Читать книгу Geh in die Wueste - Christine Jörg - Страница 5

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Der Zug fährt am Bahnhof in Sonthofen ein. Zusammen mit den anderen Reisenden steigt Ruth ein und versucht einen Sitzplatz zu ergattern. Erfolglos! Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Reisetasche im Gang vor sich abzustellen und sich am Haltegriff eines Sitzes festzuhalten.

Vor ihr, auf vier Plätzen sitzen fünf pubertierende Jugendliche und schäkern miteinander. Ruth lächelt amüsiert. Es ist doch immer dasselbe mit den jungen Menschen.

Die Bremsgeräusche des Zugs holen Ruth wieder in die Wirklichkeit zurück. Immenstadt. Sie hat den Halt am Bahnhof Blaichach gar nicht bemerkt.

Hastig schnappt sie ihre Tasche und folgt den anderen Reisenden zur Türe. Es ist ein schreckliches Gedränge und Geschiebe. Beim ersten Mal versteht sie die Ansage aus dem Lautsprecher nicht richtig, doch schon sieht sie den Anschlusszug auf dem gegenüberliegenden Gleis stehen.

Sie steigt ein und sucht sich einen freien Platz. Schließlich wird sie in diesem Zug bis München Hauptbahnhof sitzen bleiben. Die meisten Fahrgäste bleiben in Immenstadt und verlassen deshalb hier den Bahnhof. Im Zug nach München geht es zum Glück ruhiger zu.

So lange der Zug im Bahnhof stehen bleibt, schaut Ruth interessiert hinaus. Ist das nicht der Kollege Schneider? Hoffentlich steigt er nicht in diesen Wagen ein. Sie hat absolut keine Lust sich mit ihm zu unterhalten. Nein, er geht am Zug entlang und steigt weiter vorne ein. Umso besser! Das hätte ihr gerade noch gefehlt! Sicherlich hätte er sie ausgefragt oder ihr ein Gespräch aufgedrängt. Und sie hat niemandem, außer Anne von ihrer Reise in die Vergangenheit erzählt. Und die hält dicht! Es geht schließlich niemanden etwas an. Ein bisschen Privatsphäre braucht der Mensch ab und zu.

Der Zug fährt an. Vorbei geht es an der Hauptschule, später am Krankenhaus Immenstadt. Dann kommt Stein.

*

Ruth schrieb Fernando jede Woche einen Brief. Das hatten sie sich beim Abschied versprochen.

Als sie den ersten Brief zur Post trug, war es für sie als würde sie einen Teil ihrer selbst mitschicken. Sie hatte versucht, Fernando so viel wie nur möglich zu erzählen und zu beschreiben was vorgefallen war. Aber sie wollte ihm natürlich in erster Linie ihre Gefühle übermitteln. Die Einsamkeit, die sie seit seiner Abreise empfand. Dies alles sollte, ja musste, Fernando erfahren. Schließlich liebten sie sich und Gefühle gehörten dazu. Ruth war sich sicher, Fernando verstand sie. Durch die Liebe, die sie verband, mussten sie sich einfach verstehen. Es ging gar nicht anders.

Fernandos erster Brief traf erst drei Wochen später bei ihr ein. Sie war enttäuscht, vollkommen beunruhigt und verunsichert. Würde er sich überhaupt noch bei ihr melden? Auf dem Stempel der Post konnte sie erkennen, dass Fernando ihr nicht sofort nach seiner Ankunft geschrieben hatte. Sie entschuldigte das damit, dass er so lange von zu Hause weg gewesen war und nun erst einmal Familie, Verwandte und Freunde besuchen musste. Außerdem hatte er ihr erklärt, dass er der Firma Siemens in Santiago einen Besuch abstatten würde um zu erfahren, wann er seine Stelle antreten sollte.

