Читать книгу Weiter leben! - Christine Leutkart - Страница 10

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Es war im März 2000, da sagten die Ärzte, sie würden die Geräte abschalten. Kerstins Organe waren alle ausgefallen und sie war an eine Maschine angeschlossen.

Ich war zu dieser Zeit bei meiner großen Tochter in den Staaten, sie hatte gerade ein Baby bekommen. An dem Abend, bevor ich flog, wollte Kerstin, dass ich bleibe. „Ja, warum?“ „Mir geht’s nicht gut.“

Eine Woche vor meiner Abreise hatte Kerstin so starke Zahnschmerzen, dass sie weinte und mich in der Nacht aufweckte. Sie war immer hart im Nehmen, und das zeigte mir, dass es richtig schlimm sein musste. Sie ging am nächsten Morgen zum Zahnarzt, und der stellte fest, dass sie einen abgestorbenen Zahn hatte. Den konnte man jetzt erst bemerken, weil er damit begonnen hatte, die anderen Zähne anzugreifen. Darum die Schmerzen. Der Arzt bohrte den Zahn auf, aber da kam nicht mehr viel raus. Wir dachten damals, damit sei die Sache erledigt. Aber vermutlich war der ganze Dreck schon im Blut.

„Klar bleibe ich da. Ich storniere den Flug“, beruhigte ich sie. Das wollte sie dann aber doch nicht. Deshalb flog ich am nächsten Tag wie geplant. Vielleicht hätte ich bleiben sollen. Aber hätte es etwas genützt? Die Entzündung war schon weit fortgeschritten.

An dem Abend vor ihrem Tod hat sie im Garten gearbeitet, danach bekam sie im Schulterbereich starke Schmerzen. Ihre Eltern kamen zu ihr auf die Alb, wo wir wohnten. In dieser Nacht nahmen die Schmerzen immer mehr zu. Kerstin stand auf, und ihre Mutter kochte einen Tee. Es war schon fast am Morgen, da ging es Kerstin dermaßen schlecht, dass ihre Mutter sagte: „Komm, wir beten.“ Dann hörte Kerstin irgendwann zu atmen auf. In den Armen ihrer Mutter wurde sie bewusstlos. So schnell kann kein Rettungsdienst kommen, wie sie medizinische Hilfe gebraucht hätte. Der Notarzt versuchte sie wiederzubeleben, aber vermutlich war sie schon hirntot, bis er kam. Sie lag im Koma, und die Ärzte veranlassten, dass sie mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik geflogen wurde.

In Amerika erreichte mich dann der Anruf. Meine älteste Tochter nahm ihn zuerst entgegen und weckte mich: „Du musst aufstehen. Es ist etwas Schlimmes passiert.“ Am Telefon sagte der Arzt: „Sie müssen damit rechnen, dass Ihre Frau stirbt.“ Er sagte auch noch: „Sie trifft keine Schuld“, aber es war natürlich trotzdem hart. Ich beeilte mich, wieder nach Hause nach Deutschland zu kommen. Was für ein Höllenflug! Ich hatte zwei Tage nicht geschlafen, bis ich endlich in der Klinik war. Kerstin hing an allen möglichen Instrumenten. Ein Pfleger sagte zu mir: „Sie können ihre Hand halten und mit ihr reden, vielleicht hört sie Sie ja.“ Das habe ich dann auch gemacht. Aber es kam keine Reaktion, null. Dann fuhr ich nach Hause. Alle waren natürlich aufgebracht. Die Schwiegermutter hat rotiert … Am nächsten Tag fuhr ich mit meiner Schwägerin nochmals zur Klinik. Da hieß es gleich: „Abschalten.“ Das war’s dann.

Saskia war knapp drei Jahre, als ihre Mutter verstarb. Aber angefangen hat es eigentlich schon nach der Geburt, dass Kerstin sich schlecht fühlte; wegen jeder Kleinigkeit rastete sie aus. Ich wusste nicht, warum. Ob da auch schon was war?

