Читать книгу Weiter leben! - Christine Leutkart - Страница 8

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Wenn man einen runden Geburtstag hat, zieht man gern ein Resümee. Ich war 14 Jahre, als ich meinen Mann kennenlernte, wir lebten am gleichen Ort. Wir haben drei tolle erwachsene Kinder, ein Haus; wir haben immer viel gearbeitet und schließlich auch etwas erreicht. Urlaub, wegfahren, wir hatten unser Hobby, das Motorradfahren … alles bestens. An diesem 50. Geburtstag hatte ich ein richtiges Glücksgefühl. Ich hatte viele Leute eingeladen, Freunde, Bekannte, Verwandte. Ich habe meinem Mann und den Kindern gesagt, dass ich alles im Leben erreicht hatte, was man sich nur wünschen kann, und wie glücklich ich sei. Alle freuten sich mit mir, und besonders Gerd, mein Mann.

Und zwei Wochen später war alles anders. Die ganze Welt brach zusammen.

Wir sind viele Jahre nach Südtirol gefahren und waren wieder dort, Gerd und Franz waren mit den Motorrädern einen Tag früher losgefahren. Gerd war ein sicherer Fahrer, er hat Touren geleitet – nie hätte ich gedacht, dass da mal irgendetwas passieren könnte. Das Motorradfahren war unsere Leidenschaft. Auf der Heimfahrt fuhr Gerd wieder mit Franz voraus, während wir anderen erst zu Mittag abreisen wollten. Um circa 14 Uhr kam ich mit meiner Freundin vom Markt zurück, um endlich zu packen, da sah ich im Hotelfoyer zwei, drei Männer in roten Westen und ein paar Polizeibeamte stehen. Ich kam nicht auf die Idee, sie könnten etwas mit mir zu tun haben und wollte an ihnen vorbeilaufen. Da sah ich eine Frau aus unserer Clique, die zu einem Mann sagte, der, wie es sich dann herausstellte, Seelsorger war: „Das ist die Frau S.“ Der Mann kam auf mich zu und sprach mich an: „Frau S., Ihr Mann hatte mit dem Motorrad einen Unfall.“ „Was hat er denn?“, fragte ich besorgt. An das Schlimmste habe ich da noch nicht gedacht. Gemeinsam gingen wir in mein Zimmer und ich setzte mich auf das Bett. Der Seelsorger nahm meine Hände und sah mich an: „Ihr Mann ist tödlich verunglückt“, erklärte er mir. „Er lebt nicht mehr.“ Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was dann war, aber vermutlich habe ich geschrien und bin fast kollabiert, sodass ich Beruhigungstropfen verabreicht bekam. „Ich will zu meinen Kindern!“, weinte ich, „jetzt, sofort!“ Unser Freund Franz war mit in den Unfall verwickelt, er hatte alles mitansehen müssen und war auch verletzt. Gerd fuhr vor ihm, beim Aufprall auf ein Auto wurde mein Mann zurückgeschleudert und fiel auf Franz, sodass dieser stürzte, aber dabei nur leichte Verletzungen erlitt.

Es hieß dann, ich sollte gewisse Schritte erledigen, bei denen ich begleitet werden würde. Als Erstes musste ich zu einem Bestatter, um einen Sarg für meinen Mann auszusuchen. Ein befreundetes Paar aus unserer Clique war auch mit dabei, zu ihm sagte ich: „Ich kann das nicht, bitte sucht ihr den Sarg aus.“ Ich habe ihn dann aber doch selbst ausgewählt. Eine Seelsorgerin begleitete mich überallhin, selbst wenn ich zur Toilette ging. Der nächste Schritt war, ins Krankenhaus zu gehen, um Gerd zu identifizieren. Die Polizei war dabei; ich habe am ganzen Körper gezittert. Mein Gefühl kann ich gar nicht beschreiben. Gerd lag aufgebahrt, bedeckt mit einem weißen Tuch, das zurückgeschlagen wurde. Ich bin zu ihm hingegangen und habe ihn angefasst, er war ganz kalt. Er sah aus, als ob er schlafen würde. Man hat ihm den Unfall gar nicht angesehen, nur an der Lippe und am Auge waren kleine Schrammen. Vermutlich hatte er beim Überholen den Gegenverkehr übersehen, das war kurz vor den Serpentinen. Als Motorradfahrer denkt man ziemlich mutig: „Das reicht noch!“ Er ist frontal auf das Auto geprallt und hatte ein Schädel-Hirn-Trauma. Er wurde 20 Minuten reanimiert, ohne Erfolg. Dem Autofahrer war glücklicherweise nichts passiert. Wir haben dann noch bei ihm an der Bahre gebetet.

