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I. Akt Kindheit, Jugend und erste literarische Gehversuche
ОглавлениеDer Tag vor dem Sabbat ist für Juden von besonderer Bedeutung. Kinder, die an einem Freitag geboren werden, erfahren eine besondere Aufmerksamkeit. Der Geburtstag von Leonard Cohen, der am 21. September 1934 im kanadischen Montreal das Licht der Welt erblickte, fiel auf einen Freitag. Cohen selbst war zwar nie eine solche Frömmigkeit eigen, wie es vielleicht im Sinne seines »wohlbehüteten jüdischen Elternhauses mit Traditionspflege« gewesen wäre; dennoch hat nicht allein das Gedankengut seiner Väter sein Denken und Wirken wesentlich geprägt, sondern auch die Bedeutung seines Familiennamens, der mit »Priester« zu übersetzen ist. In der Geschichte der Juden spielt der Name Cohen eine wichtige Rolle, weil er einen der Stämme Israels bezeichnet und zwar den Priesterstamm.
»Mir ist oft bewusst geworden, wie sehr sich meine Familie um ihre Traditionen kümmerte. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie aufgrund ihres Namens etwas zu repräsentieren hatte. Meine Familie nahm die Bedeutung des Namens ›Cohen‹ sehr ernst und lebte in dem Bewusstsein, einer Kaste von Priestern anzugehören. Von meiner Familie weiß ich, dass sie für die Bestimmung lebte, Verantwortung für die Gemeinschaft zu tragen. Sie gründete Synagogen, Krankenhäuser und Zeitungen. Mit diesem Gedankenerbe wuchs ich auf.«
Die Wurzeln des kanadischen Stammbaums der Familie Leonard Cohens lassen sich bis ins Jahr 1869 zurückverfolgen. Damals wanderten die Vorfahren von Leonards Vater, Nathan Bernhard Cohen (geboren 1887), aus einem Teil Polens, der heute zu Russland gehört, nach Nordamerika aus. Die Familie von Leonards Mutter, Masha Klinitsky-Klein (geboren 1907), emigrierte in den 20er-Jahren aus Litauen.
Aus Leonard Cohens Erinnerungen ergibt sich ein recht konservatives Bild seiner Familie. »Als ich noch nicht bekannt war, mokierte sich meine Familie darüber, dass ich Schriftsteller werden wollte. Aber da mein Vater starb, als ich neun Jahre alt war, gab es niemanden, der mir in meinem Bestreben ernsthaft widersprechen konnte. Heute, glaube ich, wären mein Vater und ich uns sehr nahe. Früher hätte er Schwierigkeiten damit gehabt, mich mit der Gitarre in irgendwelchen Clubs zu sehen.«
Leonards Vater war tatsächlich stark in der Tradition verwurzelt. Leonards Urgroßvater Lazarus war Lehrer an der Rabbiner-Schule in der einstigen europäischen Heimat, und dessen Bruder Hirsch hatte es gar zum Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde in Kanada gebracht. Zwar hatten beide – ebenso wie später Leonards Großvater Lyon, der von Beruf Kaufmann war – auch schriftstellerische Ambitionen, doch dominierte bei den Cohens stets die Pflege der Tradition. Im Kern hieß das: Der Erhalt des gesellschaftlichen und geschäftlichen Status quo stand im Vordergrund. »L. Cohen und Sohn« wurde auf diese Weise bald zu einem Markenzeichen, das für die Entwicklung von der Textilkaufmanns- zur Textilgroßhändler-Familie stand, die bei allen hohes Ansehen genoss.
Mit Achtung spricht Leonard Cohen auch heute noch von seinem Vater, der bemüht war, dem Sohn seine eigenen Wertvorstellungen zu vermitteln und ihm eine Ausbildung im edwardianischen Stil angedeihen zu lassen. Allerdings stammt das meiste, was Leonard über seinen Vater weiß, aus Erzählungen seiner vier Jahre älteren Schwester Esther und seiner Mutter, die den Vater, der in Leonards Kindheitsjahren häufig krank war, zu Hause gepflegt hatte: »Mein Vater war oft im Krankenhaus. Sein Tod kam nicht überraschend. Er war schwach und starb. Vielleicht habe ich ein kaltes Herz, wenn ich sage, dass ich geweint habe, als mein Hund starb, beim Tod meines Vaters jedoch irgendwie das Gefühl hatte, das müsste so sein.
Die große Leidenschaft meines Vaters war das Filmen. In seiner Freizeit hielt er mit seiner Kamera das Familienleben fest und schnitt die Filme selbst zusammen, um sie regelmäßig vorzuführen. Nachdem er gestorben war, fand ich die Filme in einem Kellerschrank meines Elternhauses. So erfuhr ich vieles, was man sonst eigentlich vergisst und aufgrund von Erzählungen nicht so bildhaft wahrnimmt«, erinnerte sich Leonard Cohen später in der von D. Brittain und Don Owen 1964 gedrehten und 1965 vom National Film Board of Canada veröffentlichten Dokumentation Ladies and Gentlemen … Mr. Leonard Cohen.
Cohens charismatische Erscheinung, auf der Bühne wie auch privat, scheint auf eine Veranlagung in der Familie zurückzugehen. Seinen Vater, der Mitglied der Royal Canadian Legion war und im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, beschreibt er als einen äußerst korrekten, stolzen und pflichtbewussten Mann. »Ich habe nicht viele Erinnerungen an meinen Vater. Aber ich entsinne mich noch sehr gut seines Stils – seiner Art, sich zu kleiden, wenn er mit meiner Mutter zu gesellschaftlichen Anlässen ging oder offiziellen Einladungen folgte. Dann trug er Monokel, militärische Ehrenabzeichen und Gamaschen und achtete darauf, dass alles elegant saß.« Zugleich beschreibt Cohen seinen Vater als einen warmherzigen Mann. Und immer wieder betont der Musiker die Souveränität und Belesenheit seines Vaters: »Als er noch gesund war, las er meiner Schwester und mir am Abend oft aus Büchern vor. Mein Vater war immer gut angezogen. Und daher war ich es gewohnt, auch gut angezogen zu sein. Ich bin mit Anzügen groß geworden. Den Jeans habe ich auch einmal eine Chance gegeben, aber ich habe mich darin nie wohl gefühlt. Irgendwann habe ich akzeptiert, dass ich mich im Anzug am behaglichsten fühle.« Viel mehr will das Erinnerungsvermögen Leonard Cohens nicht her- oder er selbst nicht preisgeben. Spricht man ihn auf vergangene Tage an, verweist er gern auf seine »Amnesie« – vielleicht die beste Strategie, den immer wiederkehrenden Fragen der Journalisten zu begegnen.
»Ich bin wirklich sehr glücklich darüber, dass es einiges in meinem Leben gibt, an das ich mich heute nicht mehr erinnern kann. Zum Beispiel erinnere ich mich noch sehr gut an die Arbeit an den Alben, die ich in den 80er-Jahren veröffentlicht habe. Aber von gewissen Dingen in meinem Leben davor weiß ich nichts mehr. Meine Erinnerung ist weg.«
In einem Interview mit Christian Fevret aus dem Jahr 1991 äußerte Leonard Cohen sich über den Verlust seiner Erinnerungen, er spüre »weder ihr Gewicht noch ihren Reichtum. Ich erinnere mich zwar noch daran, wie damals die Sonne auf- und unterging, aber in der Vergangenheit lebe ich einfach nicht mehr«, beschrieb er später sein Verhältnis zur Vergangenheit. »Heute denke ich kaum noch an meine Kindheit und glaube nicht, dass sie zur Erklärung meines Lebens herangezogen werden kann.« Damit erstickte der mittlerweile über 75-jährige Cohen sämtliche Versuche, den Sozialisationsprozess eines heranwachsenden Kindes zur späteren Persönlichkeitsanalyse heranzuziehen.
Seine Lebensauffassung lautet: »Man muss wiedergeboren werden, um zu überleben. Bei dieser Auffassung geht es mir um die Überwindung jeglicher Sozialisationsfaktoren, die ebenso in vorteilhaften wie in nachteiligen Situationen Wirkung zeigen können.« Fevret gegenüber beschrieb er dies in den 90ern mit den Worten: »Man kann sich seiner Vergangenheit nicht als Alibi bedienen. Im Orient nennt man das ›Aufwachen‹, im Okzident ist es das ›Wiedergeborenwerden‹.« Dem Terminus der »Vergangenheit« begegnet Cohen grundsätzlich skeptisch. »Den Begriff Vergangenheit benutze ich äußerst ungern, weil ich das Gefühl habe, keine Vergangenheit zu besitzen. Seit Mitte der 80er-Jahre beziehe ich mich nicht mehr auf Vergangenes und denke auch nicht darüber nach.« Äußerungen, die sich, selbst wenn man auf das spekulative Moment der Interpretation verzichtet, in Cohens musikalischen und literarischen Werken widerspiegeln. »Ich finde die Gespräche über meine Vergangenheit zuweilen sehr interessant, weil ich mir dann vorkomme, als müsste ich über etwas sprechen, von dem ich gar nicht mehr viel weiß.«
Der frühe Tod des Vaters im Januar 1944 war für den jungen Leonard prägend. Für seine Kunst wurde er zum Bezugspunkt, für sein Leben Grund zur Suche nach einem Vorbild und Lehrer, wie er ihn später zunächst in der Person Roshis, dem japanischen Zen-Meister, und dann in der Person Ramesh Balsekars, einem indischen Guru, fand. Der Tag der Beerdigung von Cohens Vater fiel zusammen mit dem Geburtstag von Cohens Schwester Esther, der er an diesem Tag außerordentlich nahekam. An diesem Tag vergrub Leonard eine Frackschleife seines Vaters im Garten der Eltern – seine private Trauerfeier. Ein Ritual, das er immer wieder erwähnt, wenn es um Erinnerungen an seine Kindheit geht. Ein Ritual, das mehr als nur symbolische Kraft hat. Als er die Schleife viel später wieder ausgraben wollte, fand er sie nicht mehr. »Manchmal verbinde ich das Graben mit dem Suchen nach den geeigneten Worten dafür, was ich auszudrücken versuche. Die ersten Zeilen, die ich für bedeutsam hielt, dichtete ich, als mein Vater starb«, beschreibt er die Szene mit der Schleife auch in Lian Lunsons Film I’m Your Man aus dem Jahr 2005: »Das war die einzige Art, wie ich mit dieser Begebenheit umgehen konnte, das so geheimnisvoll und seltsamerweise nicht so niederschmetternd war. Der Tod meines Vaters schien irgendwie in Ordnung zu sein. Er schien Teil von Ereignissen zu sein, die sich nicht aufhalten, ablehnen oder beurteilen ließen. Wahrscheinlich war es eine Art von Gebet, das ihn begleiten sollte, durch welche Welten auch immer.«
Durch den frühen Todes seines Vaters entwickelten Leonard und seine Mutter ein sehr vertrautes Verhältnis. Masha Cohen, 19 Jahre jünger als ihr Gatte und ausgebildete Krankenpflegerin, ließ ihren beiden Kindern viele Freiheiten und erzog sie dennoch im Sinne ihres eigenen jüdischen Glaubens, der von einer römisch-katholischen Religionsauffassung beeinflusst war. Vermutlich wurde schon zu dieser Zeit der Grundstein dafür gelegt, dass Leonard Cohen sich später eingehend mit den Mythologien der verschiedenen Religionen befasste. Auch die Zweisprachigkeit Montreals wirkte sich auf den Künstler aus. Sie erlaubte ihm den Zugang gleichermaßen zur französischen wie englischen Literatur. Hinzu kam sein Studium der Heiligen Schrift in hebräischer Sprache, das er begann, als er im Alter von sechs Jahren lesen lernte.
Doch zunächst stand er unter dem Einfluss der alleinerziehenden Mutter, die mit 36 Jahren ihren Mann verlor und Jahre später eine zweite, eher unglückliche Ehe einging. An seine Mutter erinnert sich Cohen auf eine andere Art und Weise als an seinen Vater. Mit dem Gedanken an sie verbindet er nicht einzelne Ereignisse, sondern das Bild einer herzlichen Frau, der es nach dem Tod des Gatten nur darum ging, ihren Kindern den rechten Weg zu weisen.
Will man sich mit Leonard Cohen auseinandersetzen, benötigt man ähnlich große Geduld, wie er sie damals wohl beim Anhören der Geschichten seiner Mutter aufbringen musste. »Anfangs konnte ich ihren Gedankensprüngen nie folgen. Ich wurde ungeduldig und drängte zum Ende der Geschichte, noch bevor sie begonnen hatte. Als ich älter wurde, war ich von ihren Erzählungen fasziniert, weil sich diese einst so schwer verständlichen Geschichten auf einmal zu einem wunderbaren Ganzen fügten. Es wurde mir klar, was mir vorher nie eingeleuchtet hatte: Jeder erzählt seine Geschichte denen, die ihm nahestehen. Jeder hat seine Geschichte, und sie verändert sich von Tag zu Tag. Die Zeit verändert sie, wie Runzeln, die sich auf unserem Gesicht zeigen, wie unser Haar, das ergraut, und wie unseren Körper, der zu welken beginnt. Die Geschichte verändert sich und nimmt diese Merkmale auf. Erst dadurch wird sie interessant und zu unserer eigenen.«
Finanzielle Probleme hatte Cohens Mutter nicht, konnte sie im Notfall doch noch immer in ihrem erlernten Beruf arbeiten. Trotzdem bedeutete es für sie eine gewaltige Umstellung, die Rolle der Frau eines angesehenen Mannes gegen die seiner Witwe einzutauschen, zumal sie die Stellung einer »Cohen« nie innegehabt hatte. Diesbezügliche Bemerkungen der Verwandtschaft versuchte Masha Cohen von ihren Kindern fernzuhalten. Wie Leonard Cohen diese Empfindungen verarbeitet hat, lässt sich in seinem ersten Roman The Favourite Game und in seinem ersten Gedichtband Let Us Compare Mythologies nachlesen, in denen er mit der für ihn typischen Liebe zum Detail davon erzählt.