Der Inhalt des Briefes war für Ruth enttäuschend. Sie hatte sich das Ganze etwas feuriger vorgestellt. Aber auch hier schob sie den Umstand des kühlen Stils auf die Entfernung und die Tatsache, dass ihn nun sein Latinoleben in Chile eingeholt und beeinflusst hatte. Dort herrschten eben puritanische Gepflogenheiten und Umgangsformen. Das hatte sie stets herausgehört, wenn Fernando von seinem Leben dort erzählte. Auch andere Mittel- und Südamerikaner hatten ihr das Leben in ihrer Heimat beschrieben und sie konnte deutliche Unterschiede zu den Lebensgewohnheiten in Deutschland heraushören. Nicht umsonst hieß es: Andere Länder, andere Sitten.

Trotzdem schrieb Ruth ihm brav jede Woche. Sie wartete nicht auf Antwort, sondern hielt sich an die Abmachung. Es gab schließlich immer etwas zu erzählen, von dem sie ausging, es interessierte Fernando.

Einmal war sie mit Gabi unterwegs. Dann ließen ihre Eltern Grüße ausrichten. Auch die waren von ihrem „Schwiegersohn in spe“ inzwischen angetan. So ein netter und wohlerzogener junger Mann, hieß es dann immer. Er wurde Ruths Geschwistern gegenüber als lobendes Beispiel erwähnt. Ein andermal luden Atilio und Oscar sie ein, mit in La Peseta Loca zu gehen. Sie hatten einen neuen Gitarristen und Sänger gefunden, sodass die Gruppe ihre Auftritte nach wie vor abhalten konnte. Der neue Gitarrist hatte ein Auge auf Ruth geworfen. Sie hatte jedoch nur Fernando im Kopf.

In ihren Briefen an Fernando erzählte Ruth all diese Begebenheiten. Sie wollte ihn an ihrem Leben teilhaben lassen, wenn er schon nicht bei ihr sein konnte. Ruth war sich sicher, für Fernando war das so wichtig wie für sie selbst. Schließlich wollte sie auch alles von ihm wissen, doch er schrieb so wenig, so unpersönlich und so unregelmäßig.

Obwohl immer etwas los war, fühlte sich Ruth einsam. Es war, als fehlte ein Teil von ihr. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie dieses Gefühl der Einsamkeit wieder einmal verlassen würde. Und die ganze Tortur würde noch gut zwei Jahre andauern.

Eines war klar, die Klausuren an der Uni musste sie jedes Mal auf Anhieb bestehen, damit sie ihre Scheine bekam und ihr Studium nicht unnötig verlängerte.

Immer, wenn in der Wohnung oder auch bei ihren Eltern das Telefon läutete, hoffte Ruth, Fernando meldete sich. Sie hatten zwar nicht vereinbart, miteinander zu telefonieren, doch die Hoffnung wollte sie nicht aufgeben.

Obwohl Ruth Fernando regelmäßig schrieb, ging er nicht viel auf ihre Briefe und deren Inhalt ein. Was war geschehen? Ruth konnte sich das nicht erklären. Sie liebten sich, weshalb war er nur so abgekühlt? War da eine andere Frau? Sie konnte sich das nicht vorstellen. Das hätte er ihr das bestimmt gesagt. Sie hatten ein offenes Verhältnis und hatten immer alles besprochen. Trotzdem keimten Zweifel in Ruth auf.

Des Öfteren stellte Ruth Fernando die Frage, ob er sich schon einmal erkundigt hatte, wie es mit einer Einwanderung für sie aussah. Was sie an Dokumenten brauchte? Natürlich wollte sie wissen, wie es mit Arbeitsmöglichkeiten als Lehrerin stand.

Fernando vertröstete sie jedes Mal. Schließlich müsste sie noch zwei Jahre oder länger studieren. Bis dahin konnte sich die Lage der Einwanderungsgesetze immer wieder ändern. Es hatte also keinen Sinn, sich jetzt schon darum zu kümmern. Den gleichen Kommentar gab er jedes Mal, wenn es um Arbeitsmöglichkeiten ging.

Natürlich hatte er Recht, sagte sich Ruth dann und stellte im nächsten Brief diese Fragen nicht. Sie wollte Fernando nicht zu sehr bedrängen.