Draußen wartete der Bestatter auf uns. Er sagte: „Ich brauche noch Unterwäsche und Kleidung für Ihren Mann.“ Wir öffneten auf der Straße das Gepäck; es waren ja nur gebrauchte Sachen dabei, und ich hätte lieber eine frische Hose und ein frisches Hemd für ihn gehabt … So bin ich nun mal gestrickt. Das war schon kurios. Die Polizei hat mir auf der Wache ausgehändigt, was Gerd noch am Körper hatte. Es musste ihn jemand bestohlen haben, denn er hatte extra siebzig Euro eingesteckt, aber im Geldbeutel waren nur noch Münzen drin. Die beiden Männer waren ja eben erst losgefahren und hatten noch keine Gelegenheit gehabt, Geld auszugeben. Wie kann jemand nur so etwas fertigbringen? Die letzten Worte, die Franz noch mit ihm ausgetauscht hatte, waren an einer Ampel, als sie nebeneinanderstanden: „Und, alles gut?“ „Ja, doch, alles in Ordnung!“ Auf der Rückfahrt konnten wir Franz vom Krankenhaus abholen, ihm ging es soweit gut.

Irgendwann fielen mir meine Kinder wieder ein. Sie hatten inzwischen ein paarmal versucht, mich auf dem Handy anzurufen. Nachts um eins sind wir heimgekommen, ohne Gerd. „Was tue ich den Kindern nur an?“, dachte ich. Die beiden älteren kamen von ihren jeweiligen Wohnorten angereist, eine Stunde später waren wir alle zusammen. Die Freunde verabschiedeten sich, wir waren allein. Alle drei Kinder und ich haben uns im Elternschlafzimmer ins Bett gelegt. Wir hielten uns an den Händen und schliefen dann irgendwann ein.

Noch Wochen und Monate danach, wenn ich morgens aufwachte, dann war die Welt für eine Sekunde in Ordnung – und dann überrollt es dich wie ein Laster.

Es kamen viele Leute vorbei, Freunde, Verwandte, alle wollten uns sehen und in den Arm nehmen. Die ersten drei Tage war das Haus ständig voll, was eigentlich gut war, aber dann wiederum fast zu viel. Ich wusste zuvor gar nicht, wie anstrengend das Weinen ist, manchmal musste ich mich danach hinlegen. Beim Schlafen muss man an nichts mehr denken. Aber dann nach dem Aufwachen geht dasselbe von vorne los.

Gerd wurde überführt. Zwei Tage vor der Beerdigung wollten meine Kinder und ich von ihm Abschied nehmen. Das war sehr emotional. Meine Jüngste hat ein kleines Bärchen mitgenommen, das sie ihm mal zum Vatertag geschenkt hatte; die andere Tochter hatte ein Familienbild von uns dabei, und so standen wir vor dem Sarg. Gerd hatte immer Jeans und ein kariertes Hemd an, das trug er auch im Sarg. Florian streichelte ihm über die Brust und stellte dann fest: „Der Papa hat gar kein Tempo im Hemd!“ Dann zog er ein Taschentuch raus und steckte es seinem Papa in die Hemdtasche. Das war das, was Gerd noch gefehlt hat, denn er hatte immer eins dabei. Wir legten unsere Hände auf seinen Körper, alle aufeinander; ich hatte dann plötzlich das starke Gefühl: Der Körper war warm. Die Kinder haben noch Jahre später davon gesprochen, wie wichtig es für sie war, auf diese Art Abschied von ihrem Vater zu nehmen.

