielen.

Noch fünf Minuten! Zum Auto zu gehen, lohnte sich nicht mehr. Ruth trug nur ein dünnes T-Shirt. Die Jacke lag im Auto. Sie begann zu frieren. An den Armen bildete sich Gänsehaut.

Da, endlich wurde die Ankunft des Zuges angesagt.

Was, wenn Fernando nicht im Zug saß? Ruth verwarf diesen entsetzlichen Gedanken sofort wieder. Er würde kommen, schließlich hatte er es versprochen.

Natürlich stieg Fernando, wie verabredet, aus diesem Zug. Sie begrüßten sich freudig. Hand in Hand gingen sie zum Auto, das Ruths Vater seiner Tochter großzügig überlassen hatte.

Mit zittrigen Händen fuhr sie das Auto vorsichtig durch Kemptens Straßen bis zum Elternhaus in Krugzell. Ruth hatte keine große Fahrpraxis und die Tatsache, dass Fernando neben ihr saß, steigerte die Nervosität. Außerdem musste sie sich nicht nur auf den Verkehr, sondern auch noch auf das Gespräch mit ihm konzentrieren. Trotz all dieser Anstrengungen kamen sie heil in Krugzell an.

Ihre Eltern waren natürlich neugierig den jungen Mann kennen zu lernen, der das Herz ihrer Tochter erobert hatte.

Vater und Mutter erwarteten den Freund ihrer Ältesten schon in der Haustüre. Sowohl der Vater, als auch die Mutter hatten sich zur Feier des Tages herausgeputzt. Ihre Mutter war sicherlich direkt aus der Küche gekommen, trotzdem hatte sie es sich nicht nehmen lassen, zur Begrüßung des Gastes die Schürze abzunehmen.

Ruth war diese feierliche Art der Begrüßung peinlich, aber ändern konnte sie es nicht.

„Herzlich Willkommen“, sagten sie wie aus einem Mund, so als hätten sie das vorher einstudiert.

„Guten Abend“, antwortete Fernando artig mit seinem unverkennbaren Akzent. „Ich danke Ihnen herzlich für die Einladung. Ruth hat viel von Ihnen erzählt.“

„Es ist vielleicht übertrieben“, lächelte der Vater freundlich, „aber nett, dass Sie das sagen.“

„Jetzt kommt erst einmal rein“, die Mutter trat von der Haustüre zurück, damit Fernando und Ruth eintreten konnten. „Ich bin mir sicher, Sie haben Hunger“, fügte Ruths Mutter sofort hinzu. „Wir können gleich essen.“

„Sehr freundlich von Ihnen“, meinte Fernando höflich.

„Komm, ich zeig dir dein Zimmer“, Ruth nahm Fernando bei der Hand und zog ihn mit sich die Treppe hoch, zu den Schlafzimmern. Dort öffnete sie eine Türe und deutete mit einladender Geste hinein.

„Hier ist dein Reich“, damit schob sie ihn ins Zimmer.

Fernando schaute sie verständnislos an. „Und wo schläfst du?“

„Meine Eltern sind etwas konservativ“, gestand Ruth nun kleinlaut. „Sie wissen zwar, dass wir in München miteinander schlafen, doch unter ihrem Dach dürfen Unverheiratete das nicht. Sie behaupten, es ist nicht gut, wenn die Nachbarn reden, dabei sehen die doch gar nicht ins Haus. Es gibt eben gewisse Spielregeln hier im Haus, sagt mein Vater. Lassen wir ihm die Freude. So kann er den Schein wahren.“

Fernando lachte leise. „So ist das bei uns auch. Das heißt, normalerweise stellt man die Frau oder den Mann erst vor, wenn man sich verloben will.“

Da war es wieder. Das war genau das, was Fernando schon einmal gesagt hatte. Sie hoffte immer, dass sie sich verlobten, bevor Fernando nach Chile zurückkehrte und mit derartigen Äußerungen zerstörte er ihre Hoffnungen. Noch hatte sie Zeit, Fernando davon zu überzeugen, dass sie die richtige Frau für ihn war. Dazu musste sie sich von ihrer besten und vernünftigsten Seite zeigen. Von ihrer Schokoladenseite eben.

„So, hier sind Bad und Toilette“, wollte sie ihn aus dem Zimmer ziehen, doch Fernando hielt sie fest, schnell schob er die Zimmertüre zu, zog Ruth an sich und küsste sie fest auf die Lippen. Dann ging er zur Türe und öffnete sie, so als wäre nichts geschehen. Er drehte sich nochmals kurz zu ihr um und lächelte sie verschmitzt an.