Zwei Monate lang erhielt sie einen Brief alle zehn bis vierzehn Tage und dann kam drei Wochen lang keine Nachricht mehr. Im darauf folgenden Brief entschuldigte er sich eingehend für die Verspätung. Er war sehr beschäftigt gewesen. Auch bei Siemens hatte er bereits seine Stelle angetreten. Dann der Umzug in die neue Wohnung. Alles in allem, Fernando hatte offensichtlich sehr viel zu tun.

Neue Wohnung? Bei Ruth machte es Kling! Er war umgezogen, doch die neue Adresse teilte er nicht mit. Er hatte es einfach vergessen. Das kam in den besten Familien vor. Da er vorher bei seinen Eltern gewohnt hatte, sah Ruth kein Problem und schickte ihrem Fernando die Briefe weiterhin an die Adresse seiner Eltern. So wie bisher. Die wussten sicherlich wo ihr Sohn jetzt wohnte. Natürlich bat sie um die neue Anschrift und Telefonnummer. Ruth schrieb ihm, dass sie sich über ein Foto freuen würde. Sie hätte gerne gesehen, wo er wohnte, damit sie eine Vorstellung von seiner Bleibe bekam. Doch nichts.

Fernandos nächsten beiden Briefe waren eigenartig. Ruth erzählte ihm nach wie vor was in München vorfiel, von ihren Sorgen und Ängsten und wollte wissen, weshalb er so eigenartig war. Ob sie etwas Falsches geschrieben hatte?

Doch in seinen Briefen entschuldigte Fernando sich, er musste sich kurz halten. Es fehlte ihm einfach die Zeit. Er sei sehr angespannt. In seinem Job müsste er jede Menge Überstunden machen und Freizeit gab es derzeit so gut wie gar keine. Er sei jetzt schon vollkommen ausgelaugt.

Ruth verzieh ihm alles. Solange er sich bei ihr meldete und ihr immer wieder bestätigte, dass er sie liebte, war es ja in Ordnung. Natürlich musste er viel arbeiten. Siemens hatte ihn nach Deutschland zu einem langen Praktikum geschickt, damit er anschließend eine leitende Position einnehmen konnte. Nun sollte er vor Ort Verantwortung übernehmen. Dazu gehörten Überstunden, viel Arbeit und Stress einfach. Das konnte sogar sie verstehen.

Aber sie, Ruth, hatte Zeit, also schrieb sie ihm weiter regelmäßig. Wenn er schon nicht jede Woche schreiben konnte, so wollte sie ihn wenigstens mit ihren Erzählungen und Liebesbezeugungen aufmuntern. Ab und zu legte sie eine schöne Karte oder ein Foto bei, von denen sie glaubte, sie könnten ihm gefallen.

Dann hörte sie vier Wochen nichts von ihrem Geliebten. Sie wusste nun, dass Fernando sehr viel zu tun hatte und war nicht sonderlich beunruhigt. Der Mensch gewöhnte sich irgendwann an alles. Auch, wenn er zuvor glaubte, die Situation nicht mehr überstehen zu können.

Dann, eines Tages, fischte sie endlich, als sie zur Vorlesung an die Uni ging, wieder einen Brief von ihres Lieben aus dem Briefkasten. Sie hatte noch ein wenig Zeit und betrat eine Cafeteria. Jetzt brauchte sie zuerst eine Tasse Kaffee. Den Brief wollte sie in Ruhe bei dieser Tasse Kaffee lesen. Das würde Fernando auch gefallen. Ruth wusste das. Vielleicht las er ihre Briefe auch immer bei einer Tasse Kaffee. Vorstellen konnte sie sich das durchaus.

