Читать книгу Geh in die Wueste - Christine Jörg - Страница 6
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Оглавление„Ihre Fahrkarte, bitte“, Ruth fährt zusammen, als eine männliche Stimme direkt neben ihr nach dem Fahrschein fragt. Mit einem Plumps fällt die Tasche, die sie auf dem Schoß festgehalten hat, auf den Boden. Sie bückt sich und hebt sie eilig auf. Nun beginnt sie zu kramen. Wo hat sie den Fahrschein hineingesteckt? Im Seitenfach kann sie sie nicht finden. Auch in der vorderen kleinen Tasche ist er nicht. Schließlich öffnet sie den Geldbeutel. Da, zwischen den Geldscheinen zieht sie die Fahrkarte heraus und reicht sie dem Zugbegleiter.
„Hier, bitte“, Ruth lächelt den Mann nervös an.
„Danke“, antwortet dieser mit ungerührter Miene und setzt seinen Weg durch den Zug fort.
Ruth schaut aus dem Fenster und stellt fest, dass sie gleich Kempten erreichen. Während sie in den Bahnhof einfahren, wirft sie einen Blick auf den herannahenden Bahnsteig. Kempten hat sich verändert. Dort wo der große Parkplatz am alten Bahnhof angelegt war, befindet sich jetzt das Forum, ein Einkaufszentrum. Ein paar Mal hat Ruth das Einkaufszentrum besucht, doch sie zieht es nach wie vor in die Fischerstraße, wenn sie in Kempten einkaufen möchte.
Während sie die Reisenden beim Ein- und Aussteigen beobachtet, überlegt sich Ruth, dass sie hier mit Fernando auch schon war. Ja, in den glücklichsten Zeiten ihres Lebens.
Bevor er ihr den Dolchstoß verpasste, indem er ihr mitteilte, dass er geheiratet hatte.
*
Ruth sonderte sich nach Erhalt der Nachricht von Fernandos Hochzeit vollkommen ab. Mit ihren Kommilitonen unternahm sie nichts. Wenn sie eingeladen wurde, lehnte sie dankend ab.
Von Atilio und Oscar hörte Ruth nichts mehr. Und von sich aus meldeten sich die Beiden nicht. Nun ja, nachdem Fernando nicht mehr da war, interessierten sich die zwei Männer nicht für Ruth. Sie waren Fernandos Freunde.
Die Peseta Loca besuchte Ruth nicht mehr. Zu viel erinnerte sie hier an Fernando und die glückliche Zeit mit ihm. Im Augenblick reichte es ihr. Mit Lateinamerikanern hatte sie nichts mehr am Hut. Wenn sie es sich recht überlegte, waren sie alle Exoten. Und wenn man sich noch so bemühte, man verstand sie doch nicht, auch wenn man Spanisch sprach. Oder waren es die Männer im Allgemeinen? Ruth zweifelte. Also beschloss sie, Männer ganz aus ihren Leben zu bannen. So stand sie auf der sicheren Seite um keinen weiteren Reinfall zu erleben.
Gabi hatte sich verändert. Nachdem großen Besäufnis hatte der Arzt festgestellt, dass sie tatsächlich schwanger war. Stefan und sie heirateten binnen kurzer Zeit. Schließlich war es für die Beiden bereits vorher beschlossene Sache, dass sie nach Ende von Gabis Studium heiraten würden. Nun war es eben etwas früher.
Ruth wurde gebeten als Trauzeugin zu fungieren. Sie wehrte sich zwar und wollte der Hochzeit nicht beiwohnen. Es kostete Stefan und Gabi viel Mühe, sie trotz allem zu überreden. Und so wurde sie Gabis Trauzeugin.
Während der standesamtlichen Trauung waren die wenigen Hochzeitsgäste sehr glücklich und strahlend. Nur Ruth konnte an der Zeremonie keinen Gefallen finden und vergoss hie und da eine Träne. Gleich nach der Trauung verabschiedete sie sich und verließ die kleine Gesellschaft.
Gabi würde bis zum Ende des Sommersemesters in München wohnen. Für die Referendarzeit, die danach begann, wollte sie sich im Raum Neu Ulm bewerben. Stefan lebte bereits in der Nähe und dort wollten sich die Beiden niederlassen.
Problemlos würden die jungen Frauen Nachmieter für die Wohnung finden. Beide würden im Juli ihre Zelte in München abbrechen und getrennte Wege gehen.