Geholfen hat mir in dieser Zeit, dass die Kinder da waren. Von meiner Tochter bekam ich ein Buch mit dem Titel: „Die Hütte. Ein Wochenende mit Gott.“ Das war der Anfang einer wirklichen Hilfe, denn man macht sich ja auch Gedanken darüber, wie es dem Verstorbenen nun geht. Wo ist er? Eine Bekannte hatte Kontakt zu einem Medium, das ich dann auch besucht habe. Die Frau sagte mir, dass Gerd während des Unfalls ganz leicht in die andere Welt hinübergleiten durfte. Ohne Schmerz. Er sei von einem Mann abgeholt worden, anhand der Beschreibung kann ich mir vorstellen, dass das mein Vater war. Gerd und er hatten immer ein gutes Verhältnis. Sie sagte auch, dass Gerd ein guter Mensch war, und für solche Leute ist es leicht, hinüberzuwechseln. Die Vorstellung war für mich beruhigend. Ich war aber auch in psychologischer Betreuung, um das Ganze zu verarbeiten. Mein Chef rief mich nach fünf Wochen an, um zu fragen, ob ich wieder zur Arbeit kommen möchte. Ich habe dann probiert, ein paar Stunden zu arbeiten, aber nach zwei Wochen bin ich zusammengeklappt. Ich konnte nachts nicht schlafen, es ging mir zu viel durch den Kopf: Versicherungen, wir hatten nebenher ein Geschäft, es gab so viel zu regeln … Ich hatte zwar Unterstützung, aber ich wollte ja auch selbst den Überblick behalten. Da ich sehr verantwortungsbewusst bin, war ich ständig unter Druck: „O Gott, ich kann doch nicht bei der Arbeit fehlen!“ Da sagte mein Psychologe in einer Sitzung: „Die Firma bricht nicht zusammen, wenn Sie nicht da sind. Und wer Ihre Arbeit macht, dafür ist der Personalchef zuständig.“ Der Satz half mir, loszulassen und mein Schicksal in den Vordergrund zu stellen.

Mein Mann und ich, wir waren wie zwei Säulen, von denen plötzlich eine weggebrochen ist. Ich kam mir vor wie ein Niemand. In der ersten Zeit nach seinem Tod habe ich überall nur Paare gesehen, die sich anlächelten und Hand in Hand liefen. Das hat sehr geschmerzt.

Viele aus dem Freundeskreis haben mich besucht und gingen auch mit mir aus. Aber nach acht Wochen blieb ein Paar komplett weg, obwohl die beiden damals in Südtirol mit dabei gewesen waren. Das beschäftigte mich wahnsinnig, denn ich verstand es nicht und fragte mich: „Was habe ich denen bloß getan?“ Eines Tages ließ ich spontan den Staubsauger fallen und stieg ins Auto, fuhr zu ihnen hin und klingelte an der Haustür. Die Frau zitterte, als sie öffnete und mich erkannte. Der Mann kam auch hinzu. „Warum meldet ihr euch nicht mehr?“, fragte ich die beiden. „Weißt du, wenn du immer so weinst, ertrage ich das einfach nicht; das erinnert mich an den Tod meines Vaters“, sagte sie. „Wieso hast du mir das denn nie gesagt?“, fragte ich. „Darüber kann man doch reden!“ Während sie etwas zum Trinken holte, schob er es auf seine Frau: „Ich habe immer zu ihr gesagt, dass wir dich mal anrufen sollten.“ Leider war ich nicht so geistesgegenwärtig, um zu antworten: „Aber den Hörer konntest du nicht selbst in die Hand nehmen?!“ Wir sind noch zweimal zusammen ausgegangen, aber ich wollte dann nicht mehr.

Meine allerbeste Freundin versicherte mir: „Du kannst immer zu mir kommen!“ Das ist ja lieb gemeint, aber sie hat Kinder, zwei Enkel, ist verheiratet – alles perfekt. Wenn es mir schlecht ging, dann schaffte ich es nicht, in ihre heile Welt zu gehen. Ich heulte, und bei ihr war alles so idyllisch! Einmal habe ich es probiert, aber mich dabei nicht wohl gefühlt. Mir wäre es lieber gewesen, sie wäre auf mich zugekommen. Aber sie hat mich nie angerufen. Das war eine Enttäuschung! Dafür standen manchmal Leute vor der Tür, mit denen ich nie gerechnet hätte. Eine ehemalige Schulkameradin zum Beispiel, die ich bestimmt fünfzehn, zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatte. Sie war einfach ihrem Bedürfnis gefolgt, mich aufzusuchen. Das fand ich richtig schön. Mein Fazit aus dieser Zeit ist: Du als Betroffener musst Verständnis für dein Umfeld aufbringen! Eigentlich erwartet und wünscht man es sich ja umgekehrt. Ich habe gelernt, dass man keine Erwartungen an jemanden haben darf, denn sonst wird man zu sehr enttäuscht. Zieht es die anderen zu sehr runter, wenn sie sich um jemanden kümmern, der gerade so etwas Schweres durchmacht?