Ruth fand einen freien Platz an der Theke. Während sie auf den Kaffee wartete, drehte sie bedächtig den Brief hin und her. Diesmal hatte sich Fernando besonders viel Zeit gelassen. Ihr fiel auf, dass er immer noch die Adresse seiner Eltern als Absender angegeben hatte. Sie maß dieser Tatsache jedoch keine Bedeutung bei. Ihr Liebster hatte einfach schon wieder vergessen, ihr die neue Adresse mitzuteilen. Und ihre Briefe erhielt er. Das war wichtig! Zwar ging er nicht viel auf Ruths Briefe und Fragen ein, doch immerhin so viel, dass sie feststellen konnte, er hatte sie gelesen. Der Mensch konnte so genügsam werden.

Der dampfende Kaffee wurde vor Ruth gestellt. Nun war endlich der Zeitpunkt gekommen an dem sie sich erlaubte, den Brief zu öffnen.

Erstaunlicherweise war er in Deutsch verfasst, nicht in Spanisch wie sonst. Ruth wunderte sich und begann zu lesen.

„Meine liebe Ruth,

leider muss ich dir heute mitteilen, dass ich vor drei Wochen geheiratet habe.“

Ruth las den Satz dreimal. Er verschwamm vor ihren Augen. Sie zwinkerte fest um die Tränen, die ihre Augen füllten, zu verscheuchen und wieder klar sehen zu können. Doch der Versuch war erfolglos. Sie versuchte nochmals auf das Geschriebene zu schauen um es zu entziffern, doch es gelang ihr nicht.

Hastig stopfte sie den Brief mit dem Umschlag in ihre Tasche und verließ mit Tränen in den Augen im Sturmschritt die Cafeteria. Die Bedienung, die ihr nachrief, hörte sie nicht mehr.

Plötzlich stand sie auf der Straße und schaute sich suchend um. Das Einzige, was Ruth nun wollte, war nach Hause zu eilen, sich einzuschließen und niemandem zu begegnen.

Als sie in der Wohnung ankam, war sie alleine. Gabi hielt sich natürlich, glücklicherweise an der Uni auf.

Ruth stürzte in ihr Zimmer, holte den Brief aus der Tasche und warf sich aufs Bett. Der Satz „leider muss ich dir heute mitteilen, dass ich vor drei Wochen geheiratet habe“ hämmerte in ihrem Kopf. Oh, nein. Was war geschehen? Warum hatte er geheiratet?

Sie zwang sich den Brief weiterzulesen.

„Als ich nach Deutschland kam, war ich verlobt. Während meiner Zeit in München hatte ich mich nicht mehr um die Beziehung gekümmert. Ich hatte dieser Frau nicht einmal mehr geschrieben und habe die Beziehung als beendet betrachtet. Schließlich hatte ich dich kennen und lieben gelernt.

Damit war für mich klar, dass meine Verlobung mit Consuelo beendet war. Consuelos und auch meine Familie waren jedoch anderer Meinung und zwangen mich zur Heirat.

Das heißt, eigentlich war alles schon eingefädelt, bevor ich überhaupt in Chile angekommen war. Zwar habe ich versucht mich dagegen zu wehren, aber du weißt, wie das mit der Familie so ist.“ Nein, schrie es in Ruth, ich weiß nicht, wie das mit der Familie so ist. Meine Eltern könnten mich nie dazu zwingen, jemanden zu heiraten, wenn ich nicht will. Nein, ich kann das wirklich nicht verstehen. Ruth las den Brief weiter.

„Bitte entschuldige, dass ich dir den Schmerz zufüge. Für mich ist es genauso ein Leidensweg, aber ich kann es nicht ändern.

Leider muss ich dich bitten, mir nicht mehr zu schreiben. Meine Eltern machen mir jedes Mal, das Leben zur Hölle, wenn ein Brief von dir eintrifft.

Ja, meine liebe Ruth, es tut mir wirklich sehr Leid, aber es wird ein Adiós für immer.

Grüße

Fernando“.

Noch dreimal las Ruth diesen Brief, dann blieb sie regungslos auf dem Bett liegen. Sie konnte nicht glauben, was ihr widerfahren war. Was sollte sie tun? Sollte sie sich mit den Gegebenheiten zufrieden geben und Fernando für gestorben erklären, oder musste ihm nochmals schreiben? Vielleicht sollte sie mit Atilio und Oscar Kontakt aufnehmen. Ob die Beiden wussten, dass Fernando verlobt war.