Gabi war nun sittsam verheiratet. Sie ging nicht mehr viel aus. Ab und zu konnte sie Ruth dazu überreden mit ins Kino zu gehen. Wenn sie sie jedoch mit anderen Freunden zu einem Konzert oder Theaterstück schicken wollte, blockte Ruth störrisch ab.
*
Ende April erlitt Gabi eine Fehlgeburt. Die jungen Frauen machten sich Vorwürfe. Hatte das Besäufnis die Tragödie hervorgerufen? Gabi und Stefan hatten sich sehr auf das Baby gefreut und auch beruflich alles so weit eingeplant. Es war ein Tiefschlag. Vor allem Ruth fühlte sich mitschuldig. In ihrem Gram hatte sie auf die Freundin keine Rücksicht genommen und nur an sich gedacht. Wie sollte sie das wieder gutmachen?
Ruth vergrub sich vollkommen in ihren Büchern. Im Augenblick zählte nur noch das Studium. Außerdem wollte sie sich schon einmal auf ihre Arbeit als Referendarin an der Realschule in Lindau vorbereiten.
Nachdem sie Fernandos Abschiedsbrief bekommen hatte, wagte Ruth es nicht mehr zu ihren Eltern zu fahren. Wie sollte sie ihnen auch erklären, was vorgefallen war? Es war ihr peinlich, außerdem wusste sie, dass ihre Eltern Fernando ins Herz geschlossen hatten. Wie sollte sie ihnen erklären, dass es aus war? Auch hatte sie vor der Reaktion ihrer Eltern Angst. Bestimmt würden sie Ruth erklären, dass das absehbar war. Und von wegen, das hatten wir doch gleich gewusst und so weiter. So etwas wollte Ruth im Augenblick nicht hören.
Ruths Mutter kam jedes Jahr im Frühjahr für ein Wochenende nach München um mit ihrer Tochter durch die Stadt zu bummeln und vielleicht ein Theater oder Konzert zu besuchen. So auch in diesem Jahr.
Wie immer holte Ruth ihre Mutter vom Bahnhof ab. Sie fuhren mit der S-Bahn zur Wohnung und brachten das Gepäck in Sicherheit.
Gabi hielt sich während des Wochenendes bei Stefan auf. Also hatten die zwei Frauen sturmfreie Bude.
„Ich habe dir und Gabi Käse und Wurst mitgebracht“, sagte die Mutter, während sie die Tasche ausräumte und einen Rock mit Bluse auf den Bügel hängte, den Ruth ihrer reichte.
Während Frau Häberle nach dem Kleiderbügel griff, den ihre Tochter ihr zuschob, schaute sie Ruth prüfend an.
„Du bist dünn geworden“, stellte sie schließlich fest. „Überhaupt, du siehst gar nicht gut aus. Lernst du zu viel? Isst du zu wenig? Oder bist du krank?“ Man sah Frau Häberle an, wie sie sich Sorgen um das Wohl ihrer Tochter machte.
„Natürlich ist alles in Ordnung“, versuchte Ruth so munter wie nur möglich zu antworten.
Sie lächelte ihre Mutter sogar freundlich an. „Mama, du brauchst doch nichts mitbringen. Wir sind hier in München und bekommen alles.“ Dabei blickte sie in die Reisetasche der Mutter.
„Ja, aber trotzdem“, beharrte ihre Mutter. „So einen guten Käse wie im Allgäu kriegst du hier nicht.“ Sie bückte sich, holte das Paket mit Käse und Wurst aus der Tasche und drückte es ihrer Tochter in die Hand. Ruth trug alles in die Küche, verstaute das Paket unbesehen im Kühlschrank und kehrte ins Zimmer zurück.
Ruths Mutter stand mit einem Brief in der Hand da und wartete auf sie. Nun streckte sie ihn ihrer Tochter entgegen: „Übrigens, da sind Grüße für Fernando. Vielleicht kannst du sie ihm mit deinem Brief schicken. Er freut sich bestimmt.“
So, nun war es so weit. Jetzt musste sie ihrer Mutter reinen Wein einschenken. Der Moment vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte, war da. Wie sage ich es meiner Mutter? Deswegen hatte sie sich bis jetzt vor dem Geständnis gedrückt.