Die Ärzte baten mich, einer Obduktion zuzustimmen. Meine Schwägerin und ich diskutierten, kamen aber zu dem Schluss: „Wir lassen sie in Ruhe.“ Wir wollten das nicht.

Hinterher habe ich recherchiert: Wenn du was mit den Zähnen hast und das wird nicht behoben, dann kann die Entzündung weitergehen und das Herz als erstes Organ befallen – und das kann zum Tod führen. Ihr ging es ja schon seit Monaten schlecht, aber dass das mit dem abgestorbenen Zahn zusammenhängen könnte, darauf ist keiner gekommen. Der Arzt, den sie vor einem halben Jahr schon aufgesucht hatte, verschrieb ihr immer bloß Antibiotika: „Der Herd muss weg!“ Der Zahn wurde aufgebohrt und ein Medikament reingestopft, aber der ganze Eiter war schon im Blutkreislauf. Der letzte Zahnarzt hätte sie warnen sollen: „Pass auf, du hast schon seit einem halben Jahr einen abgestorbenen Zahn in deinem Mund, du musst zur Beobachtung ins Krankenhaus.“

Ich suchte den Sarg aus und ein schönes Kleid. Und war fix und fertig.

Kerstin war meine dritte und meine liebste Frau. Sie war 20 und ich 39, als wir uns kennenlernten, zusammengelebt haben wir aber nur die letzten vier Jahre. Trotzdem sahen wir uns die Zeit davor jeden Tag. Insgesamt waren wir 18 Jahre zusammen.

Ich würde sagen, wir haben uns immer an unserer Verbindung erfreut. Das war Liebe, auch bei ihr. Kerstin war die Ex-Freundin eines befreundeten Musikers gewesen. Sie hat mir immer meine Freiheiten gelassen, wenn ich bei meinen Kumpels war, wir gekifft und Musik gemacht haben. Ich war sehr lange richtig in sie verliebt, hatte Träume gehabt, bin über Dörfer geflogen … Doch ihre Eltern meinten, ich sei zu alt für sie.

Nach ihrem Tod hat mir eigentlich keiner geholfen. Zwei, drei Leute kamen mal vorbei und haben kurz mit mir geredet, aber dass jemand gefragt hätte, ob er für mich etwas tun könnte, das kam nicht vor. Aber wie hätte mir jemand helfen sollen? Das kann in der Situation doch sowieso keiner. Die Verpflichtung mit dem Kind war für mich selbstverständlich, da habe ich nicht drüber nachgedacht. Ich habe meine Frau vermisst.

Am Wochenende bin ich immer von der Alb runtergefahren, habe Saskia geschnappt und sie zu meinen Schwiegereltern gebracht, weil ich dachte, sie ist das Kind ihrer Tochter und sie freuen sich an ihr. Alleine auf der Alb sein, das war unerträglich. Ich musste alles selber machen: früh aufstehen, Saskia in die Kita bringen, arbeiten gehen, Saskia hinterher wieder abholen, einkaufen gehen, daheim etwas kochen … Ich habe einfach gemacht, was angesagt war. Waschen, putzen, kochen, nach dem Kind schauen, weiterleben. Das war das Wichtigste. Aber es war einfach niemand da. Ich hatte Bekannte, aber hier auf der Alb keine richtigen Freunde. Am Wochenende habe ich dann alte Freunde besucht, in der Kneipe rumgehangen, gekifft und gesoffen. Meistens stand ich drüber, aber manchmal habe ich geheult. Dann haben mich die alten Freunde getröstet. Mein Körper hat sich gemeldet, ich war öfter krank. Antibiotika nützten nichts, ich bekam Fieber und bin trotzdem im gleichen Jahr, als Kerstin starb, mit der Kleinen nach Italien gefahren, so wie wir es eigentlich zu dritt vorhatten. Das war so traurig!