Was aber eine jüdische Erziehung ausmacht, ist nicht nur das Heim, das als kleiner Tempel angesehen wird, sondern auch und vor allem die Einführung der Kinder in die Religion des auserwählten Volks. Auch andere pädagogische Instanzen spielen eine Rolle. Neben der öffentlichen Roslyn School besuchte der junge Leonard auch die Hebrew School in Montreal, um die Lehren des Judentums kennenzulernen. Diese Einweisung findet ihren Abschluss mit dem wichtigsten Ereignis im Leben eines jeden Juden, der Bar-Mizwa, der in etwa der christlichen Konfirmation entsprechenden Feier der religiösen Mündigkeit, die jeder männliche Jude mit Vollendung des 13. Lebensjahres erreicht und die den Übergang vom Kind zum Mann bedeutet. Diese fand für Leonard 1947 kurz vor seiner Einschulung in die Westmount High School 1948 statt. »Die Lieder, alte russisch-jüdische Wiegenlieder, gesungen mit einer zarten, eindringlichen Stimme, die in meinem Kopf Bilder von Geborgenheit hervorriefen, habe ich noch heute im Ohr. Was mich noch im Nachhinein sehr beeindruckt, ist das Gefühl meiner Mutter für Rhythmus und Melodie und dass sie nach so vielen Jahren immer noch Lieder sang, die man ihr selbst als Kind vorgesungen hatte.«
Neben seiner Mutter spielte auch deren Vater, Rabbi Solomon Klinitsky-Klein, eine wichtige Rolle für den Sozialisationsprozess seines Enkels. Ihm und seiner Großmutter väterlicherseits, Mrs. Lyon Cohen, widmete Leonard seinen 1961 erschienenen Gedichtband The Spice-Box of Earth. Sein Großvater Solomon hingegen vermittelte dem jungen Leonard die nicht immer ohne Grausamkeit und Härte auskommenden Geschichten des Alten Testaments. Die Konfrontation mit den Bildern der Bibel, die Inhalt der Wiegenlieder seiner Mutter gewesen waren, verarbeitete Cohen in seinem Werk ebenso wie die äußere Realität, mit der er konfrontiert wurde, etwa den nach Kanada dringenden Berichten über die Leiden, die das Naziregime den Juden zugefügte hatte. »Als die ersten Berichte mit den schrecklichen Nachrichten über die Geschehnisse in Deutschland nach Kanada drangen, war ich etwa zehn Jahre alt und konnte also schon lesen. Ich war sehr erschüttert.«
1945, im Alter von elf Jahren, stieß Leonard in einer Zeitung auf Fotos von Konzentrationslagern; für ihn war es »der Moment, in dem meine wahre Erziehung begann«. Was ihn jedoch vollends erwachsen werden ließ, war seine eigene Geschichte, auf die er in dem Roman The Favourite Game anspielt, indem er dessen Hauptfigur Breavman auf die von einem naiven jungen Mädchen gestellte Frage, wie es sei, ohne Vater aufzuwachsen, antworten lässt: »Du wirst schneller erwachsen.« Später, als man Cohen als den großen Melancholiker und Mystiker der Beatgeneration bezeichnete, hatte er sich mit den Themen Trauer, Verlust und Tod bereits eingehend auseinandergesetzt, schließlich hatte er schon früh seinen Vater verloren. Und »Verlust ist die Mutter der Dichtung« gab er in diesem Roman preis. »All diese Gefühle bestimmten mein Leben. Es war nie ein Luxus zu schreiben, es war eine Notwendigkeit. Aber ich wollte nie irgendetwas schreiben, sondern etwas, das sich von dem unterschied, was andere schrieben. Ich wollte mich nicht auf Phrasen einlassen. Man muss einfach nur die Phrasen, die manchmal leicht herunterzuschreiben sind, weglassen, damit es gut wird. Man muss sich von all den Restriktionen trennen, die sich durch Themen, die Politik oder Geschlechter etc. ergeben. In diesen Zeiten, in denen wir gerade leben, ist es sehr schwer zu schreiben. Sehr schwer, ohne Phrasen zu schreiben. Ohne die vielen Allgemeinplätze zu verwenden, die schon zu oft zu vielen bereits festgelegten Themen verwendet worden sind. Sie haben natürlich alle ihre Berechtigung. Aber Schreiben unter solchen Bedingungen ist schwierig. Die billigen Phrasen verstopfen den Kanal.
Es ist wie eine Tyrannei. Eine Tyrannei von vorgegebenen Haltungen. Eine Tyrannei, die einem vorschreibt, welche Haltung man einzunehmen hat. Diese Ideen überfluten uns geradezu, sind wie Heuschrecken in der Luft. Für einen Autor in der heutigen Zeit ist es sehr schwer, festzustellen, wo man steht, was man schreiben soll, welche Haltung die richtige ist. Ich muss meine Verse schreiben. Dann überprüfe ich zunächst, ob ich in ihnen nicht eine Phrase verwendet habe. Und wenn ich eine gefunden habe, muss ich sie wieder verwerfen. Doch werfe ich sie nicht weg, bevor ich nicht daran gearbeitet und herausgefunden habe, was ich eigentlich sagen, welche Haltung ich einnehmen wollte. Ich arbeite so lange an meinen Versen und verwerfe sie auch wieder, bis ich merke, dass ich nichts Phrasenartiges geschrieben habe. Manchmal bin ich vom Ergebnis selbst überrascht.«
Leonard Cohens Werk und Philosophie sind das Resultat einer ständigen Selbstbefragung. Stets ist er auf der Suche nach Helden, die er in Liedern und Gedichten zu beschreiben versucht. Helden wie in den biblischen Geschichten, die ihm seine Mutter Masha in seiner Kindheit vor dem Einschlafen erzählte? Gehörte damals etwa auch Gott zu seinen »Helden«?
»Von Gott hat man mir nicht viel erzählt, obwohl er in den Geschichten und Gebeten vorkam. Ernst zu nehmender war das, was sich hinter diesen Geschichten verbarg: Familie, Treue, Loyalität gegenüber der Vergangenheit, die diese Geschichten mit der Gegenwart verbinden. Damals waren das für mich sehr mystische Dinge.«
Aber auch den Mythologien der Menschheit galt seit jeher Cohens besonderes Interesse. Mythologien sind es, die für ihn neben seinen »Helden« Religiosität ausmachen, egal aus welcher Kultur sie kommen. »Wenn man unter einem religiösen Menschen jemanden versteht, der seine göttliche Herkunft ergründen will, dann bin ich zweifellos religiös«, gestand er in einem ausführlichen Gespräch über sein Judentum mit Ascher Ben-Shmuel und Ilan de Beer, das 1976 in der Süddeutschen Wochenzeitung erschien. »Insgesamt bin ich aber doch eher von der Sensitivität der Bibel beeinflusst, von ihrem prophetischen Gehalt, von den Propheten und vom Hohelied Salomos. Mich beeindrucken auch der lyrische Gehalt der Bibel und der Gerechtigkeitssinn, der sie auszeichnet. Im Grunde beeinflusst mich alles – ja, oft wirkt die Umwelt sogar zu stark auf mich ein.«
In vielen seiner Songtexte, zum Beispiel in »Who By Fire«, das an das Jom-Kippur-Gebet »mich bacharev, umi bamajim« erinnert, greift Cohen auf religiöse Motive zurück, was er jedoch nicht unbedingt als »typisch jüdisch« betrachtet wissen möchte. »Jede kulturelle Gemeinschaft beeinflusst das Schaffen ihrer Mitglieder. Als Jude bin ich mir eben nur dieser Tradition bewusst; sie ist das Einzige, das ich gelehrt wurde und das mich aus diesem Grunde geprägt hat. Ich weiß, dass ich Jude bin; ich weiß, woher ich stamme; aber ich bewege mich nicht ausschließlich in einem jüdischen Kontext.«
Vor einer Definition dessen, was es bedeutet, Jude zu sein, scheut Cohen bis heute zurück. »Ich gehe von der Tradition aus«, erklärte er de Beer. »Die Beschneidung ist für mich das Wesentliche, und zwar die Beschneidung des Gliedes und des Herzens – ich meine damit die wahre Herzensbildung. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht das Judentum Menschen, die eine eigene Weisheit und Erfahrung entwickelt haben und die innerhalb der Familie oder durch Erziehungseinrichtungen den Erfahrungsschatz des gesamten Volkes der nachfolgenden Generation vermitteln können. Wenn der Faden reißt und die jüdische Erziehung bloß oberflächlich ist und gerade noch zu der Erkenntnis führt, dass man Jude ist, so genügt das nicht. Der Faden muss an die Geschichte anknüpfen, und diese Erfahrung muss weitergegeben werden, so wie es die Haggada [hebräisch: Schriftdeutung, die jüdische Auslegung des Alten Testaments] vorschreibt: Du musst den Auszug selbst erleben. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind und dadurch jeder Generation von neuem dieses Erlebnis vermittelt wird, dann gelingt auch diese Herzensbildung. Selbst in kleineren Gemeinden, die ihre Erziehungsarbeit ernst nehmen, wird es möglich sein, Herzen zu beschneiden. Im Rahmen dieser Definition muss aber auch jenen die Tür geöffnet werden, die ihr Los mit den Juden zu teilen wünschen. Ich denke, Herzensbildung erfolgt durch spezifisch jüdisches Erleben, aber auch die, die außerhalb der jüdischen Gemeinde stehen, sich jedoch mit der jüdischen Tradition identifizieren möchten, können die Erfahrung machen.«
In vielem, was Leonard Cohen gesagt und geschrieben hat, lässt sich diese metaphysische Basis nachvollziehen. Cohen war nie ein geistiger Mitläufer, stets suchte er – in der Religion, in der Liebe und im Leben – seinen eigenen Weg und wurde so zum Vordenker einer ganzen Generation.
Leonard Cohens Lebensphilosophie ist also vom frühen Verlust des Vaters gleichermaßen geprägt wie von intensiver mütterlicher Liebe, von den Mythologien der jüdischen Religion ebenso wie von seinen eigenen grundsätzlichen Zweifeln bezüglich jeder Religion – ein Gedankengut, das er bereits als 14-Jähriger in Worte zu fassen und niederzuschreiben begann. Trotz seines Hangs zur geistigen Auseinandersetzung ging der junge Leonard den gleichen Freizeitbeschäftigungen nach wie seine gleichaltrigen Freunde. »Ich spielte Eishockey in der Schulmannschaft und fuhr gern Rad. Besonders interessierte ich mich für Boxen und Ringen.« Während seiner Zeit an der Westmount High School trieb er sehr viel Sport, arbeitete aber auch bei der Schülerzeitung und am Jahrbuch mit. In einem späteren Schuljahr, 1951, gab er sogar »Fotografie« als Hobby an. Und auch die Liebe zu seinem Hund Tinkie, der ihm eines Tages in einem Schneesturm weglief und nie zurückfand, wurde zu einer bedeutungsvollen Episode in seinem Leben. Danach schaffte er sich nie wieder einen Hund an, und noch heute steht in seinem Haus in Los Angeles ein Bild von Tinkie.
Zu dieser Zeit, Anfang der 50er-Jahre, erwachte gleichsam sein Interesse am weiblichen Geschlecht. »Während der Pubertät verbringt jeder Heranwachsende die meiste Zeit damit, sich zurechtzufinden. – Die ersten bedeutsamen Gedichte las ich in der Synagoge. Das waren biblische Geschichten, wovon ich Gänsehaut bekam. Eigentlich hatte ich in der damaligen Zeit ausschließlich Comics gelesen. Marvel-Comics: Superman, Spiderman und andere Superhelden. Damals dachte ich, dass ich so etwas auch schreiben könnte. Ich war mir sicher, selbst irgendetwas schreiben zu können. Zuerst verfasste ich Gedichte an Mädchen, um diese für meine Gedanken zu interessieren.« In The Favourite Game beschreibt Leonard Cohen das Empfinden der ersten sexuellen Gefühle mit den Worten: »Unsere Leidenschaften sind wie Reisende. Zuerst machen sie eine allumfassende Rundreise. Dann sind sie wie Gäste, die oft zu Besuch kommen. Schließlich werden sie zu Tyrannen, die uns beherrschen.«
Was Cohen in jener Zeit ebenfalls faszinierte, war die Hypnose. Zugang dazu fand er über den Vater einer Freundin. Bei ihm selbst funktionierte Hypnose nicht, dennoch besorgte er sich sofort ein Buch darüber – M. Young: 25 Lessons in Hypnotism. How to Become an Expert Operator, ein Buch aus dem Jahr 1899. Was bei ihm nicht anschlug, wandte er selbst zweimal erfolgreich an. Beim ersten Mal ließ er ein Hausmädchen strippen, das andere Mal drang er tief in die Psyche einer Betreuerin in einem Sommerferienlager vor. Er war schon früh von Dingen fasziniert, denen eine gewisse Transzendenz anhaftete. In dieselbe Zeit fällt auch Cohens erster Kontakt zur Welt der Musik. So erlernte er in den sommerlichen Jugendlagern das Gitarrenspiel. Ein Folksänger namens Irving Morton brachte ihm Lieder aus dem People’s Song Book bei, einer Sammlung zeitgenössischer Volkslieder.