Zuerst sah Ruth sich suchend um, doch es war niemand da, der ihr helfen konnte. Immer noch zögerte sie. Ihre Mutter stand vor ihr und hielt ihr einen Brief entgegen, den sie gar nicht annehmen wollte. Sie wusste ja auch nicht, was sie damit sollte. Es war fast, als verlangte man von ihr, dass sie ein heißes Eisen anfasste. Ruth begann zu zittern.
Schließlich streckte sie langsam und zögernd ihre Hand aus und nahm den weißen Umschlag entgegen. Der wäre ihr beinahe entglitten.
Mit leiser, tränenerstickter Stimme sagte sie schließlich: „Mama, Fernando hat vor etwa sechs Wochen seine langjährige Verlobte geheiratet.“
Ihre Mutter wurde bleich. Sie ließ sich auf den Sessel fallen, der genau hinter ihr stand: „Was?“, war das Einzige, was sie dazu sagen konnte. Das Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben.
„Hast du gewusst, dass er verlobt war?“, wollte sie nach einer Weile des Schweigens von Ruth wissen.
Diese schüttelte nur den Kopf. Sie konnte jetzt nicht sprechen. Eigentlich wollte sie das Zimmer verlassen, doch ihre Mutter hielt sie auf, in dem sie schnell nach Ruths Arm griff.
„Wie lange weißt du das jetzt?“, forschte Ruths Mutter nach.
Ruth zuckte mit den Schultern. „Etwa seit drei Wochen. Aber was ändert das?“
„Nichts“, gab die Mutter zurück. „Aber weshalb bist du dann nicht nach Hause gekommen.“
„Weil ich nicht hören wollte“, Ruth war aggressiv geworden, „wir haben dir doch gleich gesagt, mit dem Kerl stimmt was nicht. Besonders nachdem ihr ihn so hochgejubelt habt.“
Frau Häberle schaute ihre Tochter mit großen Augen erstaunt an und wehrte ab. „Das ist doch Quatsch.“
„Gar nichts ist das“, widersprach Ruth energisch und schaute ihre Mutter böse an. „Ich kenn euch doch. Mit eurem kleinbürgerlichen Gehabe.“
„Das stimmt überhaupt nicht“, nun war es an Frau Häberle verärgert zu sein. „Schließlich bist du unsere Tochter und wir müssen sehen, was am besten für dich ist.“
„Ja, ja, Mama“, sagte Ruth und nickte eifrig. „Passt schon. Komm lass uns essen gehen und danach bummeln, deswegen bist du doch gekommen.“
„Ich habe keine große Lust mehr“, Frau Häberle blieb auf dem Sessel sitzen.
Ruth näherte sich ihrer Mutter und legte die Arme um sie. „Ach, Mama!“, drängte sie, „jetzt gehen wir. Ich habe ein kleines Restaurant entdeckt, das schauen wir uns heute an.“
Die zwei Frauen verließen die Wohnung. Mit S-Bahn und U-Bahn fuhren sie nach Schwabing, in das Restaurant, das Ruth ins Auge gefasst hatte.
Frau Häberle schien Fernandos Fehlverhalten immer noch zu bewegen, denn während des Essen sagte sie plötzlich: „Und was sage ich deinem Vater?“
Ruth drohte zu explodieren. „Siehst du, Mama, genau das meine ich, wenn ich sage, dass ihr dann über mich herfallt. Wie sage ich es Papa? Herrgott noch mal, das ist mein Leben. Seit geraumer Zeit bin ich volljährig!“
„Ach, Ruth“, wehrte sich die Mutter. „Du wirst immer unser Kind, unsere Tochter, bleiben. Auch wenn du vierzig bist. Das haben Eltern nun mal so an sich. Du wirst das schon noch feststellen, wenn du selbst Kinder hast.“
„Ja, Mama, das mag ja sein“, lenkte Ruth ein und tätschelte die Hand ihrer Mutter. „Aber den Kindern geht es trotzdem ab und zu auf den Geist.“
„Und was willst du jetzt tun?“, erkundigte sich Ruths Mutter.
