Читать книгу Rauhnachtsfrüchte - Christine Kralik - Страница 4

Wandlungen

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An einem geheimen Ort, er ist auf keiner Landkarte verzeichnet, steht ein gar seltsames Haus. Jedes Mal, wenn ich mich dort einfinde, hat es zu meiner Überraschung eine etwas andere Gestalt. Einmal, zum Beispiel, hätte ich wetten können, es sei ein prunkvolles Schlösschen, ein anderes Mal jedoch schien es mir schlichter und von erlesener Einfachheit. Doch wie immer es sich mir auch präsentierte, war die Meisterhand, die es schuf, deutlich zu erkennen.

Der Weg zu dem Haus blieb ebenfalls nie derselbe. Einmal genügte schon der Wunsch, um dorthin zu kommen, beim nächsten Mal brachte mich ein falscher Ratgeber vom Weg ab, und ich musste mich durch dornige Ranken schlagen, die immer wieder nachzuwachsen schienen. Doch diese Art der Erlebnisse, wie zahlreich und abenteuerlich sie auch immer waren, sollen nicht Gegenstand meiner Geschichte sein.

Das erste Mal führte mich der Zufall hierher – ich wollte hinunter ins Dorf und muss wohl die falsche Abbiegung genommen haben. Mein Erstaunen war groß als ich mich plötzlich vor einem fremden, herrschaftlichen Gebäude befand. Wie konnte ich es bisher nur übersehen haben, ist mir in dieser Gegend doch fast jeder Grashalm bekannt!

Das Gemäuer schien auf eine Art lebendig zu sein, denn es ging ein sanftes Vibrieren von ihm aus, wie ein freundliches Schnurren.

Es war, als würde mich eine liebliche Süße zu sich ziehen, und je näher ich kam, desto unwiderstehlicher war mein Verlangen, ins Innere vorzudringen und mich seinem Geheimnis in die Arme zu werfen.

In der Nähe des Tores bemerkte ich zwar eine Gestalt, aber in meiner Eile vergaß ich einfach, sie zu grüßen und strebte an ihr vorbei dem Eingang zu.

„Halt!“, eine mächtige Stimme packte mich wie eine Faust und ließ mich augenblicklich innehalten. Ich drehte mich um und sah mich einem erhabenen menschenähnlichen Wesen gegenüber, dessen Blick mich vollkommen einnahm. „Wer bist du?“, wollte es wissen.

Diese Frage war ernst und schwer und sank auf den Grund meiner Seele hinab, doch damals war ich noch nicht geübt, solche Tiefen wahrzunehmen.

Ungeduldig nannte ich meinen Namen, schließlich hatte ich keine Zeit zu verlieren. Als der Hüter des Tores keine Reaktion zeigte, fügte ich schnell noch mein Alter, meinen Beruf und meinen Familienstand hinzu. Das musste doch eigentlich genügen. Aber um das ungnädige Wesen etwas zu beeindrucken, erwähnte ich auch noch ein paar löbliche Zeitungsartikel, sowie etliche Auszeichnungen und Preise.

Als ich gerade dabei war, noch etwas weiter auszuholen, unterbrach es mich plötzlich mit einer großartigen Gebärde, ähnlich der des Erzengels, der vor ewigen Zeiten Adam und Eva des Paradieses verwies. Der Wächter deutete unmissverständlich auf den Pfad, den ich gerade gekommen war, und ich wusste sofort, dass ich nun umgehend den Heimweg anzutreten hatte.

Mein Versagen beschämte mich sehr, und ich hätte auch gerne gewusst, worin es denn eigentlich bestand.

Zu Hause versuchte ich, wieder mein gewohntes Leben aufzunehmen, aber seine Verlockungen wurden zunehmend schal und seine Verpflichtungen lästiger denn je.

Der Zauber und die Verheißung des wundersamen Ortes ließen mich nicht mehr los. Mir schien es, als bestünde nur dort die Möglichkeit, ins Paradies zurückzukehren, dessen schmerzlichen Verlust ich jetzt erst deutlich wahrnahm.

Ein großes Heimweh trieb mich immer und immer wieder hin zu dem Haus, doch das Tor blieb stets unerbittlich verschlossen – konnte ich doch die ewig gleiche Frage nie beantworten, so sehr ich mich auch bemühte.

Zermürbt von den ständigen Zurückweisungen beschloss ich nun, mich ein letztes Mal einzufinden, um dem Wächter meine Kapitulation kund zu tun. Ich wollte mich für immer von dem gefährlichen Bann dieser Anziehung befreien, hatte ich mich doch bereits mir selbst und meiner vertrauten Welt vollkommen entfremdet und schon befürchtet, meine Fähigkeit, unter Menschen zu wandeln, endgültig einzubüßen.

Schweren Herzens also ließ ich den Wächter wissen, nun am Ende meiner Weisheit angekommen zu sein und somit alle nur möglichen Antworten ausgeschöpft zu haben.

Ein winziges Lächeln in seinen Augen gab seinem Blick eine nie gesehene Wärme, und mir war, als streifte er kurz meine Wange, als er den Arm hob, um mir den Rückweg zu weisen.

Diese Berührung weckte all meine Lebensgeister erneut, und mit frischem Eifer beschloss ich, in meinen Bemühungen fortzufahren.

Ich hielt es für eine gute Idee, in heiligen Büchern zu forschen, hatte ich doch im Laufe meiner gescheiterten Versuche feststellen müssen, dass die Natur der Frage scheinbar über den irdischen Bereich hinaus wies.