Man kann aber auch nicht den ganzen Bekanntenkreis aufgeben, denn sonst steht man komplett allein da. Irgendwann habe ich beschlossen, denen, die mir nicht beigestanden sind, zu verzeihen – weil sie nicht anders konnten. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich diesen Entschluss fassen konnte. Damit wurde es besser, denn es hat mich nicht mehr so belastet. Und zu zwei anderen Paaren in der Clique habe ich immerhin noch einen wirklich guten Kontakt.

Das Thema „Clique“ hat mich lange beschäftigt. Eine Bekannte sagte: „Du wirst sehen, die wollen dich nicht mehr. Die Frauen haben Angst, du machst dich an ihre Männer ran.“ Obwohl das unglaublich bescheuert war und mir nie danach gewesen ist, empfinden manche Frauen wohl wirklich Eifersucht. Die Ex-Freundin von Franz hat mich auch gemieden. An Geburtstagen und anderen Festen traf ich alle wieder. Manchmal musste ich einfach anfangen zu weinen, und mitlachen konnte ich auch oft nicht. Wenn eine Frau über ihren Mann herzog, dann dachte ich: „Sei doch froh, dass du ihn hast!“ Es kam vor, dass ich wieder schnell nach Hause ging, weil ich es nicht mehr aushielt. Es gab aber niemanden, der mir gefolgt wäre und nachgefragt hätte, was los ist. Heute habe ich weniger Freunde als früher, aber dafür sind es wirkliche Freunde. Durch Franz habe ich auch einige dazu gewonnen. Franz war, wie schon gesagt, einer aus der Clique, der sich sehr um mich gekümmert hat. Vielleicht war es für ihn auch eine Möglichkeit, die Sache zu verarbeiten, er war ja beim Unfall dabei gewesen; wir haben viel darüber und über Gerd, die Vergangenheit mit ihm geredet – und wir haben auch zusammen geweint. Vielleicht hat uns das einander nähergebracht.

Es hat Jahre gebraucht, bis ich den Eindruck hatte, ich bin wieder im Hier und Jetzt. Bis dahin hatte ich das Gefühl: Die Welt dreht sich weiter, aber meine bleibt stehen. Ich kam einfach nicht zurecht. Früher habe ich aktiv am Vereinsleben teilgenommen. Auf der Fasnacht trat ich auf, ging auf die Bühne – ob Singen, Sprechen, Tanzen, das hat mir immer viel Spaß gemacht. Aber damit war es vorbei. Bis heute. Ich weiß noch, wie es war, als ich ein halbes Jahr nach Gerds Tod aus der Reha zurückkam. Als ich die Frauen auf der Bühne sah, mit denen ich sonst immer aufgetreten war, dachte ich: „Was treiben die denn da bloß? Sie machen sich doch so lächerlich!“ Ich kann damit nichts mehr anfangen. Gewisse Dinge tun mir nicht gut. Da bleibe ich lieber daheim.

Wenige Monate nach dem Unfall beschloss ich, neue Vorhänge anzuschaffen. Als die dann hingen, dachte ich: „Sieht das schön aus!“ Mir wurde bewusst, wie gut mir die Veränderung tat. Da kam endlich wieder Freude in mir auf. Nach einem Jahr veränderte ich das Schlafzimmer, nach und nach gestaltete ich vieles um. So habe ich gemerkt, dass das Haus immer mehr zu „meinem“ wurde. Mein Mann war eher konservativ in dieser Beziehung: „Ach ne, das braucht man doch nicht.“ Vielleicht konnte ich mich darin früher nicht so richtig verwirklichen. Das ist ein positiver Aspekt, der mir auffällt. Außerdem war ich das Alleinsein nicht gewohnt. Ich war vierzehn, als ich Gerd kennenlernte, und mit achtzehn wurde ich schwanger. Ich war immer für die Familie da, für den Haushalt, das Geschäft. Ich habe meinem Mann den Rücken freigehalten. Für die Vereine, seine und meine, ich habe genäht, dann kam das Motorradfahren … Ich habe gelernt, mich mit allem zu beschäftigen. Aber nie so richtig mit mir. Das musste ich nun gezwungenermaßen. Damit kam ich zu Beginn gar nicht klar. Wie ein Tiger im Käfig lief ich durchs Haus. Was sollte ich mit mir anfangen? Ich musste erst einmal mich kennenlernen!