Ruth war fix und fertig. Im Augenblick konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Sie sah immer nur die geschriebenen Worte vor sich, ‚ich habe vor drei Wochen geheiratet’. Dazu hörte sie seine schöne sonore Tenorstimme. Was war dieser Mann doch für ein Schwächling, wenn er sich nicht gegen seine Familie und seine Verlobte wehrte? So gesehen, war sie froh, dass sie ihn los hatte. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn sie nach Chile ausgewandert wäre und Fernando nicht zu ihr gestanden hätte. Nein, es ist besser so. Nun wusste sie, woran sie war.

Sie versuchte sich ständig einzureden, dass es so besser war, doch der Schmerz war zu groß. Immer wieder brach sie in Tränen aus. Der Brief lag zerknittert neben ihr auf dem Bett.

*

„Sag mal, was ist denn mit dir los?“, hörte Ruth plötzlich eine Stimme neben sich. Langsam öffnete sie die geschwollenen Augen. Gabi stand da und schaute entsetzt auf sie herab.

Schniefend und schluchzend sagte Ruth: „Fernando hat vor drei Wochen seine Verlobte geheiratet.“

„Wie bitte?“, auch Gabi war von dieser Nachricht sichtlich erschüttert. Sie wurde blass.

„Ja, Gabi“, rief Ruth laut, fast schreiend. „Er hat vor drei Wochen seine langjährige Verlobte Consuelo geheiratet, weil seine und ihre Familie das so wollten.“

„Das glaube ich nicht“, Gabi schüttelte zweifelnd den Kopf, „das ist ein Scherz.“

Ruth nickte, setzte sich langsam auf und hielt Gabi den zerknitterten, feuchten Brief vor die Nase. „Da, lies selber“, forderte sie die Freundin auf. „Hier steht es schwarz auf weiß.“

Gabi ließ sich in den Sessel plumpsen und strich den Brief auf ihrem Oberschenkel glatt. Dann begann sie zu lesen.

„Der ist ja in Deutsch geschrieben“, stellte sie plötzlich erstaunt fest.

Ruth grinste böse. „Wahrscheinlich, damit ich den Inhalt auch wirklich verstehe und ihn dir zum Lesen geben kann. Damit du mir glaubst.“

Gabi antwortete nichts darauf und las kopfschüttelnd den Brief ein zweites Mal. „Der macht es sich ganz schön einfach“, sagte sie schließlich.

Ruth warf sich wieder aufs Bett und begann erneut zu heulen. „Dieser gemeine Hund!“, schrie sie und hieb mit der Faust wütend auf das Kopfkissen ein, auf dem Fernandos Kopf immer gelegen hatte.

„Mir lügt er das Blaue vom Himmel herunter und jetzt das!“, das Ende des Satzes war wegen eines Schluchzers kaum zu verstehen. „Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn!“

„Das bringt uns jetzt auch nicht weiter“, stellte Gabi nüchtern fest, stand mit einem Ruck auf und legte den Brief auf den Schreibtisch. „Heute ist ein Scheißtag. Ich habe meine Tage nicht bekommen. Wer weiß, was ich angerichtet habe. Ich sage dir, Ruth, heute lassen wir uns so richtig volllaufen. Ich hole jetzt erst mal Stoff.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Gabi das Zimmer. Kurze Zeit später hörte Ruth die Wohnungstüre ins Schloss fallen. Dann war es wieder still in der Wohnung.

Langsam stand Ruth auf und holte den Brief vom Schreibtisch. Sie würde ihn aufheben. So wie sie alle Brief von Fernando aufgehoben hatte. Sie hatte sich dafür extra eine schöne kleine Holzkiste gekauft. So richtig romantisch. Und dieser Schweinehund musste alles zerstören!

Aber, so beschloss sie, sie würde ihm schreiben und ihm sagen, was er für ein Versager und Schwächling war und wie froh sie war, ihn los zu sein. Was wollte sie mit diesem armseligen Jasager auch anfangen.

