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Joe Cocker war ein echtes Phänomen. Er hatte schon immer älter ausgesehen, als er in Wahrheit war, er konnte nicht tanzen, komponierte selbst keine Hits und war auch nicht sonderlich eloquent. Dennoch galt er gemeinhin als Superstar, was schon alleine daran deutlich wird, dass in meiner über dreißigjährigen journalistischen Arbeit Joe Cocker – neben Bob Dylan und Leonard Cohen – derjenige Künstler war, den ich am meisten fotografiert, live gesehen oder gar im Gespräch erlebt habe.

Zum Beispiel in Berlin am 12. Februar 1997, Gendarmenmarkt, genauer gesagt, Mohrenstraße 30, mittags, gegen 12 Uhr. High Noon. Joe Cocker betritt mit seinem Manager Roger Davies die kleine Bühne in einem der Konferenzräume des Berliner Hilton-Hotels. Joe nimmt am Tisch Platz. Rechts neben ihm Davies und links der Marketing-Chef von Beck’s Bier. Der Anlass dieser Pressekonferenz wird in der Pressemappe erläutert: „Der Markenauftritt von Beck’s in der Werbung besetzt seit vielen Jahren die Felder Männlichkeit, Freiheit und Abenteuer. Die wahrscheinlich männlichste Stimme im Rockgeschäft löst genau diese Emotionen in hohem Maße aus“, ist darin zu lesen. Aber nicht nur die Bekanntgabe dieser Werbe-Kooperation sowie der Tourneedaten der damals im Spätsommer 1997 startenden Deutschlandtournee sind Anlass für diese Pressekonferenz. Joe Cocker würde am selben Tag auch noch im Rahmen einer Fernsehgala die „Goldene Kamera“ erhalten.

Gründe genug also, um Texte und Fotos für diverse Printmedien zu produzieren. Pressearbeit in der analogen Welt sah noch ein wenig anders aus als in der heutigen digitalen Welt.

Es ist zwar nun schon 18 Jahre her, aber ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Mittwochmorgen, an dem ich etwa um drei Uhr in der Früh mit dem Wagen die 754-Kilometer-Reise von Saarbrücken nach Berlin antrat. Mit im Gepäck zwei Kameras, natürlich analog, sowie ein Aufnahmegerät, welches das gesagte Wort noch auf einer Tonbandkassette aufnahm.

Dieser 12. Februar 1997 in Berlin war zwar bei weitem nicht das erste Mal, dass ich im Verlauf meiner publizistischen Tätigkeiten mit Joe Cocker zusammentraf. Aber es war mit das schönste Erlebnis mit ihm, weil es in einem jener Hotels stattfand, über die Leonard Cohen einmal Worte verlor, die ich seither nie wieder vergessen habe, wenn ich solche Hotels betrat. Er meinte: „Ich liebe Hotels, in denen ich ohne Aufsehen morgens um vier einen Zwerg, einen Bären und vier Frauen aufs Zimmer mitnehmen kann, ohne dass der Concierge dem Ganzen auch nur einen Hauch von Aufmerksamkeit zukommen lässt.“

Und ein solches Hotel war eben das Hilton Berlin, zumindest damals.

All dies und vieles mehr rekapitulierte ich, als ich 2013 damit begann, Material für mein Buch über Joe Cocker zusammenzusuchen. Cocker erlebte ich „on stage“, „front of stage“, backstage, bei Pressekonferenzen und in Gesprächen. Das letzte Mal 2013 in Montreux, davor 2012 in Köln und in Mannheim, 2010 in Saarbrücken, 2004 in Rotterdam und Antwerpen, 2000 in Pirmasens, 1999 in Saarbrücken, 1997, wie gesagt, in Berlin, 1996 im saarländischen Sulzbach und in Baden-Baden, 1995 in Schwalmstadt, 1994 in Luxemburg, 1992 in Homburg an der Saar und in Antwerpen, 1989 in St. Wendel, 1985 bei Rock am Ring, 1983 auf der Loreley und in Karlsruhe mit Supertramp und 1980 in Berlin.