Zu Beginn der 50er-Jahre steckte die Popmusik, wie wir sie heute kennen, noch in den Kinderschuhen. Nach der großen Weltwirtschaftskrise und den beiden Weltkriegen begannen sich Blues, Jazz, Gospel, Countrymusik und Folksong als Basis der Popmusik herauszukristallisieren. Vor allem vom Rhythm and Blues und von der Countrymusik, den wichtigsten Vorläufern des Mitte der 50er-Jahre aufkommenden Rock ’n’ Roll, ließ Cohen sich inspirieren. Im Jahr 1993 beschrieb er seine Haltung zur Popmusik folgendermaßen: »Die aus vielen Stilen entstandene Popmusik nimmt eine ähnliche Stellung ein wie die Malerei des 19. Jahrhunderts vor Picasso und Matisse. Deren Arbeiten hat man anfangs auch nicht geschätzt, heute will man sie nicht mehr missen. Es waren einfach neue Ausdrucksformen. Ich denke dabei nicht an Zwölfton- oder atonale Musik; selbst das wäre noch 19. Jahrhundert. Ich meine die Einstellung, mit der eine neue Geschichte erzählt, eine Vision entwickelt wird. Gerade jetzt sind wieder Ansätze in dieser Hinsicht erkennbar.«
Aber auch für die klassische Musik, für Jazz und Walzer hegte Leonard Cohen in seiner Jugend eine Vorliebe. Noch heute bezeichnet er als eines seiner größten musikalischen Idole den schwarzen Sänger und Pianisten Ray Charles, dem er auf dem Elton-John-Album Duets (1993) mit dem Song »Born To Lose« seine Reverenz erwiesen hat.
Im Alter von 15 Jahren nahm Leonard Cohen Klavierunterricht, und mit Hilfe eines in Montreal lebenden Spaniers verbesserte er sein Gitarrenspiel. »Meine erste Gitarre habe ich für zwölf Dollar in Montreal gekauft. Damals gab es noch keine Gitarrenkultur. Das Einzige, was man vermeintlich darüber wusste, war, dass nur Kommunisten Gitarre spielten. Im Park hinter dem Haus meiner Mutter hing oft ein spanischer Flamenco-Gitarrist herum. Er war einsam und spielte fantastisch. Ich bat ihn um Unterrichtsstunden, und er brachte mir Tremolos, Flamenco-Akkorde und die Kombination von Dur und Moll bei. Er lehrte mich die Grundlagen des Komponierens. Die Leute denken nämlich, ich kenne nur drei Akkorde – in Wahrheit kenne ich fünf. Darauf beruhen Songs wie zum Beispiel ›Suzanne‹, ›Stranger Song‹ und ›Master Song‹. Zu meiner vierten Unterrichtsstunde blieb er aus. Ich rief in seinem Hotel an, fragte, wo er sei, und musste hören, dass er Selbstmord begangen hatte.« Die Lieder aus The People’s Songbook, die er im Sommerlager Sunshine 1950 kennen und schätzen gelernt hatte, nahmen zusätzlichen Einfluss auf Cohens Gitarrespiel. »Von diesen Liedern ging eine solche Kraft aus, dass ich überzeugt davon war, Musik muss eine Wirkung auf Menschen ausüben.« Dieser Nachhall ist bei Cohens eigenen Liedern wie etwa »The Partisan«, »The Old Revolution« oder »The Traitor« unverkennbar.
»Martha Wainwright hat eine so schöne Version von ›The Traitor‹ gemacht. Ich selbst verstehe den Song nicht vollständig. Oft versteht man gar nicht, was man gemacht hat, obwohl man sich zu einem bestimmten Standard zwingt, während man etwas macht. Man möchte ja, dass ein Lied mehr oder weniger stimmig ist, aber manchmal, wenn man den Song von jemand anderem interpretiert hört, kann man es nicht mehr erwarten, diese Version noch einmal zu hören. Das ist einer meiner Lieblingssongs. Ich begreife nicht wirklich, worum er sich dreht, doch weiß ich, dass da etwas Großartiges in diesem Song steckt. Stücke wie ›The Traitor‹ stellen eine Wahrheit dar, die schwer auszumachen ist, die sich aber stark auf dein Leben auswirkt. So geht es mir oft mit bestimmten Songs von Dylan oder Edith Piaf. Die französischen Worte sind zu schnell für mich, um sie wirklich zu verstehen. Aber man fühlt, dass es da etwas gibt, das wahr ist. Wahrheit, die man allein nicht ausmachen kann, die jemand für dich in diesem Lied ausfindig gemacht hat. Und du hast das Gefühl, du hättest gerade den letzten Teil des Puzzles eingesetzt. Für diesen Moment hast du das Puzzle gelöst. In diesem Moment ist alles klar. In diesem Moment spürst du, es ist wahr. Ist es nicht wunderbar, wenn alle Teile passen?«, interpretiert Cohen das 1979 auf dem Album Recent Songs veröffentlichte Stück.
Weiterhin von Mythologien und dem geschriebenen Wort angezogen, fiel »mir zu dieser Zeit in einem Antiquariat ein Buch des spanischen Dichters Federico Garcia Lorca in die Hände (unglücklicherweise, wie Cohen Jahre später ironisch anmerkte). Lorca hat meine Weltanschauung enorm beeinflusst. Seine surrealen Schriften, geprägt von transzendentaler Romantik – Romantiker waren wir zu der Zeit schließlich alle –, haben mein Tun und Denken auf die radikalste Weise verändert. Ich musste mehr, musste alles von ihm lesen. Seine Bücher legten mir klar dar: Poesie kann jungfräulich und tiefgründig und zugleich volkstümlich sein.«
Seiner Liebe zu Garcia Lorca setzte Cohen im Jahr 1986 mit dem Album Poets in New York ein Denkmal, einer Zusammenstellung mit Aufnahmen verschiedener Künstler, die zum 50. Todestag des spanischen Dichters veröffentlicht wurde. In seinem ein Jahr später veröffentlichten Song »Take This Waltz«, leicht verändert abgemischt auch auf dem Cohen-Album I’m Your Man erschienen, verarbeitete er Lorcas Gedicht »Little Viennese Waltz«. Neben Religion und Musik ist Garcia Lorca somit die dritte bedeutende Inspirationsquelle für Cohens Werk. In Interviews anlässlich seiner Beteiligung am Poets-in-New-York-Projekt fasste Leonard Cohen seine an Idolatrie grenzende Verehrung in die folgenden Worte: »Mit den ersten Gedichten, die mir von ihm in die Hände fielen, hat Garcia Lorca mein Leben ruiniert.«
Diese Art von Idolisierung hat Leonard Cohen später selbst erfahren, und auch sein Werk weist einige Parallelen zu dem Garcia Lorcas auf. Für den aufstrebenden jungen Dichter aus Kanada war der am 19. August 1936 wegen seines Engagements im Spanischen Bürgerkrieg ermordete Poet das Vorbild für das Schriftstellerleben schlechthin. Lorcas Überzeugung, in seinen Adern fließe das Blut von Zigeunern und Juden, verstärkte Cohens Identifikation mit ihm. Er bewunderte Garcia Lorca für seine Fähigkeit, mit sprachlichen Mitteln surrealistische Bilder zu entwerfen. Darüber hinaus schätzte er ihn, weil er erklärt hatte, Lyrik könne zugleich »elitär« und »populär« sein. Einen weiteren Bezugspunkt fand Cohen darin, dass Lorca im ungefähr gleichen Alter wie er selbst mit ernst zu nehmenden literarischen Aktivitäten begonnen hatte. Cohen fing mit 16 Jahren zu schreiben an, Lorca mit 17.
»Lorca hat mich erzogen. Er war mein Lehrer darin, die Würde des Schmerzes zu erkennen und ihn mit Stolz und Hingabe zu verstehen. Lorca habe ich es zu verdanken, dass ich mich für Spanien und seine Geschichte interessiere. Sein Werk wurde mir zu meiner Bibel.« – Lorca geriet zum ersten großen Vorbild, das er für sein künstlerisches Schaffen und seine Sehnsucht nach Frauen verantwortlich macht. Später gesellten sich Leitsterne wie die Schriftsteller und Mentoren Louis Dudel, F. R. Scott, A. M. Klein, Irving Layton, Roshi und Balsekar hinzu.
Der 21. September 1951 war für Leonard Cohen in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen war es sein 17. Geburtstag, zum anderen der Tag seiner Immatrikulation an der McGill University von Quebec, der ersten Hochschule im französischsprachigen Teil Kanadas, an der auf Englisch gelehrt wurde, und die großen Anteil an der Verbreitung der Kultur des englischen Sprachraums hatte. Und 1951 schrieb er mit »Twelve O’Clock Chant«, das auch im 1965 vom National Film Board gedrehten Film zu hören ist, seinen ersten echten Song.
Die Diskutierfreude der Studenten und die ebenso fruchtbare wie von Fürsorglichkeit geprägte Auseinandersetzung mit den Professoren Hugh Mac Lennan und Louis Dudek von der Englischen Fakultät bestärkten Cohen in seinem Entschluss, sich mehr und mehr der Literatur zu widmen. Zur ersten wichtigen Bezugsperson während seines Studiums, das er später als »Wiedergutmachung an meiner nicht am künstlerischen Leben teilhabenden Familie und an der Gesellschaft« bezeichnete, wurde jedoch ein Professor namens F. R. Scott, Leiter der Juristischen Fakultät. Scott, von Leonard Cohens Talenten überzeugt, veranlasste ihn dazu, seiner Fakultät beizutreten, da er der Auffassung war, Cohen könne ebenso die Laufbahn eines Anwalts wie die eines Schriftstellers einschlagen. F. R. Scott war von Leonard Cohens künstlerischem Engagement derart begeistert, dass er dessen Lesungen des Öfteren mit seiner Frau in den Montrealer Cafes besuchte und ihn sogar zu sich nach Hause einlud. Mit seinem »Sommer-Haiku« widmete Leonard Cohen der Familie, die ihm ihr Cottage in North Hatley für seine ersten schriftstellerischen Gehversuche zur Verfügung gestellt hatte, ein Gedicht in seinem Buch The Spice-Box of Earth. Im Cottage der Scotts begann Cohen seine Arbeiten an diesem Gedichtband, dort schrieb er auch seinen ersten Roman The Favourite Game.
Sommer-Haiku
Stille
und eine tiefere Stille
wenn die Grillen
zögern
© Leonard Cohen
Aus dem ersten Kontakt zu Scott entwickelte sich mit der Zeit eine enge Freundschaft. In einem Interview aus den 70er-Jahren gestand Cohen, er habe so »viele Freunde wie Finger an der Hand«. Zu diesen »fünf Freunden«, zu denen sich bis heute viele zählen möchten, die Leonard Cohen irgendwann einmal kennengelernt haben, gehört F. R. Scott auf jeden Fall. Einer Episode aus dem Jahr 1966 zufolge könnte man Scott beinahe als Wegbereiter für die oft angeführte Seelenverwandtschaft Leonard Cohens mit dem anderen großen Songwriter der populären Musik, mit Bob Dylan bezeichnen, die Ira Bruce Nadel in seinem Buch Leonard Cohen: A Life in Art 1993 in epischer Breite schildert. Am 8. Januar 1966, während einer von Scott organisierten »All Day Poetry Party«, packte Cohen seine Gitarre aus und schwärmte von Bob Dylan als vom »neuen Poeten Amerikas«. Da noch niemand von ihm gehört hatte, suchte Scott auf der Stelle den nächsten Plattenladen auf, um zwei seiner Alben, The Times They Are a-Changin’ und Highway 61 Revisited, zu erstehen und sie sogleich vorzuspielen. Doch keiner der Anwesenden fand Gefallen an ihnen – mit Ausnahme von Cohen. Er machte sich über die allgemeine Entrüstung lustig, indem er sich als »kanadischer Dylan« bezeichnete. Niemand kommentierte diese Aussage, und die Party nahm mit der Vorführung zweier Filme ihren Fortgang, darunter Ladies And Gentlemen … Mr. Leonard Cohen, jenem von D. Brittain und Don Owen produzierten 30-minütigen Porträt des jungen Dichters aus dem Jahr 1964. Gegen Ende der Party legte Scott noch einmal Dylan auf. Diesmal reagierten die Anwesenden nicht mit Ablehnung, sondern mit Tanz und allgemeiner Ausgelassenheit.