Ruth zuckte die Schultern und lächelte ihre Mutter müde an: „Das was ich vor Fernando und auch während der Zeit gemacht habe. Ich absolviere mein Studium und versuche ins Lehramt zu kommen. Das war immer mein Ziel. Nur, ich werde eben nicht in Chile unterrichten, sondern irgendwo hier. Zuerst werde ich als Referendarin in Lindau eingesetzt. Das ist ganz gut. Wenn ihr einverstanden seid, könnte ich Zuhause wohnen. Mit einem kleinen Auto bin ich schnell in Lindau.“
Frau Häberle atmete erleichtert auf. „Das hört sich doch gut und vernünftig an. Natürlich kannst du wieder bei uns wohnen. Dein Zimmer ist jederzeit bereit. Das weißt du auch.“
„Ja, klar“, sagte Ruth eifrig. „Aber fragen muss ich trotzdem. Ich kann nicht einfach so hereinplatzen und sagen hier bin ich, ich wohne wieder bei euch. Meine Prüfungen sind gut ausgefallen. Vielleicht ist das ein Anreiz für eine Lehrerstelle. Oder sogar eine Planstelle.“
„So lange du die Flinte nicht ins Korn wirfst, ist es doch gut“, erwiderte die Mutter. „Was macht eigentlich Gabi?“
Nun erzählte Ruth von der Fehlgeburt, und dass ihre Freundin zum Ende des Semesters zu ihrem Mann nach Neu Ulm umziehen würde. Es war das Ende einer langen Wohngemeinschaft. Alles Weitere würde sich finden.
Nach den anfänglichen Reibereien mit ihrer Mutter, war Ruth ganz glücklich, dass ihre Mutter zu Besuch gekommen war. Eigentlich konnte man gut mit der ihr reden, hatte Ruth wieder einmal festgestellt.
*
Sie fuhr nun wieder regelmäßig die Eltern am Wochenende besuchen. Auch ihr Vater begrüßte Ruths Vorhaben, einen guten Studienabschluss hinzulegen um dann möglichst schnell an eine Anstellung im Schuldienst und vor allem eine Planstelle zu bekommen.
Bei jeder dieser Fahrten war Ruth voll beladen. Schließlich mussten sie und Gabi bis Ende Juni die ganze Wohnung geräumt haben. Zum Glück konnten sie einen Teil der Möbel an die Nachmieter verkaufen. Ein Problem weniger!
Von der Männerwelt hatte Ruth die Nase voll und hielt sich fern. Im Augenblick war sie so sehr geheilt, dass sie sich nicht vorstellen konnte, irgendwann einmal zu heiraten und Kinder zu bekommen. Dieses Junggesellendasein hatte immerhin den Vorteil, dass man Entscheidungen selbst treffen konnte und nicht immer alles mit anderen durchsprechen musste.
Diesbezüglich war Gabi ein gutes Beispiel. Überall musste sie Kompromisse schließen, damit sie mit ihrem Stefan klarkam. Ruth konnte sich so etwas nicht mehr vorstellen.
Zwei- oder dreimal hatte sie trotz allem die Peseta Loca besucht, doch außer dem Wirt kannte sie niemanden, also strich sie auch das von ihrem Programm.
Mit Studienkollegen freundete sich Ruth nicht an. Sie waren ihr oft zu flatterhaft. Die Diskussionen, denen sie ab und zu unfreiwillig beigewohnt hatte, bestätigten sie in der Meinung, dass einige doch nur hier an der Uni waren um sich ein faules Studentenleben zu machen. Für Ruth waren diese Zeiten endgültig vorbei.
Von jetzt an wollte sie möglichst schnell auf eigenen Füßen stehen. Freilich, es kam noch eine Durststrecke als Referendarin, doch die würde sie durchstehen. Dessen war sie sich sicher.
Ihr großer Traum von einem gemeinsamen Leben mit Fernando war gestorben und begraben. Sie musste sich neu orientieren. So viel stand für sie fest: Kein Mann war es wert, dass man ihm nachweinte, von sich umbringen konnte gar nicht erst die Rede sein.
Am letzten Wochenende im Juni war der große Umzug von Ruth und Gabi. Ruths Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, in der Firma einen kleinen Lieferwagen auszuleihen und selbst in München mit Hand anzulegen. Gabi wurde von ihrem Mann Stefan unterstützt.
Am Samstagabend brachte jeder seine Fuhre ins neue Heim. Die Freundinnen wollten sich am Montag in München treffen. Noch einmal würden sie gepflegt zu Abend essen und Abschied nehmen. Am Dienstag übergaben sie die Wohnung an die Nachmieter. Dann war dieses Kapitel endgültig abgeschlossen.