Ruth machte zwei Türen auf und zeigte ihm, wie angekündigt, Toilette und Badezimmer. Nun gingen die Beiden Hand in Hand die Treppe hinunter ins Esszimmer. Der Tisch war bereits gedeckt. Ruth ließ Fernando bei ihrem Vater, der schon zu warten schien und ging in die Küche zu ihrer Mutter.

Ruth schnüffelte in die Luft und roch, dass ihre Mutter gefüllte Paprikaschoten zubereitet hatte.

„Hm, Mama“, hielt sie nochmals die Nase in die Luft, „das riecht aber gut.“

„Ja, meinst du?“, ihre Mutter schien etwas unsicher, „isst Fernando das?“

„Aber sicher Mama“, Ruth streichelte ihrer Mutter den Rücken. „Du kochst ausgezeichnet, weshalb sollte Fernando das nicht mögen?“

„Na ja“, sie zögerte immer noch und zuckte mit den Schultern, „wie soll ich den jungen Mann denn ansprechen?“

„Am besten bei seinem Namen“, sagte Ruth kurz, „einfach Fernando.“

Ruth nahm die Schüssel mit dem dampfenden Reis und trug sie ins Esszimmer. Dort saßen Fernando und ihr Vater bereits am Tisch und unterhielten sich angeregt. Beide hatten eine Flasche Weizenbier und das dazugehörige Glas vor sich stehen. Die Männer hatten schon begonnen das Bier ins Glas zu gießen.

Im Augenblick schienen sie den Rest Bier in der Flasche vergessen zu haben, denn beide prosteten sich zu und nahmen einen kräftigen Schluck aus dem hohen Weizenglas.

Zum ersten Mal hörte Ruth Fernando wirklich Deutsch sprechen. Mit Gabi war ihr das nie richtig aufgefallen. Doch hier ging es um technische Dinge. Nun konnte Ruth feststellen, dass Fernando sich in diesem Bereich durchaus korrekt ausdrücken konnte. Nun ja, in Ruths Vater, der früher KFZ-Mechaniker war und jetzt als Industriekaufmann arbeitete und nach wie vor mit technischen Dingen zu tun hatte, traf Fernando auf einen Kenner der Fachausdrücke.

Ruths Mutter kam mit den Paprikaschoten zum Esstisch und begann zu servieren. Als alle am Tisch saßen und sich guten Appetit gewünscht hatten, stürzten sich die vier hungrig auf das Essen. Schweigen herrschte am Tisch.

Nachdem Fernando mehrere Bissen probiert hatte, lächelte er Ruths Mutter freundlich an und meinte: „Das schmeckt sehr gut. Sie kochen wirklich ausgezeichnet. Das Rezept müssen Sie mir geben.“

„Ach, danke“, Ruths Mutter wurde beinahe rot. „Das ist aber lieb von Ihnen. Natürlich bekommen Sie das Rezept.“

„Jetzt weiß ich, wo Ruth so gut Kochen gelernt hat“, schmeichelte Fernando weiter Ruths Mutter.

Ruth mischte sich ins Gespräch ein: „Das ist Quatsch. Fernando kocht echt gut. Und Sachen, die ich noch gar nicht gekannt habe.“

„Aha“, sagte der Vater nun, „dann müssen wir uns mal von Ihnen bekochen lassen, Fernando.“

„So besonders ist es auch nicht“, hob Fernando abwehrend die rechte Hand. „Ruth übertreibt.“

„Jetzt spielt er herunter“, bekräftigte Ruth ihre Aussage und legte die rechte Hand auf Fernandos linken Arm.

Nach dem Essen setzten sich die Männer in die Sitzecke, während Ruth ihrer Mutter half den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu versorgen.

Ruths Vater hatte aus dem Keller eine Flasche Rotwein geholt und zur Feier des Abends geöffnet.

Als Ruth und ihre Mutter aus der Küche kamen, saßen ihr Vater im Sessel und Fernando auf dem Sofa. Die zwei Männer waren schon wieder angeregt ins Gespräch vertieft. Die Frauen gesellten sich zu den Mannsbildern.

In fröhlicher Runde saßen sie zusammen und unterhielten sich angeregt über Politik. Ruths Vater zeigte sich an Chile und den Problemen interessiert und natürlich auch an Fernandos Familie. Er wollte wissen, wie das Leben dort ist. Dass in Chile viele Deutsche lebten, davon hatte er schon gehört.

Um halb elf verabschiedete sich Ruths Mutter. Sie war müde und ging zu Bett. Eine halbe Stunde später zog sich auch ihr Vater zurück, während Ruth und Fernando noch sitzen blieben.