»Als die Beatles auftauchten, waren wir zunächst nicht sehr beeindruckt, weil sie uns als Teil des Kommerzbetriebs erschienen. Howlin’ Wolf und andere ›Wurzeln‹ beeindruckten uns sehr viel mehr. Sogar aus Homer und Shakespeare hörten wir Musik heraus. Beeindruckt waren wir auch von François Villon und Robert Burns, mit deren Werken wir Musik und Bewegung im Ohr hatten. Dylan vereinte unsere Anliegen schon eher, obwohl er uns nicht gleichermaßen berührte wie sein damals für ihn typisches Publikum. Wir waren ja schon ›gebildet‹. Trotzdem waren wir uns bewusst, dass Dylan ein Genie war, wie es nicht alle Tage auftaucht. Er gab uns sozusagen die Initialzündung.«
Auch wenn Leonard Cohen zu Beginn seines Studiums in den naturwissenschaftlichen Fächern bessere Noten hatte als in den geisteswissenschaftlichen, wurde er dank seiner Beschäftigung mit der klassischen und zeitgenössischen Weltliteratur als Autor immer »professioneller«. Über Garcia Lorca hinaus sah er sich vor allem dem irischen Dichter William Butler Yeats geistig verbunden. Die Saat seines allerersten literarischen Mentors, des Englischlehrers Waring von der Westmount High School, begann aufzugehen. Bei Professor Hugh MacLennan belegte Cohen überdies einen Kurs in »Creative Writing«, in dessen Verlauf er sich von den Lehren Professor Dudeks, wenn auch nicht von seinen Aktivitäten, zunehmend distanzierte.
Auch Irving Layton, ein weiterer lokaler Dozent und Autor, der in der kanadischen Literaturszene der 50er-Jahre den Ruf eines Enfant terrible genoss, gehörte damals zu Leonard Cohens geistigen Förderern. Über Layton, den Cohen 1954 kennenlernte und der, ebenso wie der Kommilitone Morton Rosengarten, zu einem Freund über viele Jahre wurde, äußerte er sich später ähnlich wie über Garcia Lorca, indem er erklärte, Layton sei stets das gewesen, »was ich mir unter einem Dichter vorstellte. Er war einer jener Charaktere, deren Persönlichkeit weit über die ihrer Zeitgenossen hinausragt. Seine Dichtung ist umfassender als das Leben selbst, wahrer als die Wahrheit und so lebendig wie er selbst. Seine Poesie lebt das Leben und sein Leben die Poesie.«
Auch wenn Cohen von sich sagt, er habe sich im Grunde selbst erzogen und keine Bezugsperson in dem Sinne gehabt, wie man sie sich in einer Vater-Sohn- oder Bruder-Bruder-Beziehung vorstellt, wurde Irving Layton, der zu Beginn ihrer Freundschaft bereits zwei Bücher veröffentlicht hatte, zu einer Art Vaterfigur für den 23-jährigen Leonard. So sieht es zumindest Jennifer Warnes, die Leonard Cohen über seine Schwester Esther kennenlernte und als Backgroundsängerin zu seiner langjährigen Weggefährtin werden sollte.
Nach Irving Layton waren das, was Cohens damalige Persönlichkeit ausmachte, »die Tradition des Lernens«, »der Unternehmungsgeist der Familie Cohen«, eine »spürbare Güte« und nicht zuletzt »das Selbstbewusstsein eines Cohen«, das sich aus dem großen Namen seiner Familie ableitete, die sich ihrer Priesterrolle und Vorbildfunktion stets bewusst war.
Nach seinem Einzug in die Kaffeehäuser Montreals, die zu Beginn der 50er-Jahre wie Pilze aus dem Boden schossen und zu Orten der literarischen und musikalischen Begegnung der Jugend wurden, fand Leonard Cohen rasch Zugang zu einem literarischen Kreis, in dem er trotz des Altersunterschieds als gleichberechtigter Autor galt. Die Gruppe um Professor Dudek, zu der auch dessen spätere Frau Aileen Collins, Betty Sutherland (die spätere Mrs. Layton), Anna Azzulo, Robert A. Currie, Jackie Gallagher, Yafa Lerner, Buddy Rozynski und Wanda Staniszewska gehörten, brachte von April 1953 bis März 1954 insgesamt fünf Ausgaben der Literaturzeitschrift CIV heraus. Cohen, der zu dieser Zeit ständig seine Gitarre bei sich trug und für eine Miete von drei Dollar pro Nacht ein Hotelzimmer bewohnte, da er sich einen kosmopolitischen Anstrich geben wollte, beteiligte sich rege an den Diskussionen über all das, was in diesem Kreis geschah. Dudek und Layton – letzterer nahm das 20 Jahre jüngere literarische Findelkind häufig zu seinen eigenen Lesungen mit – erkannten Cohens Interesse an diesen Gesprächen und nährten seinen Wissensdurst stets von Neuem.
Leonard Cohen wollte seinen Erfahrungshorizont damals erweitern. Louis Dudek, selbst auch als Schriftsteller in Erscheinung getreten, war ihm dabei eine Hilfe. Eines Tages schlug er Cohen auf dem Flur des Universitätsgebäudes – symbolisch und ohne Zeugen – zum »Ritter« innerhalb der Dichterrunde. Nachdem Dudek sich von Cohens ersten literarischen Übungen, die er schon zwei Wochen nach Beginn seiner »Modern Poetry«-Vorlesungen zu Gesicht bekam, sehr angetan gezeigt hatte, legte ihm dieser weitere Kostproben seines Könnens vor. Das Gedicht »The Sparrows« (veröffentlicht in Let Us Compare Mythologies) war für Dudek der Beweis, dass er es mit einem jungen Dichter zu tun hatte, dem eine Karriere mit Lesungen, Workshops und Publikationen bevorstand. »Poeme En Prose« und »A Halloween Poem To Delight My Younger Friends« – zwei Gedichte, die später ebenfalls in denselben Gedichtband aufgenommen wurden –, waren Cohens erste Veröffentlichungen in der vierten Ausgabe der von Dudek redigierten CIV/n. Bevor die in einer Auflage von jeweils 250 Exemplaren erschienene Gedichtbandreihe Ende 1955 eingestellt wurde, hatte Cohen in ihren sieben Ausgaben vier eigene Gedichte publiziert, darunter »The Sparrows«.
Die Spatzen
Beim ersten Hauch von Winter in ihren eingekerbten Nasenlöchern
ließen uns die treulosen Vögel im Stich,
zurück blieben nur die unansehnlichen braunen Spatzen
für Verhandlungen mit dem Frühling.
Ich habe dir gesagt, dass es dumm von uns war,
sie in unsere Spiele zu lassen, doch du hast geantwortet:
Es sind nur Vögel zum Aufziehen,
die auf scharlachroten Füßen herumstelzen
so hoffnungslos außer Reichweite
für unsere gekrümmten Finger.
Ich wollte dich warnen,
doch du hast nur deine Frisur gerichtet
und gemeint:
Ihre Flügel sind aus Glas und Gold und wir können von Glück sagen
wenn wir nicht hören müssen, wie sie an der Sonne zerschellen.
Jetzt sind die hohlen Nester
wie Tumore oder versteinerte Blüten
im dünnen Geäst,
und du, ein unschuldiger Wissenschaftler,
stellst mir Fragen über diese braunen Spatzen:
ob wir in unseren Höfen Brotkrumen auslegen sollen als Köder
oder sie markieren mit den schwarzen hartnäckigen Krähen,
die wir hassen und steinigen.
Doch was soll ich dir von Vogelwanderungen erzählen,
wenn die scharf umrissenen Geister von entschwundenen
Sommervögeln immer noch alte Zeichen ritzen
in diesen leeren Himmel; oder von verzweifelten Flügen,
wenn das geringste Flattern eines bunten Flügels all unsere
Lieblingsstraßen verzückt
einen imaginären Frühling erleben lässt.
© Leonard Cohen
Was Leonard Cohens literarische Ziehväter Dudek und Layton voneinander unterschied, war ihre Auffassung über die recht direkte, bisweilen auch »vulgäre« Sprache, die Cohen in seiner Lyrik verwandte. Dudek sah in ihr einen Verrat an der Kunst, die für ihn stets auf hohem Niveau angesiedelt sein sollte. Layton hingegen, der hartgesottene Realist, hatte für Cohens Beschreibungen menschlicher Leidenschaften in all ihren Schattierungen großes Verständnis. Er ermunterte ihn zur ständigen Hinterfragung des menschlichen Seins ebenso wie dazu, auf eine moderne, lebendige Sprache nicht zu verzichten. Schon damals zeichneten sich in Leonard Cohens Texten die Fragen ab, die er sich sein Leben lang stellen sollte: War er ein Heiliger oder ein Sünder, Musiker oder Schriftsteller, Poet oder Kaufmann? Sollte er nach den Traditionen handeln oder seinen Gefühlen folgen? Antworten darauf fand er allein in seiner Lyrik.
Leonard Cohens musikalisches Engagement zu jener Zeit gipfelte im Zusammenschluss eines Trios namens The Buckskin Boys, in dem er, wie er es schon in den Sommerlagern getan hatte, zu Gitarre, Banjo und Mundharmonika Countrysongs sang. Die stets mit Cowboyhüten und in Trapperjacken gekleidet auftretende Band bestand aus Cohen an der Rhythmusgitarre, Mike Doddman, einem Freund aus seinen Kindertagen, an der Harmonika, und einem Freund Doddmans namens Terry, der Mundharmonika spielte. »Wir hielten uns für unsterblich. Alles, was wir taten, war ungeheuer wichtig. Wir dachten – und das ist nur in der Provinz möglich –, wir hätten den mystischen Sinn unser aller Leben erfasst.« Erste öffentliche Auftritte gab das Trio in den Cafés von Montreal und während Cohens Studienzeit von 1951 bis 1954 an der McGill University auf studentischen Veranstaltungen, wo schon einmal an die 200 Zuhörer zusammenkamen.
»Was mich am Leben erhielt, war die Tatsache, dass wir alle Teil einer Gruppe waren, einfach eine Anzahl von Leuten, die in Montreal lebten. Wir waren Freunde und pflegten unsere Traditionen. Man ging zur Uni, weil alle zur Uni gingen. Ich wohnte in der Südstadt von Montreal und führte im Grunde nur ein Leben wie das des Schoßhundes eines chinesischen Mandarins. Es war die Zeit, in der man Erziehung und Bildung – und seine Jugend überhaupt – noch nicht sehr ernst nahm. Ernst nahm man nur sich selbst.«
Viele von Leonard Cohens Gedichten weisen Liedstruktur auf, und so ist es nicht verwunderlich, dass er später auf die immer wiederkehrende Frage, ob er denn nun Songwriter oder Dichter sei, antwortete: »Ich war schon immer an der Art von Sprache interessiert, die sich gut mit Musik kombinieren lässt. Ich selbst trenne Musik und Text zunächst nicht. Schreibe ich einen Text, höre ich für mich im Hintergrund bereits die dazu passende Musik, ohne auch nur eine Note komponiert zu haben.«
Neben all diesen Erfahrungen, die er im Alter von 14 bis 23 Jahren machte, kam nach dem Tod seines Großvaters Nathan auch noch die erneute Heirat seiner Mutter hinzu. Doch die zweite Ehe seiner Mutter mit einem an Tuberkulose erkrankten Apotheker aus Montreal hielt nur bis 1957. Zwischen seinem 16. und 20. Lebensjahr unterhielt Cohen seine ersten intensiven Beziehungen zu Frauen. Yafa Lerner gilt als seine erste Freundin. Danach verliebte sich Leonard in die 17-jährige Freda Guttmann. Die Beziehung zu dieser ein Jahr älteren Kunststudentin währte fast vier Jahre. Ein wenig auseinander driftete jedoch die Beziehung zu seiner Schwester Esther, die sich erst im New York der 60er-Jahre wieder verbessern sollte.
Cohen arbeitete ständig an seinem Schreibstil und schrieb Lyrik, die anfangs noch unveröffentlicht blieb, wie z. B. das Gedicht:
Die Fliege
In ihrem schwarzen Panzer
marschierte die Hausfliege über die Fläche
von Freias schlafenden Schenkeln,
unbeeindruckt von der weichen Hand,
die vage dazu ansetzte
dieser Leibesübung ein Ende zu machen.
Und es ruinierte mir meinen Tag,
dass diese Fliege, die nie die Absicht hatte
sie zu umwerben oder ihr zu gefallen,
so kühn einherging auf jenem Grund,
in den ich so sehr versuchte
meine zitternden Knie zu betten.
© Leonard Cohen
Auch die Auflehnung und der Umbruchsgeist einer neuen Generation, die alles Etablierte infrage stellte, waren damals Themen von Leonard Cohens Lyrik. Professor Scott nahm in diesem Zusammenhang Einfluss auf Cohen, indem er seinen Gerechtigkeitssinn schärfte – eine weitere Erfahrung, die Cohen mit traditionellen Normen machte und die ihn auf seiner Gratwanderung, dem ständigen Fragen nach Gut und Böse, bestärkte.