Im Januar kam ich zur Trauerbewältigung in eine psychosomatische Reha – das war meine allererste Reise allein. In meinem ganzen Leben war ich noch nie allein verreist! Als ich nach sechs Wochen zurückkam, sagten alle, dass ich anders aussehe. Mein sturer Blick war weg. Durch den Abstand war ich wieder entspannter. Dort habe ich das Malen angefangen, das hat mir geholfen. Ich kann in den Bildern meine Gefühle ausdrücken, und es entspannt mich. Wenn dann noch etwas Schönes dabei herauskommt, ist es auch für das Selbstwertgefühl gut. Mittlerweile habe ich im ganzen Haus Bilder von mir hängen.

Ich werde nie den Tag vergessen, als mir bewusst wurde, dass ich das erste Mal meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen kann: ein super Gefühl! Ich habe zwar auch vorher gearbeitet, aber das war immer nur ein Zubrot.

Mit einer guten Freundin fuhr ich mal auf Wellnessurlaub. Bei einer Massage sprach ich mit dem Therapeuten, und der sagte: „Sind Sie mit Ihrem Mann da?“ „Nein, leider nicht …“ Und ich erzählte ihm ein wenig von meiner Situation. Nach der Massage meinte er, ich solle die Augen zumachen und noch liegenbleiben. Da hatte ich das Gefühl, er lässt Sandkörner über mein Gesicht rieseln – das war ganz seltsam. Später sagte er mir, er habe mir Reiki gegeben. Nach dem Wellnesswochenende hatte ich eine solche Energie – ich frage mich heute noch, wie ich das mit der Küchenrenovierung geschafft habe! Das ganze Handwerkliche habe ich gemacht: Ausmalen, Tapezieren, Fliesen verlegen … Auch im Keller, wo die Werkstatt war. Manchmal denke ich: „Wenn Gerd das nur sehen könnte!“

Natürlich unterstützt Franz mich bei allem. Nach ungefähr zweieinhalb Jahren kamen Franz und ich als Paar zusammen. Ich habe ihn vorher schon lange gekannt. Als es zwischen uns „anders“ wurde, habe ich zuerst ziemlich mit mir gekämpft: „Darfst du das überhaupt? Oder ist es zu früh? Was sagen die Schwiegereltern? Die Kinder?“ Wenn wir irgendwo hingingen, traute ich mich nicht seine Hand halten. Ich konnte die Beziehung nicht richtig zulassen. Auf der einen Seite wollte ich es, aber immer tauchte die Frage auf: „Darf ich das?“ Diese umgekehrte Rolle – wenn ich nun meiner Tochter sage, dass ich einen Freund habe –, die war schon seltsam. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind. Als ich dann meinen Kindern von der neuen Partnerschaft erzählte, haben sie ganz toll reagiert, während hingegen der erste Satz meiner Mutter lautete: „Hach, oje. Und der Gerd?“ Vielleicht wollte sie aber eher sagen: „Oje, was sagen denn die Leute?“ Sie lebt auf dem Land und ist noch vom „alten Schlag“.

Ich bin zu allen hingegangen, auch zu Gerds Schwestern und meinen Schwiegereltern, und habe es ihnen persönlich gesagt. Gerds Schwester hat mich in den Arm genommen und sich gefreut – das war so schön für mich! Von niemandem kam eine negative Reaktion. Es ist ja so: Sitzt man zu Hause und es geht einem schlecht, dann sagen die Leute: „Arme Frau. Warum geht sie nicht raus? Wenn sie doch nur wieder einen Partner hätte!“ Macht sie dann genau das, dann sagen die Leute: „Wie, die geht schon wieder aus? Sie hat schon wieder einen Partner? Ja, geht’s noch!“ Aber muss ich den Leuten etwas recht machen? Wo waren sie denn alle, als es mir schlecht ging? Ich habe inzwischen gelernt, mein Wohlbefinden nicht von anderen abhängig zu machen.

Ich würde nie wieder mit dem Motorrad fahren. Wenn ich heutzutage einen Biker sehe, dann wünsche ich ihm innerlich eine gute Fahrt. Mittlerweile überwiegt in der Erinnerung die schöne Zeit. Wir waren eine tolle Clique und hatten viel Spaß zusammen, wir haben wunderbare Kurzurlaube verbracht. Leider hat der letzte tragisch geendet. Gerd hat das Motorradfahren geliebt, er hat immer viel gearbeitet und beim Fahren konnte er entspannen. Südtirol war seine zweite Heimat. So war es ihm wenigstens vergönnt, bei der Ausübung seines liebsten Hobbys zu gehen, während andere krank im Bett liegen und vor sich hinsiechen. Das kann ich mittlerweile sogar positiv sehen.