Riesige Bücherstapel, wie Säulen der Weisheit, gaben meinem Küchentisch von jetzt an ein würdiges Aussehen.

In einer Sammlung ekstatischer Texte von erleuchteten Männern und Frauen glaubte ich endlich fündig geworden zu sein. Ihre Aussagen überzeugten mich restlos, weil sie ohne Ausnahme im Kern übereinstimmten, egal welcher Religion oder welchem Jahrhundert diese ehrenwerten Wesen entstammten.

Sie sagten, so glaubte ich jedenfalls zu verstehen, dass unser Schöpfer sich selbst als ein ewiges Flämmlein in unsere Seele gelegt hätte und für diejenigen Menschen, die genügend Interesse zeigten und gelernt hätten, geduldig und still zu warten, als eine besonders liebevolle und erfüllende Schwingung im Inneren zu spüren sei.

Diese Vibration der Gegenwart GOTTES in uns könne man in Worte gefasst als „Ich Bin“ bezeichnen. Sie sei der wahre Wesenskern des Menschen und sein ewiger und unzerstörbarer Wert.

Ein Punkt wurde auch noch besonders hervorgehoben: Dass nämlich ausnahmslos alles, was wir uns über uns selbst und andere Menschen einreden, wofür wir uns und andere rühmen oder verachten, nichts weiter als Hirngespinste seien, bedeutungslos und jederzeit zu vernachlässigen.

Unsere wichtigste Aufgabe auf Erden bestünde darin, so meine ich es jedenfalls herausgelesen zu haben, auch wenn ich dem zu der Zeit nicht zustimmen konnte, uns von all diesen Illusionen zu befreien.

Dieser schmale, steinige und mühsame Weg erschien mir wenig verlockend, hatte ich den Schlüssel zu meinem Glück doch bereits in der Tasche, so glaubte ich jedenfalls.

„Ich Bin!“ – wie genial einfach war dieses Zauberwort. Mochten sich meine Vorfahren noch geplagt haben, auch ich habe mich schließlich auf meine Art bemüht, so würden die Dinge in der heutigen Zeit wesentlich schneller vollendet, das war mir vollkommen klar.

Zuversichtlich und unverzüglich begab ich mich wieder vor Ort. Stolz präsentierte ich dem Wächter die von den Meistern geliehene Perle, noch ehe er überhaupt danach gefragt: „Ich Bin.“

Ich schloss die Augen in seliger Erwartung und harrte. Ein durchdringender Pfeifton bohrte sich in mein Gehirn, wie ein Alarm, doch ich fürchtete mich nicht, hatte ich bei meinen Recherchen doch irgendwo gelesen, dass dieses Geräusch bei Dimensionswechseln gerne auftritt, als Vorbote himmlischer Schalmaien sozusagen.

Im Geiste sah ich mich schon einen goldenen Teppich entlang schreiten, gesäumt von wohlwollenden Wesen, jedes ein kleines Willkommensgeschenk für mich in der Hand. Schon wollte ich ein Päckchen erhaschen, als mich ein grausamer Ruck wieder in die bittere Wirklichkeit zurück stieß.

Ohne den geringsten Hauch eines Bedauerns gab mir der Wächter zu verstehen, dass mein windiges Lippenbekenntnis keinesfalls genügte, und schickte mich umgehend wieder nach Hause.

Dort angekommen, schob ich alle Bücher zur Seite und blieb einfach auf meinem Stuhl sitzen, hoffnungslos, enttäuscht, erschlagen. Ich hatte mich ganz umsonst bemüht und alle Anstrengungen waren vergeblich gewesen. Es schien mir, als ob mein Leben gescheitert wäre und mir nichts Anderes mehr übrig blieb, als tatenlos auf mein Ende zu warten.

Die Nacht hatte meine Stube schon längst ins Dunkle getaucht, ohne dass ich es richtig bemerkte. Mit der Zeit glitt ich in einen schwebenden Zustand und auf einmal fand ich mich unerwarteter Weise wieder an dem Ort, den ich noch vor kurzem als gänzlich Besiegte hatte verlassen müssen.

Wie in einem Alptraum hörte ich den Wächter erneut die mir mittlerweile verhasste Frage stellen: „Wer bist du?“ Ich blieb einfach sitzen, war zu keiner Regung fähig und zu keiner Antwort bereit.

In dem wachsenden Raum dieser Stille spürte ich, wie die Frage immer deutlicher nachklang und groß und wie lebendig wurde. Sie bewegte sich durch mich hindurch, wie ein Ereignis, und etwas in mir öffnete sich nun und streckte sich freudig nach allen Richtungen aus, wie nach einem langen Schlaf.

Gleichzeitig begann ein nie gekanntes liebliches Fließen in mir und erwärmte mir das Herz mit seinem sonnigen Wesen. Ich ließ alles mit mir geschehen, obwohl diese Flut der Seligkeit für einen unerfahrenen Gastgeber wie mich schwer zu ertragen war. Es war gar nicht so leicht, so glücklich zu sein, und die eingerosteten Gelenke meiner Seele ächzten und murrten schon ob ihrer Überforderung.

Mein Verstand wollte dringend begreifen, was da vor sich ging und begann schnell zu laufen. Hilfesuchend hielt ich nach dem Wächter Ausschau, doch konnte ich ihn nicht mehr finden. Er war für immer verschwunden und mit ihm der ganze Ort.

Die Sonne aber ist bei mir geblieben. Gerade jetzt kann ich sie deutlich spüren.

Rauhnachtsfrüchte

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