Darüber hinaus rief das Familienunternehmen, in dem er als Student während der Ferien jobbte. Was er dabei sehr schnell herausfand, war, dass er diesen Job nicht für die nächsten 50 Jahre machen wollte. Cohen war vielmehr überzeugt, er habe der Welt etwas zu sagen. »Dabei ging es mir gar nicht mal so sehr um Anerkennung. Ich habe nie daran gedacht, Dichter zu werden oder Dichter zu sein. Ich war ja vielmehr von anderen Dichtern fasziniert. Aber eine Vorstellung von dem, was ich wollte, hatte ich lange Zeit auch nicht. Ich schrieb nur ununterbrochen, vorwiegend mit der linken, also mit der unkonzentrierteren Hand. Dabei ging es mir noch nicht einmal um das, was ich schrieb, sondern vielmehr darum, dass ich schrieb – und dass andere davon wussten!«
Leonard Cohen lebte damals – um den Titel eines späteren Konzert-Bootlegs zu zitieren – das Leben eines der »letzten Bohemiens«. In der Lower Stanley Street von Montreal mietete er ein Apartment zusammen mit Morton Rosengarten, den er bereits seit 1949 aus einem der Sommerlager kannte, wo sie schon zusammen musiziert hatten. Mit ihm hatte er auch zwei Jahre an der McGill University verbracht, und auch in den Folgejahren verloren sich die beiden nie aus den Augen. Die Figur des Krantz in Cohens Roman The Favourite Game hat den ein Jahr älteren Rosengarten zum Vorbild, mit dem Cohen damals oft im Café Andre herumsaß, einem beliebten Treff junger Künstler nahe der McGill. Auf der Suche nach sich selbst entschloss sich Leonard Cohen, nach seinem »Bachelor of Arts«-Abschluss an der McGill im Jahr 1955 ein Stipendium der New Yorker Columbia University anzunehmen, jener Hochschule, an der Dudek promoviert und auch Garcia Lorca studiert hatte.
Obwohl er zuvor mit ganz anderen Berufswünschen geliebäugelt hatte, bewarb er sich 1957 beim U. S. Bureau of Indian Affairs auf eine Lehrerstelle in den Indianerreservaten und sogar bei der Polizei von Hongkong, die für Rekruten warb. Doch die kleine »Vorbestraftheit«, die ihm ein Jugendgericht bescherte, weil er angeblich die öffentliche Ruhe gestört hatte, als er zufällig bei einer Football-Feier auf offener Straße war, verhinderte eine Laufbahn in Staatsdiensten. Also ging er nach New York.
Was ihm anfangs an New York missfiel, war die Anonymität der Stadt. »Wer kann all die Wolkenkratzer nur ernst nehmen?«, lässt er Breavman, die Schlüsselfigur seines ersten Romans, fragen. Cohen vermisste seine Clique aus Montreal. Was ihm New York jedoch näherbrachte, waren die Literatur und die Musik der Beatgeneration. Cohen las Ginsberg und Burroughs, hörte Chuck Berry, Edith Piaf, Frank Sinatra und immer wieder Ray Charles. Die multikulturelle Atmosphäre der Stadt faszinierte ihn ebenso wie ihre Anonymität, die er im Lauf der Zeit schätzen lernte. Leonard Cohen wurde sich zunehmend bewusst, dass er Schriftsteller werden wollte und zum Lyriker berufen war. In diesem Vorhaben wurde er 1955 durch die Verleihung zweier Literaturpreise bestärkt, des MacNaughton Prize for Creative Writing und des Peterson Prize – Auszeichnungen für die Gedichte, die er von 1949 bis 1954 geschrieben hatte.
Unter dem Obertitel The Sparrows. Thoughts of a Landsman erschienen schließlich »A Statement. For Wilf and His House«, »A Criticism. Ste. Catherine Street«, »A Criticism. Lord on Peel Street«, »An Alternative. The Song of the Hellenist« sowie die Gedichte »The Fly«, »Just the Worst Time«, »To be Mentioned at Funerals« und weitere Texte, die Cohen zunächst vereinzelt in kleineren Zeitschriften veröffentlicht hatte.
Louis Dudek hatte ein neues literarisches Magazin mit dem Titel McGill Poetry Series ins Leben gerufen, und Leonard Cohen war einer der ersten, der sich dafür interessierte. Als erster Band der Reihe, die es bis 1966 auf ingesamt zehn Ausgaben brachte, erschien im Frühjahr 1956 seine Gedichtsammlung Let Us Compare Mythologies. 300 Dollar kostete die Herstellung des 79 Seiten starken Bändchens, das in einer Auflage von 400 Exemplaren veröffentlicht wurde und neben 44 Gedichten fünf Illustrationen von Freda Guttman enthielt. Im Zuge dieses Projekts kamen Cohen die kaufmännischen Kenntnisse zugute, die er sich während seiner Tätigkeit im familieneigenen Unternehmen angeeignet hatte.
»In Kanada veröffentlichten wir unsere Gedichte gewöhnlich selbst. Auch Dudek und Layton taten das mit ihren Erstlingen. Wir warteten nie, bis sich die konventionelle Presse oder Verleger für uns interessierten. Das kam erst viel später. Wir waren alle unsere eigenen Verleger und bezahlten die Druckereirechnungen selbst. Sogar den Vertrieb organisierten wir auf eigene Faust. An den Straßenecken wurden die Bändchen ebenso verkauft wie per Postversand oder in den Cafés. Es gab eine kleine, treue Lesergemeinde in Kanada, die allmählich größer wurde und wohl auch heute noch existiert.«
Mit seinem Aufruf »Lasst uns Mythologien vergleichen!« etablierte sich der 22-jährige Cohen als einer der Hoffnungsträger der kanadischen Literatur. Ausgehend von christlichen, hebräischen und griechischen Mythen begann er seine eigene Mythologie zu entwickeln; dabei griff er auf die surrealistische Bildsprache zurück, auf die er bei Garcia Lorca gestoßen war. Was den jungen Leonard Cohen jedoch zu einem intellektuellen Vorreiter der Postmoderne werden ließ, war vor allem die Tatsache, dass er sich vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs zwischen Ost und West, des Schicksals der Juden im Nazideutschland und aktueller politischer Geschehnisse wie dem militärischen Engagement der USA in Korea und am Suezkanal einer »Sprache des Herzens« bediente.
Brief
Wie du deine Familie ermordet hast
bedeutet mir nichts
während dein Mund sich über meinen Kopf bewegt
Und ich kenne deine Träume
von einstürzenden Städten und galoppierenden Pferden
von der Sonne, die zu nahe kommt
und der Nacht, die nie endet
doch das bedeutet mir nichts
neben deinem Körper
Ich weiß, dass draußen ein Krieg wütet
dass du Befehle gibst
dass Babys erstickt und Generäle enthauptet werden
Doch Blut bedeutet mir nichts
es ändert nichts an deinem Fleisch
Blut auf deiner Zunge zu schmecken
schockt mich nicht
während meine Arme in dein Haar wachsen
Denk nicht, ich würde nicht verstehen
was geschieht
wenn die Truppen massakriert sind
und die Dirnen umgekommen durchs Schwert
Und ich schreibe dies nur, um dir etwas zu nehmen
dass wenn eines Morgens mein Kopf
triefend neben den anderen Generälen
von deiner Toreinfahrt hängt
Dass mit alldem gerechnet wurde
und damit du weißt, dass es mir nichts bedeutet hat.
© Leonard Cohen
Bereits mit seinen ersten Veröffentlichungen erwies sich Leonard Cohen als Autor, der aus einem ungewöhnlich reichen Sprachschatz schöpfte. Bis heute experimentiert er in seinen Texten mit surrealistischen Bildern, die mitunter zynisch anmuten. Wegen dieses »Zynismus«, der sich durch Cohens gesamtes Werk zieht, bezeichneten ihn Kritiker schon damals als einen »Frankenstein des Wortes«.
Die Texte in Let Us Compare Mythologies kreisen um Themen wie die Frage nach Gott, das Wesen der Frauen und die Melancholie des Dichters. Auch Liebe und Tod spielen in Cohens wortgewaltig entworfener Traumwelt eine Rolle. Stets stellt er dabei jedoch die eigene Person in den Mittelpunkt; denn wie Salvador Dalí in seine Gemälde, so projiziert Cohen sich in all seine Gedichte hinein. Die Rolle des ständigen Beobachters wird dem Wortsüchtigen dabei zur Lebensaufgabe. Außenstehende mögen Cohens Lyrik aus diesem Grund als exhibitionistisch und egozentrisch empfinden; Gleichgesinnte bezeichnen sie als »introvertiert«. Wie der walisische Dichter Dylan Thomas, der ebenfalls eine eigene assoziative Bildsprache entwickelte, so wird auch Leonard Cohen in seinem späteren Werk immer wieder zu den Inhalten und dem Stil seiner ersten literarischen Arbeiten zurückkehren, wenngleich er sich dabei nie wiederholen wird.
»Ich betrachte Worte nie als pittoresk. Man versucht zwar, Kontrolle zu erlernen, aber Kontrolle ist immer etwas Rezeptives und Passives, eher ›beobachtend‹ als ›befehlend‹. Man durchforscht, was durch den Geist wandert, und fragt sich, woher es kommt. Dieses Vorgehen führt unweigerlich zu einer theologischen Diskussion. Ich kann nicht genau sagen, woher ich die Energie für einen Text nehme. Auf jeden Fall ist es nichts, das ich auf Befehl abrufen kann. Normalerweise sind meine Gedanken sehr konfus; immer habe ich Schwierigkeiten beim Schreiben. Aber dann gibt es diese glücklichen Momente, in denen mir plötzlich Verse oder ein ganzes Gedicht oder sogar die Konzeption für ein Buch in den Sinn kommen. Aber wenn es an die konkrete Arbeit des Schreibens geht, sind die Schwierigkeiten meist wieder da.«
Leonard Cohen räumt ein, dass er oft aus einer spontanen Stimmung heraus schreibt. Vor diesem Hintergrund scheinen viele Untersuchungen seiner Texte unter einer theoriebefrachteten Überinterpretation zu leiden. Cohen selbst erklärt: »Es ist wie mit einem Tagebuch. Man führt es, um gedankliche Assoziationen festzuhalten und sich auf diese Weise von ihnen zu befreien, statt sie zu verdrängen. Oft kann ich mich später nicht mehr an die Situation erinnern, in der ein Gedicht entstanden ist. Manche meiner Gedichte erscheinen dem Leser zusammenhanglos. Mir geht es genauso, denn alles Niedergeschriebene ist aus seinem Kontext herausgelöst. Oft weiß ich selber nicht mehr, was ich ausdrücken wollte. Ich glaube, dass die Leute, die meine Gedichte später lesen, ihre eigenen Konflikte hineininterpretieren und ihre eigenen Probleme in meinen Gedichten artikuliert finden. Sie sehen in mir den gequälten, zwiegespaltenen Menschen, der vielleicht in ihnen selber steckt.«
Auch Let Us Compare Mythologies ist ein aus spontanen Stimmungen heraus entstandenes Buch. Die beschriebenen Menschen tragen keine Namen, und die Frauen sind durchweg von großer sexueller Attraktivität. »Schönheit« steht im Mittelpunkt von Cohens Lyrik, und wenn Gewalt dargestellt wird, so ist sie lediglich ein besonders auffällig morbides Element – der Grund, weshalb Leonard Cohen immer wieder der literarischen Tradition der Schwarzen Romantik zugerechnet wird. In »Suzanne« hingegen dreht sich alles um den schönen Körper der Besungenen, den man lediglich berühren muss, um Zugang zu dieser multidimensionalen Traumwelt zu finden. Um Schönheit geht es auch in Cohens frühem Gedicht »Lied«.
Lied
Das nackte weinende Mädchen
denkt an meinen Namen
dreht meinen gebräunten Namen
immer und immer wieder
mit den tausend Fingern
ihres Körpers um
und reibt sich die Schultern ein
mit dem erinnerten Geruch
meiner Haut
Oh ich bin der General in ihrer Geschichte
ich peitsche die großen Pferde
über die Schlachtfelder
in goldene Gewänder gehüllt
Wind auf meinem Brustpanzer
Sonne in meinem Bauch
Mögen sanfte Vögel
sanft wie eine Geschichte für ihre Augen
ihr Gesicht schützen
vor meinen Feinden
und mögen Raubvögel
deren scharfe Schwingen
in metallenen Ozeanen geschmiedet wurden
ihr Zimmer schützen
vor meinen Mördern
Und möge die Nacht sanft zu ihr sein
und hohe Sterne das Weiß
ihres nackten Fleisches bewahren
Und möge mein gebräunter Name
immer ihre tausend Finger berühren
heller werden unter ihren Tränen
bis ich unauslöschlich
wie eine Milchstraße
in ihren geheimen und zerbrechlichen Himmeln stehe.
© Leonard Cohen
Der Erfolg von Let Us Compare Mythologies veranlasste die CBC, eine Filmdokumentation über die kanadische Literaturszene in Auftrag zu geben. Das Ergebnis war der Kurzfilm Six Montreal Poets (1957), in dem neben Louis Dudek, Irving Layton und F. R. Scott auch die Autoren A. J. Smith, A. M. Klein und, nicht zuletzt, Leonard Cohen vorgestellt wurden – ein ungeheurer Erfolg für den gerade 23-jährigen, denn die übrigen Autoren waren bereits zwischen 40 und 60 Jahre alt. Insgesamt acht Gedichte trug Cohen zu diesem Projekt bei, darunter eines, das er schlicht »Poem« (»Gedicht«) nannte, nachzulesen in Let Us Compare Mythologies. Eine Liverezitation enthält die im selben Jahr bei Folkways Records veröffentlichte Schallplatte Six Montreal Poets, auf der Cohen darüber hinaus seine Gedichte »The Sparrows«, »For Wilf and His House«, »Beside the Shepherd«, »Lovers«, »Warning«, »Les Vieux« und »Elegy« vorträgt.