„Meinst du, du kannst heute Nacht bei mir bleiben?“, wollte Fernando wissen, während er Ruths Brüste streichelte und fühlte, wie sich die Brustwarzen verhärteten.

„Wenn, dann könntest du auf ein Schäferstündchen zu mir kommen“, lud Ruth ihn ein. Sie hatte ihre Hand inzwischen auf Fernandos Oberschenkel gelegt und streichelte ihn. „Dein Zimmer ist nämlich direkt neben dem meiner Eltern.“

„Und wo ist dein Zimmer?“, Fernando war neugierig geworden. „Du hast es mir gar nicht gezeigt.“

„Wir hatten vorhin keine Zeit mehr“, erinnerte Ruth ihn.

Fernando wurde ungeduldig. „Auf was warten wir noch?“

Ruth lächelte ihn verschmitzt an. „Darauf, dass sie hoffentlich einschlafen und nicht mitbekommen, dass du nicht direkt in dein Zimmer gehst.“

„Soll das heißen, du hast schon einschlägige Erfahrungen?“, auch Fernando lächelte und streichelte weiterhin Ruths Brüste.

„Kann man so sagen“, Ruth kuschelte sich an Fernandos Brust, „schließlich hat mich mein erster Freund im Alter von sechzehn unter dem Dach meiner Eltern entjungfert.“

Fernando schien überrascht. „Ehrlich? Hier?“

„Ja“, gestand Ruth. „Es war der Freund meines Bruders. Er hat hier geschlafen. Na ja, da ist es halt passiert.“

„Hast du dieses Experiment noch öfters durchgeführt?“, Fernando war neugierig geworden.

„Noch zweimal“, antwortete Ruth und schaute Fernando offen an. „Dann war Schluss mit dem Jungen.“

„Ich weiß nicht“, Fernando zögerte plötzlich, „vielleicht sollten wir das Glück nicht herausfordern.“

„Quatsch!“, Ruth stand auf, „komm, wir gehen ins Bett.“

Fernando holte den Toilettenbeutel aus seinem Zimmer und begab sich ins Badezimmer. Ruth zeigte ihm, bevor sie in ihr Zimmer ging, wo Fernando sie finden würde, damit er später nicht das falsche Zimmer betrat.

Während Fernando sich im Bad aufhielt, entledigte sich Ruth rasch ihrer Kleidung und legte sich splitternackt ins Bett. Sie hatten sich eine Woche nicht gesehen und sie war ganz heiß auf Sex mit ihm. Hoffentlich war Fernando nicht zu verklemmt, weil ihre Eltern auf der gleichen Etage schliefen. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihn das stören würde.

Ruth kam es wie eine Ewigkeit vor, doch endlich erschien Fernando. Er brachte seinen Toilettenbeutel mit und stellte ihn auf den Stuhl, auf dem bereits Ruths Kleider lagen. Die Bettdecke hatte sie bis zum Hals hochgezogen. Fernando brauchte nicht sofort wissen, dass sie ohne Nachthemd im Bett lag.

„Den hättest du im Bad lassen können“, erklärte ihm Ruth und deutete mit dem Kinn auf den Beutel. „Komm, mein Liebster, ich warte schon zu lange auf dich.“

Fernando zog sich bis auf den Slip aus und kroch zu Ruth unter die Decke.

„Oh!“, lächelte Fernando und kniff vorsichtig in Ruths rechte Brustwarze. „Du hast es aber eilig.“

„Ich warte lange genug“, gurrte Ruth heißer.

Sie liebten sich wie zwei ausgehungerte Wesen. Dann stand Fernando auf, zog seinen Slip wieder an und klemmte sich die Kleider und den Toilettenbeutel unter den Arm. Vorsichtig öffnete er die Zimmertüre und schaute, ob die Luft rein war. Dann schlich er auf Zehenspitzen in das ihm zugewiesene Zimmer hinüber.

Das Wochenende mit Ruths Eltern verlief harmonisch. Fernando hatte einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen. Ruths Eltern hatten bislang nicht viel mit ausländischen Mitmenschen zu tun gehabt und waren angenehm überrascht, dass es heute noch junge Männer gab, die so gut erzogen waren. Inzwischen lehnten sie die Wahl ihrer Tochter nicht mehr strikt ab. Die Entfernung nach Chile machte ihnen jedoch nach wie vor Sorgen, doch das stand auf einem anderen Blatt.

*

Die Woche danach trafen sich die Liebenden nicht. Dafür würde Fernando in zwei Wochen mit Atilio und Oscar nach Kempten kommen. Wie vereinbart konnten sie bei Ruths Eltern übernachten.