Zu einer weiteren Begegnung kam es am 14. November 1999 ebenfalls in Saarbrücken, als Joe Cocker die „Goldene Europa“ für sein Lebenswerk erhielt. Bei der Auszeichnung im Rahmen einer Fernsehgala der ARD waren 3.000 Besucher in der Saarlandhalle, und Cocker war trotz seines wahrscheinlich zigtausendsten Auftritts vor Publikum nervös. Gegen 17 Uhr gab es eine Generalprobe. In der Zwischenzeit durften akkreditierte Journalisten fotografieren oder auch Interviews machen. Cocker saß in seiner Garderobe, trank Wasser und wirkte keineswegs wie ein „Lebenswerk“. Er wirkte auch nicht wie ein Künstler, der für ein Lebenswerk ausgezeichnet wird. Er wirkte so, wie ich ihn oft erlebt habe: zurückhaltend, dezent, leicht unsicher und ohne Entourage geradezu verletzlich, aber immer freundlich. Würde man ihn nicht kennen, wäre er einfach nur ein untersetzter kleiner Mann. Er war jovial, bot Getränk und Sitzgelegenheit an und beantwortete routiniert meine wenigen Fragen, die in dem kurzen Interview möglich waren.

Ich stellte dann bei meinen Recherchen schnell fest, dass es trotz des weltweit über Jahrzehnte anhaltenden Erfolges von Joe Cocker keine zuverlässigen Quellen über sein Leben und Werk gab. Es existierte keine komplette Diskografie, und selbst die eigene Website von Joe Cocker (www.cocker.com) offerierte nicht das komplette Lebenswerk. Bücher über Joe Cocker lagen aktuell gar keine vor. Die letzten, und es gab wahrlich nur zwei, wurden Anfang der 90er-Jahre veröffentlicht, eines davon wurde zwar zu Beginn der 2000er-Jahre aktualisiert, aber nur in englischer Sprache veröffentlicht.

Also kramte ich weiter und weiter in meinen Schätzen und fand überraschenderweise enorm viele Memorabilia zu Joe Cocker von den 80er-Jahren bis heute: Foto- und Backstage-Pässe, Konzertplakate, Aufnahmen von Interviews und Pressekonferenzen wie etwa die von Berlin 1997, Presseinfos von Plattenfirmen und Konzertveranstaltern sowie unzählige Negativ-Streifen von Konzertfotos und dann auch Digital-Fotos, da ich in den 2000ern angefangen hatte, digital zu fotografieren.

Der Ansporn, dieses Buch zu schreiben, bestand dann letztlich auch darin, etwas zu recherchieren, was es an Informationen über Cocker bis dato so noch nicht gab. Der Entdeckergeist hatte mich gepackt.

Joe Cocker war, wie gesagt, kein begnadeter Komponist und Texter. Er war lediglich mit der Gabe gesegnet, Geschichten erzählen zu können und diesen Geschichten eine unvergleichliche Stimme verleihen zu können. Es waren nicht immer seine Geschichten, die er erzählte, aber er tat es mit seiner geradezu magischen Stimme, was ihn wiederum auf seine Art einzigartig machte und mich seit seinem Album „Luxury You Can Afford“, meinem ersten Cocker-Album, fasziniert hat. Was mich ebenso an ihm fesselt, ist die Tatsache, dass er wie kein anderer selbst zur Geschichte im großen Buch der populären Musik geworden ist.