Gedicht
Ich hörte von einem Mann
der Worte so wunderschön aussprechen kann
dass sich Frauen ihm hingeben
wenn er nur ihren Namen sagt.
Wenn ich stumm bin neben deinem Körper,
während das Schweigen wie ein Tumor auf unseren Lippen blüht,
dann deshalb, weil ich höre, wie ein Mann die Treppe heraufsteigt
und sich räuspert vor unserer Tür.
© Leonard Cohen
Zur selben Zeit schrieb Leonard Cohen auch Songs für Bands wie The Stormy Clovers. Größere Aufmerksamkeit erlangte er jedoch mit seiner Poesie, die er, begleitet von einem Pianisten, in mehreren Montrealer Jazzklubs vortrug. Noch immer im Ungewissen über seine Zukunft, doch bestärkt durch seine ersten Achtungserfolge, ließ er sich von seiner Mutter Mut machen. »›Hör auf dein Herz‹, hat mir meine Mutter immer wieder gesagt.«
1957, nach seiner Rückkehr aus New York, brachte Cohen in seine Heimatstadt Montreal etwas mit, das er in der Metropole an der Ostküste erlebt hatte: Jazz-Lesungen. Die erste gab er mit dem Pianisten Maury Kaye in Dünn’s Birdland, einer Kneipe auf der Sainte. Catherine Street. Später, bis 1958, trat er mit einem aus Winnipeg stammenden Gitarristen namens Lenny Breau auf.
Zu jener Zeit, um 1957, wird sich Cohen seiner Depressionen bewusst, ohne dass er sie konkretisieren kann. Seinen Hang zur Introversion schien er geradezu zu kultivieren. Er mochte es, sich und alles zu hinterfragen und andere daran teilhaben zu lassen. Nancy Bacal, eine damalige Freundin (welche später zum Songthema bei »Seems So Long Ago, Nancy« und Opfer eines Suizids werden sollte) erinnerte sich, dass er zu jener Zeit begann, erste Drogenerfahrungen zu sammeln. Ab Mitte der 50er-Jahre konsumierte Cohen Marihuana, die »Sorgenbrecherin« unter den »weichen« Drogen. Im Vergleich zu anderen Rauschdrogen ist Marihuana etwas anders in seiner Wirkung, was auch Cohen herausfand. »Es ist weder eine stimulierende noch eine beruhigende, weder halluzinogene noch narkotisierende Droge. Marihunana sagt man eine Mischung von alldem nach.« Medizinische Tests kamen zum Ergebnis, dass die Bewusstseinshelligkeit gegenüber äußeren Reizen abnimmt. Konsumenten allerdings sprechen von einer Steigerung des Bewusstseins gegenüber inneren Reizen, Sinneseindrücken und Prozessen. Leonard sprach später oft von Eindrücken, die er erhielt, welche sich ihm ohne die Einnahme von Drogen niemals offenbart hätten. »Ich war an Orten meiner selbst, an denen ich zuvor und danach nie wieder war.«
Unter Drogeneinfluss experimentierte Cohen mit Literatur. Später nahm er das Halluzinogen LSD (Lysergsäurediethylamid), eine Droge, die Zeitsinnveränderungen und »Reisen ins Unterbewusstsein« bewirken. Besonders zu dieser Zeit, also zwischen den 50er- und 60er-Jahren, als auch Leonard diese Droge ausprobierte, wurde deren Wirkung wissenschaftlich analysiert. Er erkannte ebenfalls, dass das chemisch hergestellte LSD nicht nur seelische Vorgänge krankhaft umwandelt, sondern auch einzigartige Erlebniswelten im Unterbewusstsein ermöglicht. Analysiert man Leonards frühe literarische Texte, treten auch hier Gefühle mystischer Einheit, Visionen von religiöser Intensität und ein radikales neues Selbstbild zutage, wie z. B. der Spiegel des Breavman in The Favourite Game. Keiner anderen Droge zuvor sprach man eine psychedelischere, bewusstseinserweiternde Funktion zu. Später sah Leonard »die Einnahme von Drogen als Ausweg vor Depressionen.«
Leonard Cohen war nicht der einzige Literat, der mit Drogen experimentierte. »Rimbaud suchte auch die Bewusstseinserweiterung durch Drogenräusche, gleiches tat Kerouac.« Jack Kerouac veröffentlichte 1957 übrigens seinen damaligen Roman On the Road bei Viking Press, wo später auch Leonards The Favourite Game erschien. Cohen experimentierte auch mit Peyote, einer Droge indianischen Brauchtums, die aus den gleichnamigen Kakteen gewonnen wird. Darin enthalten ist das psychoaktiv wirkende Alkaloid Meskalin, das in seiner halluzinogenen Wirkung der des LSD nahe kommt. »Im Gegensatz zu LSD, das eher geschmacklos ist, schmeckt Peyote sehr bitter«, sagte Leonard einmal, »fordert dem Körper aber, ebenso wie LSD, zu viel Tribut ab.«
Leonard war zu jener Zeit zwischen vielen Dingen hin- und hergerissen, sodass es nicht Wunder nimmt, dass er für derartige Rauschzustände zwischen den Welten sehr empfänglich war. So unterlag er einem ständigen Widerstreit zwischen Kunst und Realität, zwischen dem Leben eines Künstlers und dem eines womöglichen Kaufmanns, zwischen den Religionen und Kulturen, für die er sich schon immer interessierte. Viele seiner Freunde sehen in diesen früheren inneren Kämpfen die ersten Symptome seiner späteren manischen Depressionen.
Auch mit seinem alten Freund Irving Layton arbeitete Cohen wieder verstärkt zusammen. Er schrieb Texte für Theaterstücke, die allerdings kaum beachtet wurden. Aus der gleichen Zeit stammt sein bislang unveröffentlichter Roman A Ballet Of Lepers – die Geschichte eines Mannes, der an der Alzheimerkrankheit leidet und irgendwann nicht einmal mehr seine Frau erkennt.
Im Herbst 1958 beschloss Leonard Cohen, nach Europa zu gehen. Eine Entscheidung, die zur Folge hatte, dass er sein Faible für das Reisen entdeckte, und mit der er eine alte Familientradition fortführte: »Mein Großvater war ein wahrer Weltenbummler. Er unternahm Reisen nach Ägypten und ins Gelobte Land. Und mein Onkel, meine Cousine und mein Vater zogen während des Ersten Weltkriegs nach Europa.« Ein Stipendium in Höhe von 1000 Dollar, das Leonard Cohen im April 1959 vom Canadian Council for the Arts im Rahmen eines zwischen Kanada und Großbritannien geschlossenen Abkommens über den Austausch von Autoren bewilligt wurde, half ihm, bei diesem Unterfangen finanziell über die Runden zu kommen. Er bereiste nicht nur Europa (England, Frankreich, Norwegen und Griechenland), sondern mit Marokko auch Nordafrika und später Kuba. Bevor Cohen, der sich nun ebenso in Aufbruchs- wie in Abschiedsstimmung befand, sein Stipendium in London antrat, gab er zusammen mit Irving Layton und F. R. Scott noch eine Lesung, die am 12. November 1959 im New Yorker Hebrew Association Center in der 92. Straße stattfand. Diese Stadt stand übrigens auch für Leonards Liebe Anne Sherman, die er zum Vorbild für seinen Roman und viele seiner Gedichte genommen hatte. »Sie war so schön, dass man sie mit nichts Schönerem vergleichen konnte«, erzählte er damals einem seiner Freunde – sie war ihm eine wahre Muse.
London erwies sich nicht als das, was Leonard Cohen sich unter »Europa« vorgestellt hatte. Weder die englische Küche noch die Menschen noch die dortige Künstlerszene entsprachen dem, was er gewohnt war: »Irgendwie vermisste ich dort jegliche Inspiration.« Aber der Aufenthalt in London hatte auch sein Gutes, denn Cohen erstand dort jenen »famous blue raincoat«, der ihn einige Jahre später zu einem seiner klassischen Songs anregen sollte.
Unterkunft fand er im Haus der Pullmans im Londoner Vorort Hampstead, einer am kanadisch-britischen Austauschprogramm beteiligten Familie, die ihm von seinem alten Freund Morton Rosengarten vermittelt wurde. Rosengarten hatte während seiner Ausbildung zum Bildhauer selbst dort gewohnt. Die Adresse lautete Hampsted High Street 19 B. Cohen beschreibt die Pullmans als »eine äußerst nette Familie, die mich wie ein Familienmitglied behandelte. Mrs. Pullman war außerordentlich streng. Ich musste täglich drei Seiten schreiben. Erfüllte ich mein Soll nicht, ließ sie mich nicht vor die Tür.«
In London lernte Leonard Cohen eine Engländerin namens Elizabeth Kenrick kennen. Aus der Bekanntschaft entwickelte sich eine Liebesbeziehung, die jedoch nicht sehr lange währte und über die zudem kaum etwas bekannt ist – Cohen selbst hüllt sich in Schweigen. Nur Irving Layton, der damals oft Postkarten von Leonard erhielt, erkannte in dem, was ihm sein Freund über London und Elizabeth berichtete, erste Schwärmereien. Bei bloßen Schwärmereien sollte es bleiben, denn London war trotz aller Herzlichkeit, auf die er dort letztendlich noch traf, nicht Cohens »Ding«. Nancy Bacal studierte in London Theaterwissenschaften und durch sie fand er wenigstens Zugang zu Stadt und Menschen. Sie war es auch, die Leonard in das Umfeld von Malcolm X brachte, der ihn nach gegenseitigem Kennenlernen zum Berater seiner zukünftigen Partei nach seiner Machtübernahme machen wollte.
»An einem Nachmittag im Jahr 1960 lief ich im Regen durchs Londoner East End. In der Bank Street blieb ich vor der National Bank of Greece stehen, warf einen Blick hinein und entdeckte hinter einem Schalter einen braun gebrannten Typen, der eine Sonnenbrille trug. Ich ging rein, fragte nach dem Wetter in Griechenland und erfuhr, dass dort gerade die Frühlingssonne schien. Da beschloss ich, nach Griechenland zu gehen.« Innerhalb weniger Tage brach Leonard Cohen seine Zelte ab und entkam auf diese Weise, wie er es im Film Ladies And Gentlemen … Mr. Leonard Cohen formuliert, »der eher tristen Landschaft Londons«.
Nach seiner Ankunft in Griechenland am 13. April 1960 machte Leonard Cohen zunächst in Athen Station, einer Stadt, die ihm von Anfang an nicht fremd erschien, ihm sogar ein gewisses Heimatgefühl vermittelte. »In mancher Hinsicht fühlte ich mich sogar an Montreal erinnert«, fasste Cohen seine ersten Eindrücke später zusammen. »Wahrscheinlich war es die Vielfalt der Kulturen, auf die man dort trifft.«
Schon bald hörte Cohen von der Künstlerkolonie auf Hydra, und nach wenigen Tagen machte er sich auf den Weg dorthin. Autofahren war auf der Insel allerdings nicht erlaubt: »Mulis waren die einzigen Transportmittel.« Was Leonard Cohen an der Insel am meisten fesselte, war die Lebensart der Menschen, die von ihrer Geschichte, Kunst und Religion geprägt war und deren Einfluss sich auch in seinen folgenden Werken widerspiegeln sollte. Obwohl von der Welt der Ägäis fasziniert, versuchte Cohen jedoch, seiner »englischen Regel«, pro Tag drei Seiten zu Papier zu bringen, treu zu bleiben. Er bezog ein Haus etwas außerhalb der Dorfmitte, das eines der wenigen ohne direkten Ausblick auf das Meer war; nur von einem einzigen Fenster aus konnte man es bei gutem Wetter sehen. Die Inneneinrichtung war sehr spartanisch und ist bis heute fast unverändert geblieben. Betritt man das Haus, bemerkt man gleich links im ersten Zimmer einen Arbeitstisch. An der gegenüberliegenden Wand steht ein schmales Bett, und dazwischen, an der Stirnseite, befindet sich ein Fenster, das mit zwei Holzläden verschlossen werden kann und von dem aus man über die Dächer der benachbarten Häuser schaut.
Leonard Cohen traf mit nur wenig Gepäck auf Hydra ein. Darunter befand sich seine Olivetti-Schreibmaschine, die er in London erworben hatte.
Bald nach seiner Ankunft lernte Cohen Marianne Jensen kennen, eine der Frauen, mit der er mehrere Jahre seines Lebens verbringen sollte. Marianne stammte aus Norwegen und war mit dem Schriftsteller Axel Jensen verheiratet. Ebenfalls im Jahr 1960 war sie mit ihm nach Hydra gesegelt und dort hängengeblieben. Hin- und hergerissen zwischen ihrem Ehemann und Leonard Cohen, kehrte sie zunächst nach Norwegen zurück, um wenig später wieder auf Hydra zu erscheinen und die nächsten sieben Jahre mit Cohen zusammenzuleben. Dieser kaufte im September 1960, im Alter von nur 26 Jahren, für 1500 Dollar sein erstes Haus – auf Hydra. Hydra war billig. Leonard konnte dort für 1000 Dollar im Jahr leben, und die Vorschüsse für seine Bücher reichten für ein »leichtes Leben«.