Ich bin überzeugt, dass es dort, wo wir nach dem Sterben hinkommen, schön ist. Ich bin mir auch sicher, dass es Gerd gutgeht, wo er nun ist, und dass das uns allen bevorsteht. Die Angst vor dem Tod habe ich verloren. Vor dem Unfall habe ich keinen richtigen Glauben gehabt, ich dachte eher, dass es nach dem Tod nichts mehr gibt. Das hat sich vollkommen geändert. Ob es stimmt, was ich mir denke, oder nicht – das ist eigentlich nicht so wichtig, solange es mir guttut. Ich glaube, die Lebenszeit von jedem ist vorherbestimmt, und Gerds Zeit war vorbei.

Ich wünsche mir sehr, dass sich der Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft ändert. Schon im Kindergarten sollten die Kinder spielerisch lernen, dass er zu unserem Leben dazu gehört; dann würden vielleicht manche Probleme im Umgang mit ihm gar nicht erst aufkommen. Denn schließlich trifft es früher oder später jeden. Wenn man sich vorstellt, dass es hinterher etwas Schönes gibt, dann ist es auch leichter, den Tod zu akzeptieren – für den, der geht, und für die, die zurückbleiben.

Wenn man in die Situation kommt, den Partner verloren zu haben, sollte man sich auf sich konzentrieren und fragen, was einem guttut, egal, was es ist. Innere Verbote wie: „Das kann ich nicht, das darf ich nicht“ sollte man weglassen. Ich hatte nach Gerds Tod zwei, drei Monate lang eine psychologische Betreuung, die hilfreich war. Mit den Menschen, die im weiteren Bekanntenkreis schon einmal einen Schicksalsschlag erleben mussten, konnte ich besonders offen reden, und das war sehr gut. Das Reden ist wichtig, man sollte nicht alles in sich reinfressen. Und man sollte sich die Zeit nehmen, die man eben zum Trauern braucht, egal, wie lange sie dauert. Ich hatte Glück, dass ich einen guten Rückhalt meines Arbeitgebers hatte. Immerhin war ich acht Monate weg und habe trotzdem meine alte Stelle wiederbekommen.

Mit den Kindern kann ich heutzutage völlig zwanglos über Gerd und die Vergangenheit reden. Aber es gab früher Situationen, in denen wir uns gegenseitig auffangen mussten. Mein Sohn hatte zuerst das Problem, dass er meinte, er müsse in die Rolle des fehlenden Vaters und Mannes schlüpfen. Er fing sogar damit an, mir Vorschriften zu machen, und auch im Verein dachte er, er müsse Gerds Ansichten vertreten. Ich versuchte ihn zu entlasten: „Du musst es so machen, wie es dir entspricht!“

Jetzt ist es knapp sieben Jahre her, und wir können inzwischen sogar oft lachen, wenn wir an manche typischen Verhaltensweisen von Gerd denken oder an lustige Situationen mit ihm.

Wenn man die Lage annehmen kann, dann geht alles besser, sobald das Hadern aufhört. Ja, Gerd ist nicht mehr bei uns – aber die Erinnerungen, die in uns sind, nimmt uns keiner. Jetzt hat eben ein neuer Lebensabschnitt angefangen. Ein Glücksfall, wenn man das so erkennen kann, auch wenn es mal Rückschläge gibt. Das Leben ist schön, das erkennt man an Kleinigkeiten, die man vorher vielleicht nicht gesehen hat. Auch die Dankbarkeit nimmt zu. Aber ohne eine positive Grundeinstellung funktioniert das nicht. Wenn man immer die „trauernde Witwe“ bleibt, wird es nicht besser. Und man zieht andere mit runter. Auf die Fragen „Warum, wieso, weshalb?“ gibt es sowieso keine Antwort. Also nehme ich die Dinge so an, wie sie sind; das ist die einzige Art, damit fertigzuwerden. Wenn man früheren Zeiten hinterherweint, fügt man sich selbst Schaden zu. Man kommt nicht vorwärts. Aber Vorwärtskommen ist doch wichtig!

Mit Franz erlebe ich heutzutage Sachen, von denen ich noch nicht einmal geträumt habe. Wir waren zum Beispiel in den Staaten; wer weiß, ob ich mit Gerd jemals dort hingekommen wäre. Das Leben ist wieder richtig schön. Ich kann zulassen, dass es mir gutgeht. Vor sieben Jahren hätte ich mir das niemals vorstellen können, so tief war das Tal – aber jetzt sehe ich wieder die Sonne.

Weiter leben!

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