Am Freitag- und Samstagabend traten sie jeweils im Internationalen Haus in Kempten auf.

Ruth begleitete die Freunde schon am Freitagabend. Am Samstag ließen es sich Ruths Eltern nicht nehmen, auch zum Konzert zu gehen. Sie waren begeistert.

Obwohl die Freunde es nicht wollten, wurden sie von Ruths Mutter bekocht und verwöhnt.

Ruth war überglücklich. Sie hatte nie gedacht, dass sich ihre Eltern so für die lateinamerikanische Sache begeistern könnten.

Am Sonntag, nach dem Mittagessen, es gab einen richtigen Schweinsbraten mit abgeschmelzten Spätzle und grünem Salat, fuhren die Freunde bei strömendem Regen wieder nach München zurück.

Ruth war traurig, weil sie in Krugzell zurückbleiben musste.

*

Drei Wochen vor Ende der Semesterferien bekam auch Fernando Urlaub und die beiden Turteltauben beschlossen mit dem Zelt an den Gardasee zu fahren. Fernando lieh sich Atilios Auto aus, also stand dem Unternehmen nichts im Weg.

Das Wetter am Gardasee war zwar nicht umwerfend, doch das tat der Liebe und der Zweisamkeit Fernandos und Ruths keinen Abbruch. Sie genossen diese Zeit umso mehr, als Fernando Anfang November nach Chile zurückkehren würde. Er hatte nie Anstalten gemacht, seinen Aufenthalt zu verlängern. Ruth hatte zwar insgeheim darauf gehofft, aber ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung.

Beide wussten, dass eine lange Zeit der Trennung bevorstand, doch sie versprachen sich, auch das zu meistern. Liebten sie sich doch über alles.

Am letzten Abend am Gardasee war Ruth wieder melancholisch. Fernando spürte es und war besonders liebevoll zu ihr. Sie schlenderten in Bardolino Hand in Hand die Strandpromenade entlang.

„Mein Liebes“, sagte er und streichelte ihre Wange. „Du weißt, dass nichts zwischen uns kommt. Ich kann ohne dich nicht mehr sein. Wir werden noch viele schöne Tage in Chile zusammen verbringen. Wichtig ist nur, dass du durchhältst und dein Studium zu Ende bringst. Dann hast du dort viele Möglichkeiten als Lehrerin zu arbeiten.“

„Ja, ich weiß“, schniefte Ruth und wischte sich mit der Hand über die Nase. „Aber zweieinhalb Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte.“

„Vielleicht kannst du nächstes Jahr während der Semesterferien kommen“, schlug Fernando vor. Er hatte inzwischen seinen Arm um Ruth Schultern gelegt.

Ruth blieb stehen und schaute Fernando mit großen, fragenden Augen an. „Und wo soll ich das Geld für den Flug hernehmen?“

Fernando hatte sie an beiden Schultern ergriffen, drehte sie zu sich und sah ihr fest in die Augen. „Da findet sich bestimmt eine Lösung. Es ist ja noch fast ein Jahr bis dahin.“

„Ich denke“, Ruth heulte beinahe, „dieser Illusion sollten wir uns nicht hingeben.“

„Oder vielleicht doch“, berichtigte Fernando und küsste sie auf den Mund, „dann wird die Zeit kürzer.“

„Aber auch die Enttäuschung, wenn es nicht klappt“, sagte Ruth nüchtern.

Diese Art von Gesprächen hatten sie, bis zum Tag der Abreise des Öfteren. Ruth musste sich zwingen regelmäßig die Vorlesungen zu besuchen. Sie war mit ihren Gedanken stets weit weg.

Ruth feierte am 8. Oktober ihren Geburtstag. Sie war überaus glücklich, denn sie konnte ihn mit Fernando feiern. Da ihr Schatz nur noch einen Monat in München verweilen würde, wollte Ruth nur mit ihm ganz allein sein. Sie kochte für Fernando und Gabi. Es gab Albóndigas, Hackfleischbällchen mit Minze gewürzt und Reis. Dazu gemischten Salat und als Nachtisch Obstsalat.

Gabi nahm an dem Abendessen teil, verabschiedete sich dann jedoch sofort. Sie wusste, wie es um die Beiden stand und wollte die Zweisamkeit nicht unnötig stören.

Die Tage bis zu Fernandos Abreise konnte man nun ohne große Schwierigkeit zählen.

Er war inzwischen vom Wohnheim ganz zu Ruth gezogen. Nur zweimal die Woche ging er noch zur alten Adresse und holte seine Post ab. Briefe von seinen Eltern, wie er ihr erklärte. Er wollte ihnen für die kurze Zeit keine neue Adresse mehr geben, sagte er zur Begründung.