»Marianne und ihren damaligen Mann habe ich nicht nach einem Streit zwischen den beiden kennengelernt, wie gelegentlich behauptet worden ist«, erinnert sich Cohen, der bis zum heutigen Tag immer wieder auf Marianne angesprochen wird. »Zwar habe ich die beiden das erste Mal tatsächlich während eines Streits in einer Bar auf Hydra erlebt; danach aber verließen sie die Bar wieder glücklich Arm in Arm. Ich schaute ihnen nach, wie sie über den Marktplatz gingen, fühlte mich sehr einsam dabei und dachte: Wie glücklich diese beiden Menschen doch sind, dass sie einander haben! In diesem Moment hatte ich wirklich noch keine Ahnung, dass ich fast zehn Jahre mit dieser Frau zusammenleben würde. Später erfuhr ich, dass ihr Mann sich in eine andere Frau, eine Malerin aus Amerika, verliebt hatte und mit ihr auf seinem Schiff nach Athen gesegelt war. Und irgendwie fand Marianne den Weg in meine Arme.«
Marianne Jensen – die blonde Schönheit, von der auf der Coverrückseite von Cohens Album Songs From A Room (1969) eine Ablichtung zu sehen ist, nur mit einem weißen Handtuch bekleidet an seiner Schreibmaschine (eine Olivetti 22, die er für 40 Pfund in London kaufte) sitzend – erscheint auf vielen, zum Teil recht freizügigen Fotos aus jener Zeit. »Marianne brachte zum ersten Mal Ordnung in mein Leben«, bekannte Cohen 1994 in einem Radiointerview der BBC. Sie lebte nach Traditionen, war ebenso Hausfrau wie elegante Dame. »Es war ein großes Privileg für mich, mit dieser Frau in ein und demselben Haus zu leben. Sie hatte keine leichte Kindheit gehabt. Während des Kriegs war sie bei ihrer Großmutter auf dem Land aufgewachsen; vielleicht rührte daher ihr hausfrauliches Talent. Was mich so für sie einnahm, war zum Beispiel die Art, wie sie das Besteck auflegte. Meine Arbeit brauchte damals einen solchen Gegenpol. Aber ihre Aktivität war nicht nur auf diese ›weiblichen‹ Tätigkeiten beschränkt. Sie war einfach die Muse, sie war die Sonne für den Dichter. Allen Ginsberg hat es einmal mit den Worten ›Sex is the sport of the young‹ auf den Punkt gebracht.«
Zunächst versuchte Cohen, ein geregeltes Schriftstellerleben auf Hydra zu führen. Abgesehen davon, dass er täglich drei Seiten mit neuer Lyrik oder Prosa füllte, überarbeitete er seine alten, zuvor teilweise in verschiedenen Zeitschriften erschienenen Texte noch einmal. Zu ihnen zählt auch »For Anne«, ein Gedicht, in dem er sich mit der zeitweiligen Trennung von seiner ersten großen Liebe auseinandersetzt und das dem seelischen Schmerz und jener Trauer Ausdruck verleiht, die einen großen Teil seines späteren Werks prägen sollte.
Für Anne
Ohne Annie neben mir,
wessen Augen soll ich vergleichen
mit der Morgensonne?
Nicht, dass ich es je tat,
doch jetzt tue ich’s –
jetzt, da sie fort ist.
© Leonard Cohen
Aber auch Gewalt und deren Umfeld – Grausamkeit und Zynismus, die scheinbar im Widerspruch zu Liebe und Empfindsamkeit stehen –, begannen für Cohen literarisch zunehmend ein bearbeitungswürdiges Feld zu werden. Ein Beispiel dafür ist sein Gedicht »The Failure of a Secular Life«:
Das Scheitern eines weltlichen Lebens
Der Schmerzenmacher kam nach Haus
Nach einem schweren Foltertag.
Er kam nach Haus mit seinen Zangen.
Er stellte seine schwarze Tasche ab.
Sein Weib trat ihm mit einem offenen Nerv entgegen
Und einem Schrei, den die Branche nie gehört.
Er sah sich ihr waschechtes Dachau an
Wusste, seine Karriere war ruiniert.
Was gabs da noch zu tun?
Er verkaufte seine Tasche, seine Zangen,
Ging kaputt. Ein Mann muss
seiner Frau was bieten können.
© März Verlag
Im Frühjahr 1960 schickte Cohen ein erstes Manuskript seiner »griechischen« Gedichte an den New Yorker Verlag McClelland & Stewart (der ein Jahr später sein Buch The Spice-Box of Earth veröffentlichte), und gegen Ende des Jahres flog er nach Montreal, um seine Freundschaft mit Irving Layton aufzufrischen. Die Wiederbegegnung mit dem alten Freund führte zu einem »Co-Writing« an mehreren Theaterstücken – eine Zusammenarbeit, in deren Verlauf Cohen seine in London und auf Hydra eingeübte Schreibdisziplin zugute kam. An fünf Tagen in der Woche, so der Plan von Cohen und Irving, wollten sie jeweils vier Stunden an ihren Bühnenwerken schreiben. Das Ergebnis waren neben dem 1977 in der Canadian Theatre Review abgedruckten A Man Was Killed (ein Bühnenstück in sechs Akten) drei weitere, bislang unveröffentlichte Werke, Enough of Fallen Leaves, Lights on the Black Water und Up with Nothing.
Bis Anfang 1961 blieb Leonard Cohen in Montreal. Für das nächste Jahr hatte er sich vorgenommen, mit Irving Layton zusammen nach Griechenland zu gehen. Zuvor jedoch unternahm er eine Reise nach Kuba, von der er im August 1961 nach Hydra zurückkehrte. Dort bewohnte er das kleine, im Vorjahr gekaufte Haus, das sich bis heute in seinem Besitz befindet. »Zunächst wollte ich es nur für zehn Tage mieten, schließlich blieb ich fast zehn Jahre dort.« Hydra sollte von nun an Cohens Fluchtburg sein. Die Insel ermöglichte ihm und Marianne, anders als Montreal und New York, ein alternatives und ruhiges Leben, über das bis heute kaum Näheres an die Öffentlichkeit gedrungen ist.
Die erneute Verleihung eines Stipendiums des Canada Council of the Arts, diesmal für die »Gewürzdose«, brachte Leonard Cohen 1961 noch einmal rund 1000 Dollar pro Monat ein. Er schrieb weiterhin Gedichte, nahm aber zugleich die Arbeit an seinem 1958 begonnenen Roman Beauty at Close Quarters. An Anthology wieder auf, der schließlich unter dem Titel The Favourite Game erscheinen sollte.
Das nicht gerade abwechslungsreiche gesellschaftliche Leben auf Hydra wurde durch Kontakte mit ebenfalls dort lebenden Künstlern wie zum Beispiel George Johnston bereichert, aber auch durch Besuche von Dichtern wie Allen Ginsberg, die häufiger einmal auf der Durchreise vorbeikamen. Ebenso dürfte die von Cohen immer wieder eingestandene Liebe zu einem Glas guten Rotweins ihm den Aufenthalt auf Hydra versüßt haben. In Kuba hatte er zudem angefangen, Haschisch zu rauchen – eine Neigung, der er auch auf Hydra nachgab.
Seine Eindrücke und Erlebnisse auf Hydra ließ Leonard Cohen in The Favourite Game noch einmal Revue passieren. Um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, bot er diversen Magazinen einzelne Romankapitel zum Vorabdruck an. Auf dieselbe Weise fand er auch eine Strategie, seine Lyrik einem größeren Publikum bekanntzumachen. Doch nicht bei allen Zeitschriften stieß er mit seinen Texten auf Gegenliebe; der Playboy etwa schickte sie ihm zurück, andererseits erhielt Cohen vom Cavalier 750 Dollar für einen Vorabdruck.
Im Frühsommer 1962 stattete Leonard Cohen seiner zwischenzeitlich nach Norwegen zurückgekehrten Lebensgefährtin Marianne Jensen einen Besuch ab. Auf der vierwöchigen Rückreise, die ihn im Mai per Schiff von Oslo in die nordgriechische Hafenstadt Patras führte, entstanden viele der Gedichte, die er 1964 in den Band Flowers For Hitler aufnahm.
Anlässlich der Veröffentlichung seines ersten Romans The Favourite Game in den USA machte Cohen im Oktober 1963 auf seiner Reise nach Kanada in New York Zwischenstation, um einen mit 500 Dollar dotierten ersten Preis der CBC entgegenzunehmen, die einen Wettbewerb für junge kanadische Autoren ausgeschrieben hatte. Den Winter 1963/1964 verbrachte er in Montreal. Erst im Januar 1965 kehrte er für einen längeren Aufenthalt nach Griechenland zurück, wo er bis zum Februar 1966 blieb.
Als Leonard Cohen Anfang April 1961 von den Unruhen in Kuba hörte, beschloss er umgehend, nach Havanna zu fliegen. Schon 1959 war Fidel Castro an die Macht gekommen, und Cohen wollte sich das Resultat der sozialistischen Revolution unbedingt ansehen. Seinem Freund Irving Layton gegenüber, der ihn in seinen Briefen immer wieder auf die Gefahren hinwies, die mit einem Aufenthalt in Kuba verbunden waren, begründete er die Reise damit, dass »mich auf einmal eine ungeheure Sehnsucht nach Gewalt überkam«. Im März 1961 flog er von Miami/Florida nach Havanna. »Es war Neugier und Abenteuer zugleich und sollte ›mein‹ Spanischer Bürgerkrieg im Sinne Lorcas werden.« Cohen liebte es, in Khakihose und -hemd und Dreitagebart durch Havanna zu streunen und die von Zuhältern und Prostituierten ausgestrahlte Atmosphäre aufzusaugen. Zuhause allerdings machte man sich Sorgen. Sein Verlag McClelland & Stewart wusste nicht, wo er die Druckfahnen von The Spice-Box of Earth zur Durchsicht hinschicken sollte, und seine Mutter ließ sogar über die Botschaft nach ihm suchen. Niemand wusste, dass er überdies kurzzeitig inhaftiert war, weil man in ihm einen Spion vermutete. Doch Cohen harrte selbst dann noch in Kuba aus, als am 15. April der Militärflughafen von Havanna bombardiert wurde und zwei Tage später am 17. April die Invasion in der Schweinebucht begann. Innerhalb von zwei Tagen landeten etwa 1500 vom US-amerikanischen CIA ausgebildete kubanische Konterrevolutionäre an, von denen binnen kürzester Zeit 1200 in Gefangenschaft gerieten. Mit dem von einem beißenden Sarkasmus geprägten Gedicht »The Only Tourist in Havana Turns His Thoughts Homeward«, in dem er seine kubanischen Eindrücke schilderte und das in den 1964 erschienenen Gedichtband Flowers For Hitler Eingang gefunden hat, machte Cohen seinen Gefühlen Luft. Von der Faszination des Gedankens, »selbst zu töten oder getötet zu werden«, ist in diesem Gedicht keine Rede mehr. Cohen interpretiert seinen Aufenthalt in Kuba nun weniger als Ausdruck seiner persönlichen Suche nach Gewalt, sondern stellt ihn, indem er sich selbst als »lebendes Denkmal« eines irrenden US-Imperialismus präsentiert, in einen politischen Kontext.
Der einzige Tourist in Havanna wendet seine Gedanken heimwärts
Kommt, meine Brüder,
wir wollen Kanada regieren,
wir wollen unsere ernsten Köpfe finden,
wir wollen Asbest abwerfen über dem Weißen Haus,
wir wollen die Franzosen zwingen, Englisch zu reden,
nicht nur hier, sondern überall,
wir wollen den Senat Mann für Mann foltern, bis sie gestehn,
wir wollen die New Party säubern,
wir wollen die farbigen Rassen unterstützen,
damit sie nett sind,
wenn sie ans Ruder kommen,
wir wollen der CBS Englisch beibringen,
wir wollen uns alle in eine Richtung lehnen
und hinuntertreiben
zur Küste Floridas,
wir wollen Tourismus haben,
wir wollen mit dem Feind flirten,
wir wollen Roheisen einschmelzen in unsren Hinterhöfen,
wir wollen Schnee verkaufen
an unterentwickelte Nationen,
(Stimmt es, dass einer unsrer nationalen Führer
Katholik war?)
wir wollen Alaska terrorisieren,
wir wollen Kirche und Staat vereinen,
wir wollen uns nicht unterkriegen lassen,
wir wollen zwei Generalgouverneure
auf einmal haben,
wir wollen eine neue offizielle Landessprache haben,
wir wollen bestimmen, welche es sein soll,
wir wollen eine Canada Council Fellowship
für den originellsten Vorschlag vergeben,
wir wollen die Eltern Sex in den eignen vier Wänden
lehren,
wir wollen drohen, uns den USA anzuschließen
und im letzten Moment aussteigen,
meine Brüder, kommt,
irgendwo warten unsre ernsten Köpfe auf uns
wie im Stich gelassene Diplomatenköfferchen
nach einem Staatsstreich,
wir wollen sie ganz schnell aufsetzen,
wir wollen eisernes Schweigen wahren
auf dem Sankt-Lorenz-Seeweg
© März Verlag
Niemand ahnte, welchem Zufall Leonard in den damaligen Wirren die Ausreise aus Kuba verdankte. Alle Flüge aus Kuba in Richtung USA waren ausgebucht oder wurden storniert. Ein Erinnerungsfoto mit zwei Milizsoldaten und ihm im militärisch anmutenden Khaki-Outfit wurde ihm am 26. April 1961 sogar noch zum Verhängnis, als sein Name von der Ausreise- und Bordliste des nächsten abgehenden Fluges gestrichen wurde. Stattdessen wurde ein anderer aufgerufen. Seine Bewacher abgelenkt, reagierte er geistesgegenwärtig und nahm den Platz des nicht erschienenen Aufgerufenen ein und reiste aus.