Ruth ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Meine Herrn, ich sehe vielleicht aus. Sie erschrak, als sie sich im Spiegel betrachtete. Die Augen rot und geschwollen, die Nase rot und auch die Lippen angeschwollen. Das ist dieser Volltrottel wirklich nicht wert. Mit lauten Worten versuchte sie sich im Spiegel Mut zuzusprechen. Als sie feststellte, wie lächerlich sie aussah, gab sie auf und wandte sich von dem schrecklichen Spiegelbild ab.

Schon kehrte Gabi mit ihren Einkäufen zurück. Sie hatte drei Flaschen Rotwein, Salzletten, Knabbermischung und Kartoffelchips mitgebracht. Heute würde es ein uferloses Gelage werden. Nur die beiden jungen Frauen Gabi und Ruth. Sie waren so richtig in Stimmung.

In Ruths Zimmer richteten sie alles her. Die Gläser, Behälter für die Knabbereien, Korkenzieher.

Jetzt erst wurde Ruth bewusst, was Gabi vorhin gesagt hatte. Sie war vielleicht schwanger. Oh, ein Problem, jedoch nicht so groß wie ihres. Schließlich wollten Gabi und ihr Stefan sofort nach dem Studium heiraten. So wie es aussah, würden sie sich nicht mehr trennen.

„Meinst du?“, fragte Ruth, „ich sollte mal mit Atilio und Oscar sprechen?“

Gabi schüttelte energisch den Kopf. „Die stecken doch alle unter einer Decke. Oder glaubst du, die haben nicht gewusst, dass Fernando in Chile eine Verlobte hatte. Die haben dich genauso verarscht wie Fernando. Nein, das kannst du vergessen. Prost.“

Zum x-ten Male stießen sie an und prosteten sich zu.

Plötzlich brach Ruth in Tränen aus und lallte mit undeutlicher Aussprache. „Aber ich liebe ihn doch. Ich kann ihn doch nicht einfach aufgeben.“

„Du musst!“, beharrte Gabi, die ebenfalls gut angeheitert war und legte den Arm um die Schultern ihrer Freundin. „Der Kerl ist verloren. Schließlich ist er ewig viele Kilometer von dir weg. An den kommst du nicht mehr ran.“

„Such dir einen von hier aus“, riet sie und zog Ruths Kopf an ihre Schulter, „dann weißt du, was du hast.“

Ruth machte sich frei und schaute Gabi aus ernsten Augen an. „Meinst du hier gibt es Männer, die es wert sind, dass man sie anschaut? Hast du schon mal einen gesehen?“

„Ja, meinen Stefan“, antwortete Gabi, ohne sich über Ruths Andeutungen zu ärgern. „Auch du wirst den Richtigen noch treffen. Da bin ich mir ganz sicher.“

Ruth setzte sich gerade auf und sagte: „Ich werde diesem Scheißkerl schreiben und ihm die Meinung sagen.“

„Gute Idee“, ermunterte Gabi sie.

Ruth stand auf, ging wackeligen Schrittes an den Schreibtisch und holte Papier und Stift. Gemeinsam setzten sie einen bitterbösen Brief an Fernando auf. Die Schrift war nicht mehr ganz deutlich. Beide Frauen hatten inzwischen einen hohen Alkoholpegel erreicht. Aber aufgesetzt war der Brief. Beide waren im Augenblick und in ihrem benebelten Kopf zufrieden mit dem Ergebnis. Ruth beschloss, den Brief morgen ins Reine zu schreiben und abzuschicken.

Der soll mich kennen lernen, dachte sie sich. Da kann ja jeder kommen und mich abservieren.

Weit nach Mitternacht war auch die zweite von drei Flaschen Wein zur Neige gegangen und die Mädchen beschlossen, sich den wohlverdienten Schlaf zu genehmigen.