Dann war die letzte gemeinsame Nacht angebrochen. Eine letzte Gelegenheit sich nochmals zu lieben, doch Beiden stand der Sinn nicht mehr nach Sex. Sie lagen nebeneinander im Bett und streichelten sich, doch Erregung wollte keine aufkommen. Eine große Traurigkeit legte sich auf die Liebenden.

Ruth meinte: „Jetzt kann man sagen, morgen um diese Zeit bist du schon weit weg. Und ich liege alleine hier in dem Bett. Ich glaube, ich werde die Bettwäsche nie abziehen, damit ich wenigstens deinen Geruch in der Nase habe.“ Sie brach in Tränen aus. „Ich halte das nicht mehr aus, Fernando. Bitte bleib.“

„Liebling“, auch Fernandos Stimme klang gebrochen, „ich kann nicht. Das weißt du. Aber du weißt auch, dass ich alles in Bewegung setzen werde, damit du nachkommst. Das habe ich dir versprochen.“

„Ja“, Ruths Tränen kullerten aufs Kopfkissen und hinterließen einen nassen Fleck, doch es war ihr egal.

Am nächsten Morgen sah Ruth schrecklich aus. Man konnte ihr ansehen, dass sie sich die Augen ausgeweint hatte. Auch Fernando vermittelte einen mitgenommenen Eindruck.

Zum hundertsten Mal sagte Fernando zu Ruth: „Bitte komm nicht mit zum Flughafen. Oscar und Atilio bringen mich hin. Bleib hier. Es ist besser für uns beide.“

„Ich möchte dich aber begleiten“, beharrte Ruth, der schon wieder die Tränen in den Augen standen. „Ich will bis zur letzten Sekunde an deiner Seite bleiben.“

Fernando sah schließlich ein, dass er Ruth nicht davon abbringen konnte, ihn zu begleiten und gab nach.

Zu viert fuhren sie zum Flughafen. Ruth und Fernando saßen hinten im Auto und hielten Händchen. Gespräch kam zwischen den Beiden keines auf, also sorgten Atilio und Oscar für eine lockere Unterhaltung um die Situation zu entspannen. Vergeblich!

Am Flughafen kam Hektik auf. Fernando hatte zu viel Gepäck und wollte keinen Aufpreis bezahlen. Also öffnete er den Koffer nochmals und nahm ein paar Mitbringsel heraus. Er überließ sie Ruth, Oscar und Atilio. Vielleicht konnten sie die Sachen gebrauchen.

Bis zur letzten Minute blieb Fernando bei seinen Begleitern, dann war der Augenblick des Abschieds unwiderruflich gekommen.

Zuerst sagte Fernando seinen Freunden Adiós. Die verschwanden sofort in Richtung Ausgang. Nun wandte sich er Ruth zu.

„Ich werde dir jeden Tag schreiben“, versprach er ihr und strich die Tränen von ihren Wangen. „Vergiss nicht, ich liebe dich.“

Ruth konnte nicht viel sagen. Sie hatte die Augen voller Tränen und sah ihren Liebsten verschwommen vor sich stehen.

„Ich liebe dich“, war alles, was sie gequält herausbrachte. Noch einmal küssten sie sich auf den Mund. Dann ging jeder in seine Richtung, ohne sich nochmals umzusehen.

Wie in Trance erreichte Ruth Atilio und Oscar, die am Ausgang auf sie warteten. Sie bestiegen das Auto. Ruth saß wieder hinten. Diesmal alleine! Sie hatte keine Tränen mehr. Völlig ausdruckslos schaute sie aus dem Fenster und sah doch nichts. Sie fühlte sich leer, wie ausgehöhlt.

Nun war sie also alleine. Wie sollte sie die Zeit ohne Fernando nur durchstehen? Sie wusste es nicht. Im Augenblick wollte sie es auch nicht wissen. Sie war viel zu einsam.

Zu Hause angekommen, war sie alleine. Gabi hielt sich an der Uni auf. Ruth warf sich, so wie sie war, mit Kleidung und Schuhen auf ihr Bett und schluchzte haltlos.

Zweieinhalb Jahre würde es dauern, bis sie Fernando wiedersah. So lange gab es nur Briefe.

Später setzte sie sich hin und schrieb den ersten Brief für Fernando. Das würde während der nächsten Monate ihre Hauptbeschäftigung sein. Die Briefe an Fernando! Mehr war ihr für den Augenblick nicht geblieben.

Geh in die Wueste

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