45 Jahre nach seinem legendären Auftritt 1969 in Woodstock bezeichnete sich Joe Cocker – 70 Jahre alt geworden – als „Dinosaurier der Rockgeschichte“. Getreu der „Live Fast, Die Young“-Philosophie hatte „The Voice“ Joe Cocker nichts ausgelassen, was ihn, seine Karriere, seine Musik, seine Stimme und sein gesamtes Leben hätte gefährden können. Vor allem waren es bekanntermaßen Alkohol und harte Drogen, die ihm körperlich zusetzten. Nicht aber seiner Stimme, die blieb, die gefiel und nach der wurde wieder und immer wieder gefragt. Und so rappelte sich Joe Cocker, trotz unentwegter Rückschläge Mal um Mal auf und wusste mit gewohnter Professionalität klassische Soul-Songs, große Power-Balladen und energiegeladene Up-Tempo-Hits erfolgreich zu präsentieren. Meine Favoriten sind übrigens bis heute Randy Newmans „You Can Leave Your Hat On“, das in Cockers Version 1986 als Teil des Soundtracks zu dem Soft-SM-Film „9 ½ Wochen“ schließlich weltberühmt wurde, „Night Calls“ und „Hard Knocks“.

Cockers Kunst war die Songveredelung dank seiner an Reife und Klasse noch immer hinzugewinnenden Stimme. Ich liebe es, wenn sich seine Stimme dem expressiven Höhepunkt eines Songs näherte, etwa in „Shelter Me“, oder sich sein Rückgrat bei „Unchain My Heart“ manchmal weit zurückbog bzw. er mit den Armen bei „You Are So Beautiful“ langsam nach hinten ruderte, als suchten sie dort im Ungefähren für den ganzen Körper Halt. Das waren keine theatralischen Gesten. Die röhrende, mitunter sich markerschütternd aufbäumende Stimme bemächtigte sich dann dieses Körpers, und Joe Cocker wirkte für einen Augenblick so ergriffen und zugleich so hilflos, als packte ihn noch einmal das Verhängnis höchstselbst am Kragen.

Beschreibungen dieser Art spiegeln eigentlich das gesamte Leben Joe Cockers wider. Er war kein Intellektueller, der sich der Macht der Worte bediente, um sich zu wehren. Cocker schrie. Auf der Bühne. Im Gespräch hingegen war er ruhig. In den frühen 80ern war er noch ruhiger gewesen als später. Zwischenzeitlich wirkte er geläutert, routiniert im Umgang mit den Worten, die er sich auf immer wiederkehrende Fragen von Journalisten, gut vorbereitet, zurechtlegte. Cocker war auch kein Frauenheld. Cockers Laster trugen keine Frauennamen, sondern hießen LSD, Marihuana, Heroin und Alkohol. Und er war es leid, darauf angesprochen zu werden, nachdem er vor Jahren schon all diesen abgeschworen hatte. Seine Aussprache war seither um ein Vielfaches deutlicher gewesen.

Man merkte Joe Cocker, wenn man ehrlich ist, seine kleinbürgerliche Herkunft aus der nordenglischen Stahlmetropole Sheffield bis zuletzt noch ein wenig an. Aber Joe Cocker war ein Überlebender seiner eigenen Geschichte geworden – und er war sich dessen bewusst. Wenn irgendetwas zählt, dann ist es das Überleben, auch wenn man schwach ist, in einer der härtesten Branchen unserer Zeit. Joe Cocker war, seitdem er mit 16 die Schule verlassen hatte, genau das gelungen: zu überleben! Den weltweiten Erfolg überlebt zu haben, das war Joe Cockers Geschichte.

Am 22. Dezember 2014 ist Joe Cocker an den Folgen eines kleinzelligen Lungenkrebses auf seiner Farm in Crawford/Colorado, USA im Familienkreise gestorben. Damit verlor die Welt einen Ausnahmekünstler, den sie genauso wie seine von ihm veredelten Lieder nie vergessen wird.

Joe Cocker wurde einmal gefragt, wo seine Seele nach seinem Tod ruhen solle. Er sagte „überall“ und erinnerte an eine Geschichte, die ihm einmal ein Mann aus Australien erzählt hatte: „Eine Seele ruht überall, weil sie ja aus allem besteht, was in einem Leben geschehen ist.“ Außerdem hatte er gesagt: „Joe, Du hattest kein gutes oder schlechtes Leben. Du hattest ein Leben!“

Prof. Dr. Christof Graf

Zweibrücken, im Januar 2015

Joe Cocker - Die Biografie

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