Es kam vor, dass Saskia abends in ihrem Bettchen lag und ich ihr was zum Einschlafen vorsang. Irgendwann fragte sie: „Wo ist die Mama?“ Ich antwortete: „Die Mama kann nicht mehr kommen. Sie ist gestorben.“ „Ja, warum?“ Sie wusste nicht, was das bedeutet. Da hatte ich einen Kloß im Hals.

Gespräche mit den Erzieherinnen über Saskias Situation gab es keine. Sie wussten alle Bescheid, aber keine hat mich angesprochen: Über alles hat man geredet, aber darüber nicht.

Später hatte ich verschiedene Freundinnen. Steffi mochte ich besonders gern, sie war Lehrerin und hat Saskia auch in der Schule geholfen. Sie hat aufgedeckt, warum Saskia morgens immer zu spät in den Unterricht kam. Die Lehrer dachten ja alle, ich würde es nicht auf die Reihe kriegen und jeden Tag mein Kind zu spät bringen. Aber es war so, dass Saskia, nachdem wir uns an der Eingangstür verabschiedet hatten, erst mal aufs Klo ging und dort mindestens eine Viertelstunde blieb. Natürlich war sie dann zu spät dran!

Beim Spazierengehen traf ich mal einen Bekannten, der sagte: „Am besten ist es, dass du so schnell wie möglich wieder eine Frau findest!“ Aber wer sollte das sein? Es gab keine, die zu mir und Saskia gepasst hätte. Die Steffi hätte schon gepasst, aber sie hatte ein behindertes Kind und musste sich auch um dieses kümmern. Das war ungefähr sechs Jahre nach Kerstins Tod und mit Steffi und mir ging es vielleicht drei Jahre. Steffis behindertes Kind war immer die Heilige und Saskia immer die Böse. Irgendwann hat es gereicht, da habe ich meine Kleine geschnappt und wir sind wieder gegangen.

Die Sicht auf Leben und Tod bekomme ich nicht, weil ich um jemanden trauere. Über meinen eigenen Tod oder über den des Kindes habe ich deshalb nicht mehr oder anders nachgedacht. Ich wollte weiterleben. Wenn jemand gestorben ist, dann kann man nichts mehr machen, dann ist er eben weg. Die Kirche hat mir keinen Trost gespendet, das war alles Blabla. Musik hat mir geholfen oder Leute, die mal Saskia genommen oder was mit uns zusammen gemacht haben. Über die Musik sind Freundschaften entstanden. Das Singen an sich macht Freude, da bin ich bei der Sache, das Selbstmitleid ist weg. Das hilft. Erik Claptons „Tears in Heaven“ gibt es auch auf Deutsch „Jenseits der Zeit“: „Wenn ich heute sterbe und werde in einer Milliarde Jahren wieder aufgeweckt, dann wache ich wieder auf – die Zeit zählt nicht.“ Mein Bewusstsein ist, dass es keine Zeit gibt, vielmehr existiert sie nur, solange man lebt. Bis zu einer Wiedergeburt können Milliarden von Jahren vergehen, aber du siehst es als ein „im Nu“.

Das Lied löste Trauer aus, und es zu spielen, tat mir gut. Es erlaubte mir, traurig zu sein.

Zu Kerstins Geburtstag zünde ich manchmal Kerzen an und spiele für sie Gitarre. Dann sage ich: „Das ist für dich!“ Komisch, lange Zeit habe ich ihren Geburtstag verpasst, irgendwann habe ich wieder damit angefangen und nun steht ihr Termin in meinem Kalender.

Wenn ich mit Saskia, Freunden und deren Kindern zusammen war, war das immer schön für mich und sie. Heute ist meine Tochter 22 Jahre und wir haben eine enge Verbindung.

Aber so eine Partnerin wie Kerstin habe ich bisher nie wiedergefunden.

Für mein Leben wünsche ich mir, dass ich weiterhin Musik machen und Saskia unterstützen kann. Ich hätte gern eine neue Beziehung, die Hoffnung gebe ich nicht auf. Vielleicht brauche ich eine Frau, die ernsthaft gute Musik macht. Ob das hilft?

Weiter leben!

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