Etwa eine Stunde später wurde Ruth wach. In ihren Kopf war ein fürchterliches Karussell eingezogen, in dem noch dazu jemand schrecklich fest hämmerte. Ruth erhob sich langsam und unsicher. Immer wieder musste sie sich an der Wand abstützen. Sie wollte ins Badezimmer gehen, doch das war besetzt. Durch die geschlossene Türe drangen laute Würgegeräusche.

Aha, stellte sie in ihrem umnebelten Kopf fest, Gabi ging es auch nicht besser.

Leider war die Badezimmertüre nicht zu öffnen. Gabi hatte sie fest verriegelt. Wo sollte sie hin? Ruth wusste es nicht so recht. Plötzlich fühlte sie, wie ihr kalt wurde. Sie zitterte am ganzen Körper, dazu gesellte sich kalter Schweißausbruch. Es blieb keine Zeit für lange Überlegungen. Sie raste mit vorgehaltener Hand zielsicher in die Küche und übergab sich über dem Spülbecken, in dem die Gläser vom Besäufnis standen.

Der Alkoholgeruch, der ihr entgegenschlug, machte die Sache nur noch schlimmer. Sie wusste nicht mehr, wie sie sich helfen sollte. Schließlich sank sie vor dem Spülbecken auf den Boden. Unter der Spüle stand der Putzeimer. Den zog sie heraus. Langsam und vorsichtig erhob sie sich. Mit dem Kopf knallte sie gegen den Griff eines Schränkchens. Scheiße! Der kräftige Stoß ernüchterte sie für einen Augenblick so weit, dass sie aufstehen und nochmals laut fluchen konnte.

Nun musste sie erst einmal die Sauerei aus dem Spülbecken entfernen. Diese Beschäftigung diente nicht gerade dazu, ihren Magen zu beruhigen. Immer wieder würgte es sie. Ruth fühlte sich schrecklich elend.

Als sie alles, ihren benebelten Augen gemäß, gesäubert hatte, trug sie die Bescherung zum Klo, das soeben frei geworden war. Gabi hatte sich nicht blicken lassen, sondern war postwendend in ihr Zimmer verschwunden. Als die Schweinerei beseitigt war, kehrte Ruth, den Eimer in der Hand schwenkend, in ihr Bett zurück. Dort stellte sie den Kübel so, dass sie ihn jederzeit griffbereit hatte. Wer wusste schon, was noch alles passieren würde?

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ruth wagte es nicht, die Augen zu schließen. Das Karussell drehte sich einfach zu schnell und zu stetig. Also beschloss sie, nur mit offenen Augen in ihrem Bett zu liegen und sich nicht zu bewegen. Vielleicht ließ dann auch das Hämmern nach.

*

Am nächsten Morgen liefen sich die zwei Freundinnen über den Weg. Der Aufenthalt im Bad war für jede eine Tortur und beide fragten sich, ob sich dieses Besäufnis wirklich gelohnt hatte. Jetzt, da sie mit den Nachwehen kämpften, ärgerten sie sich über die eigene Dummheit. Zum Frühstück gab es Schwarztee und Zwieback. Um ehrlich zu sein, jede der Frauen frühstückte zweimal, weil der Magen das erste postwendend an den Absender zurückschickte.

Gabi war jetzt noch unglücklicher, weil sie Angst hatte schwanger zu sein und Ruths Liebeskummer war präsent wie eh und je, oder sogar noch stärker.

Den Brief, den sie am Vorabend für Fernando aufgesetzt hatten, war jetzt nichts wert. Ruth beschloss, sich nicht mehr bei Fernando zu melden. Einen gewissen Stolz hatte sie schließlich!

Natürlich war sie sehr unglücklich, aber sollte sie ihr Leben aufgeben, nur weil sie von ihrer großen Liebe verlassen worden war. Sie würde sich mit aller Energie in ihr Studium hängen. So wie sie es für Chile vorgehabt hatte.

Der Schmerz in ihrem Herzen blieb jedoch. Die Gedanken an Fernando kehrten immer wieder zurück, aber damit musste sie fortan leben.

Geh in die Wueste

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