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Wer bin ich?

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Ich glaubte, bisher zumindest, einen ehrlichen Freund zu haben. Ich habe ihm restlos vertraut, gab es doch nie einen Grund, an seiner Verlässlichkeit zu zweifeln. Heute Morgen noch, als ich ihn befragte, ob ich denn ansehnlich sei, zeigte er mir ein wohlgestaltetes, weibliches Wesen, in dessen feinen Zügen sich Jugend und Reife vollendet durchdringen.

Die zarte Hand, nicht zur Arbeit geschaffen, liegt gerade am Schwanenhals, um den Sitz einer kostbaren Perlenkette zu prüfen. Die Augen sind geheimnisvoll schräg gestellt und der Mund wie zum Küssen und Lachen gemacht.

Dankbar, mich mehrmals täglich davon überzeugen zu können, von Mutter Natur so großzügig bedacht worden zu sein, schlenderte ich bisher entspannt durch meine Tage, allzeit bereit, mit bleichen, traumschönen Jünglingen innige Blicke zu tauschen.

Seltsamerweise aber, sobald auf irgendeiner Geselligkeit ein Photoapparat auf mich gerichtet ist, beginnt meine sonst so solide Welt plötzlich zu schwanken. Eine verheerende Ahnung nimmt mir den Atem, befürchte ich doch, scheinbar ganz ohne Grund, eine unangenehme Wahrheit über mich selbst könnte mich schon bald ereilen.

Dieses Schreckensgespenst hat unklare Konturen, aber einen scharfen, schmerzhaften Kern.

Sobald der Besitzer eines Photoapparates sich entschlossen zeigt, mich nebst des jeweiligen Augenblicks in seinen Kasten zu bannen, halte ich in der Regel erst einmal die Luft an. Atemstillstand ist immer ein ganz gutes Verhütungsmittel. Zeitgleich pflege ich meistens, die Schultern reflexhaft bis an die Ohren hoch zu ziehen, vermutlich um so der Bedrohung entgegenzuwirken. Mein Blick tastet für gewöhnlich den Fussboden nach einem Mauseloch ab, während der ratlose Mund sich tapfer bemüht, ein Lächeln zu Stande zu bringen und Munterkeit vorzutäuschen.

Manche Menschen, vermutlich können sie mich nicht leiden und wollen mich extra lang quälen, warten unerträglich lange, bis sie endlich den Auslöser finden, und ich erstarre eine gefühlte Ewigkeit lang in meiner verzweifelten Position, den unwägbaren Kräften hilflos ausgeliefert.

Ist der Schuss zu guter Letzt glücklich abgefeuert, freue ich mich stets, noch am Leben zu sein und feiere erleichtert weiter, wesentlich entschlossener als vorher.

Die Feste des Jahres hab ich mittlerweile längst schon vergessen, waren sie doch nicht wirklich wesentlich.

Heute Mittag, ein paar Stunden vor dem Heiligen Abend, kommen noch die letzten Weihnachtsgrüße per Post. Nichtsahnend öffne ich zwei Briefe mit Segenswünschen, denen jeweils ein Photo beigelegt ist.

Das erste habe ich erschrocken sofort zerrissen, aber leider hat sich mir jedes Detail für immer grausam eingeprägt.

Ich sehe mich auf dem Bild mit glänzend hochrotem, leicht gedunsenem Gesicht wie ertappt schief an einer Wand gelehnt stehen, in einer Hand einen großen, reichlich beladenen Teller in Schräglage. Der Kopf ruht auf den Schultern, wie beim Frosch. Von einem Hals weit und breit keine Spur.

Die gräulichen Haare straff aus der Stirn gekämmt – du überzeugtest mich noch kürzlich davon, dass diese Schlichtheit mein durchgeistigtes Wesen raffiniert zur Geltung brächte – kleben traurig und bieder am Kopf, wie bei einer Nonne auf Heimaturlaub.

Der Mund – ich kann ihn nur noch erahnen, ist doch der Lippenstift längst schon verschmiert und somit jede Kontur dahin – hat sich in seiner Not in die falsche Richtung gekrümmt und man könnte leicht meinen, seine Besitzerin befände sich in höchster Lebensgefahr.

Ich frage mich bei der Betrachtung sämtlicher Fakten ernsthaft, ob die Menschen, die mir zur Weihnacht solch ein Photo zumuten, mit den besten Wünschen zum neuen Jahr obendrein, tatsächlich glauben, sie könnten mich damit erfreuen, oder ob der wahrscheinlichere Fall zutreffender wäre, dass die Herrschaften, wegen einer geheimen Animosität nämlich, die günstige Gelegenheit nutzen, um meinem von Natur aus schwachen Selbstwertgefühl den Todesstoß zu versetzen.

Wie dem auch sei – beherzt greife ich zum zweiten Bild, die Hoffnung hängt am seidenen Faden. Hier finde ich einige Damen aus der Nachbarschaft vor, nebeneinander aufgestellt. Die meisten, etwa im selben fortgeschrittenen Alter wie ich, haben sich die Haare kräftig gefärbt und blicken unter ihren adretten Frisuren freundlich lächelnd hervor.

In der Mitte entdecke ich eine mir völlig unbekannte Frau mit einem gräulichen Zopf. Ich rätsele, ob sie nicht aus einem fernen Land zu Besuch sei – es könnte durchaus Kirgisistan sein. Sie passt nicht recht in diese tüchtige Runde und schaut aus ganz anderen Augen in die Welt. Wie sie so dasteht, wirkt sie ein wenig verloren und heimatlos und rührt mich irgendwie an.

Einen Moment lang will ein fernes Erinnern an mir ziehen und schon kommt es mir so vor, als wäre die Frau auf dem Bild meine böhmische Großmutter. Eine Ähnlichkeit ist durchaus vorhanden. Doch wie kann es sein, sie hier vorzufinden, ist sie doch lange schon glückliche Bürgerin der friedlichen Anderswelt?

Ich glaube schon an einen kleinen Scherz seitens meiner sonst gar nicht so einfallsreichen Nachbarinnen. Mit dem Computer ist heutzutage fast alles möglich, ein technischer Klacks sozusagen.

Oder besser noch, fällt mir ein, was wäre, wenn sich meine Großmutter aus dem Jenseits Kraft eines übersinnlichen Vorgangs auf dieses Photo transportiert hätte, etwa um mir eine wichtige Botschaft zu übermitteln? Derartige Dinge sind unter Umständen in dringenden Fällen möglich. Davon bin ich schon lange überzeugt. Des Rätsels Lösung lässt mich nicht los.

Aufgeregt denke, wende und kreise ich herum, will unbedingt gewinnen, doch welch schiefe Türme ich in meiner Not auch baue, am Ende erschöpft sich der Unsinn und die Wahrheit holt mich gnadenlos ab. Jetzt ist die Botschaft angekommen.

In der folgenden Stille tut sich ein Abgrund auf, zwischen der gnädigen Version meiner selbst, die mir mein freundliches, schlecht beleuchtetes Spieglein jederzeit bietet, und der beschämenden Dokumentation meines Verfalls. Wird es mir jemals gelingen, diese Kluft zu überbrücken?

Ich ahne schon, dass ich in Zukunft gut beraten bin, freiwillig in die gänzliche Erfassung der Tiefendimension des Wahrspruchs, „Du bist nicht dein Körper“, hinein zu altern. Eine erschreckende, aber am Ende vielleicht lohnenswerte Herausforderung?

Ich hoffe, dann in meiner Liebe gewachsen zu sein. Und vielleicht werde ich dabei auch erkennen, wer ich wirklich bin?

Rauhnachtsfrüchte

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