Am 3. Mai 1961 war Leonard Cohen noch einmal in Montreal, wo sein zweites Buch The Spice-Box of Earth gefeiert wurde. »In Kuba habe ich versucht, die Welt im Sturm zu erobern«, erinnerte er sich später. »Das war zugleich das Motiv für die meisten meiner Aktivitäten. Ich dachte, dass sich mir irgendwann die Chance bieten würde, dem Universum meinen Stempel aufzudrücken. Aus diesem Grunde habe ich die verschiedenen Bewegungen und Veränderungen genau verfolgt, um gegebenenfalls meine Chance zu nutzen.
Dennoch war Cohen keineswegs unzufrieden mit dem, was in Kuba vorging. »Ja, und dazu stehe ich noch immer. Für mich ist Leiden nie eine politische Frage gewesen, obwohl ich zugeben muss, dass bestimmte politische Systeme mehr Leid erzeugen als andere. Auf der anderen Seite ahnte ich immer, dass Leiden keinen politischen Ursprung hat, dass ihm etwas Tiefergehendes zugrunde liegt, das der menschlichen Natur innewohnt. Ich glaube nicht an politische Meinungen. Sie interessieren mich auch nicht, ich selber ändere sie häufig. Ich war nie ein besonderer Anhänger von Meinungen, nicht einmal damals in Kuba. Zu einer bestimmten Zeit war jeder französische Intellektuelle auch Maoist, als wäre China eine Alternative zur Industriegesellschaft! Diese Positionen waren absurd, all diese Gedankenspeicher völlig entleert. Die Linke hat nur in Frankreich und in Italien überlebt, wo Ideen wie die des Kommunismus noch eine reale Bedeutung haben. Diese Ideen waren einmal attraktiv, aber das waren die der Bibel auch. Mich selbst haben messianische Ideen seit jeher fasziniert. Die Idee einer menschlichen Bruderschaft, einer mitfühlenden Gemeinschaft von Menschen, die im Dienste einer Sache leben, hat mich immer angezogen.«
Hatte Leonard Cohen mit Let Us Compare Mythologies, der 1956 in geringer Auflage erstmals veröffentlichten und im Jahr 1966 neu aufgelegten Sammlung seiner ersten Gedichte, noch den individuellen Sozialisationsprozess eines von verschiedenen Kulturen geprägten Jugendlichen beschrieben, so dokumentiert sein Lyrikband The Spice-Box of Earth (1961) die Weiterentwicklung eines talentierten Jungpoeten; das Buch fand in den USA und in England allerdings erst 1965 beziehungsweise 1973 einen Verlag. Cohens semi-autobiografischer Roman The Favourite Game hingegen kam 1963 im Londoner Verlag Secker & Warburg und bei Viking Press in New York heraus. In Kanada konnte man sich nicht so recht damit anfreunden, dass dieser Lyriker auch Prosa schrieb – The Favourite Game wurde dort erst 1970 veröffentlicht.
Mit The Spice-Box of Earth bewies Leonard Cohen jedoch erneut, dass er eine Ausnahmeerscheinung in der kanadischen Literaturszene darstellte, und auch jenseits der Grenzen Kanadas fand der Gedichtband Beachtung. Cohen zeigte sich darin zwar noch als eher »konservativer« Lyriker, der sich an traditionellen Gedichtstrukturen orientierte, aber die Kritiker waren mit Lobeshymnen sofort zur Stelle und zeigten sich von der bildhaften Sprache des 27-jährigen Poeten ebenso beeindruckt wie von seiner literarischen Vielseitigkeit.
Der dem Andenken an Leonard Cohens Großeltern gewidmete Band entführt den Leser schon mit dem ersten Gedicht, »A Kite Is A Victim«, in eine Welt der Mystik. Der junge Dichter geht in die Tiefe, seziert seine Gedanken und teilt dem Leser seine Ergebnisse mit.
In seinem Gedicht »Untersuchung über das Wesen der Grausamkeit« (»Inquiry into the Nature of Cruelty«) heißt es: »Eine Motte ertrank in meinem Urin / Ihr mehliger Körper endlich seidenglatt / Meine Augen glitzerten in der Porzellanschüssel / Wie winzige tanzende Krematorien. / Die Geschichte ist auf meiner Seite, sagte ich entschuldigend / Während ihre Flügel kreisten im Sog / (Wäre sie nicht in Urin gebadet gewesen / Ich hätte sie gerettet, damit der Wind sie trocknet).« In »Das Genie« (»The Genius«) verarbeitet er ein weiteres Mal den Widerspruch zwischen Religiosität und Liebe auf der einen Seite und seiner Abneigung gegenüber Traditionen auf der anderen. Und in den Anfangszeilen eines schlicht mit »Song« betitelten Gedichts formuliert er das Programm der sexuellen Revolution der späten 60er-Jahre, lange bevor es Realität wurde: »Wenn mich Lustgefühle übermannen / Dann lenk’ ich mich ab mit meinen Büchern […] / Ich werfe die heiligen Bücher hin / Und lasse meine Blicke schweifen […] / Ich lebe mit dem sterblichen Geräusch / Von Fleisch auf Fleisch im Dunkeln.« Noch deutlicher wird Cohen mit der Beschreibung einer Fellatio in seinem Gedicht »Celebration«:
Fest
Wenn du unter mir kniest
und in deinen beiden Händen
meine Männlichkeit wie ein Zepter hältst,
Wenn du deine Zunge um
das Bernstein-Juwel windest
und nach meinem Segen verlangst,
versteh ich jene römischen Mädchen
die um eine Säule aus Stein tanzten
und sie küssten, bis der Stein warm war.
Knie, Liebste, tausend Fuß unter mir,
so weit, dass ich kaum Mund und Hände sehen kann,
wie sie die Zeremonie vollziehen,
Knie, bis ich auf deinen Rücken falle
mit einem Stöhnen, wie jene Götter auf dem Dach,
das Samson einriss.
© Leonard Cohen
Im Oktober 1963 erscheint The Favourite Game, Leonard Cohens erster Roman, der schon bald ins Deutsche, Dänische, Französische, Italienische und Spanische übersetzt wird. Das Werk wird von der Literaturkritik nationenübergreifend sehr positiv aufgenommen und sogar mit James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man und Thomas Manns Doktor Faustus verglichen. Die New York Times würdigt das 244 Buchseiten füllende Porträt eines jungen Künstlers der 60er-Jahre mit den Worten, Cohen sei damit nicht nur »ein Roman über die Jugend auf der Suche nach Zielen« gelungen, er habe darüber hinaus auch eine neue Romanform geschaffen.
In The Favourite Game ist all das eingeflossen, was Leonard Cohen bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hat. Zugleich gibt der Roman Auskunft darüber, auf welche Weise er diese Erfahrungen verarbeitet hat. Das Grundthema bildet Cohens Abrechnung mit den starren Traditionen seiner Vergangenheit. So schreibt er in Buch II/19 der deutschen Erstausgabe des einstigen März Verlags:
»Manche sagen, dass keiner Montreal je ganz verlässt, denn diese Stadt, wie Kanada selbst, ist dazu bestimmt, die Vergangenheit zu bewahren, eine Vergangenheit, die sich anderswo ereignet hat.
Diese Vergangenheit wird nicht in den Gebäuden oder Denkmälern bewahrt, die leicht dem Profitstreben zum Opfer fallen, sondern im Bewusstsein seiner Bürger. Die Kleider, die sie tragen, die Berufe, die sie ausüben, sind nur modische Verkleidungen. Jeder Mann spricht in der Zunge seines Vaters. Genau so, wie sie nicht Kanadier sind, so sind sie auch nicht Montrealer. Frage einen Mann, wer er ist, und er nennt seinen Volksstamm. So ändern sich zwar die Straßen schnell, die Silhouetten der Wolkenkratzer klettern vor dem St.-Lorenz-Strom empor, aber das ist irgendwie unwirklich, und keiner glaubt es, weil es in Montreal keine Gegenwart gibt, nur die Vergangenheit beansprucht ihre Siege. Breavman floh aus der Stadt.« © März Verlag
Ein weiteres zentrales Thema sind Leonard Cohens erste Erfahrungen mit Sex und Liebe. In Buch III/11 kann man lesen:
»Breavman dachte die ganze Zeit an sie, aber er empfand keine Begierde nach ihr. Das war neu. Er dachte an ihr Dasein ohne Verlangen. Sie lebte, ihre Schönheit existierte, sie zog eben ihre Handschuhe an, strich ihr Haar zurück oder schaute mit ihren riesigen Augen einen Film an. Er wollte seine Fantasiebühne nicht niederreißen und sie von ihrem dunklen Romandasein erlösen. Sie war da. Sie war in der Stadt oder in irgendeiner Stadt, irgendeinem Zug, einem Schloss oder Büro. Er wusste, dass ihre Körper sich aufeinander zubewegen würden. Das zum Mindesten. Er hielt sich nicht für einen Liebenden. Er wusste, sie würden Mund an Mund liegen, glücklicher, sicherer, wilder als je zuvor.« © März Verlag
Schon in The Favourite Game deutet sich an, dass Leonard Cohens Liebe zu Frauen nur in der Theorie vollkommen ist; in der Praxis kann er als Mensch und Autor nur überleben, wenn er »sie« verlässt. Dass Cohen seinen ersten Roman in der dritten Person schrieb, ist vielsagend: Mit diesem technischen Zug wollte er die autobiografischen Bezüge kaschieren. »Ihn [den Roman] in die dritte Person zu ändern, war eine schwere Entscheidung für mich. Ich glaube, es geschah mit dem dritten Entwurf, einfach um Distanz zu finden. Aber ich denke, dass es ein Fehler war. Die erste Fassung besaß eine gewisse besondere Lebendigkeit.«
Lässt man den Namen des Hauptprotagonisten, Breavman, auf sich wirken, klingen gleich zwei Bedeutungen durch: zum einen »brave« wie tapfer und zum anderen so etwas wie »breathe«, also atmen, im Sinne von durchatmen. Lawrence Breavman ist beides. Er atmet durch, um sein Leben einzuatmen, zu inhalieren, und er schreitet tapfer hindurch, durch etwas, von dem er nichts weiß. Lawrence Breavman ist also Leonard Cohen auf dem Weg zum Erwachsenwerden, geprägt von Begegnungen, geprägt von Sinnlichkeit, Sex und Frauen. Ulrich Rüdenauer spricht in seiner Rezension für den WDR 3 im Hinblick auf die 2009 erneut ins Deutsche übersetzte Neuauflage von einer »Poesie des Aufbruchs«. »Die Sprache beansprucht eine jugendliche Sinnlichkeit. Sie ist schwärmerisch, ohne Rücksicht auf Konvention oder auf eine strenge Form. Sie ist poetisch, ohne dabei ins Kitschige abzugleiten«, so Rüdenauer weiter, wenn er Cohen/Breavman durch das Montreal der 50er- und das New York der 60er-Jahre begleitet. Oft hat man Cohen gefragt, ob er nicht einmal eine Autobiografie schreiben wolle. Warum sollte er? Dieses »Abenteuer« hat er doch schon längst mit diesem Buch realisiert. Schließlich endet das Buch mit einem Hinweis, dass Breavman einmal ein Gitarrist werden würde, dem viele Menschen ihre Aufmerksamkeit schenken.
Mit seinem Gedichtband Flowers For Hitler stieß Leonard Cohen um 1964 bei den Kritikern auf weniger Gegenliebe. Die Rezensenten bemängelten die Wiederholung von bereits Gesagtem und sprachen von der Vergeudung eines bereits anerkannten literarischen Talents. Sie wollten von Figuren/Personen wie Hitler, Goebbels und Göring nichts mehr hören, über Sex und Drogen nichts lesen, die Literatur der jungen Gegenkultur Nordamerikas nicht akzeptieren. Sie konnten oder wollten sich auf die Welt, in der Cohen sich bewegte – zwischen Europa und Amerika, Krieg, Marihuana und Orgasmen –, nicht einlassen. Die Kritiker wollten nicht erkennen, was Cohen meinte, wenn er – wie zuvor schon in seinem Gedicht »Lovers« (in: Let Us Compare Mythologies) – erklärte, der Holocaust sei noch immer »allgegenwärtig«. Vielleicht hätte Cohen Blumen für Hitler tatsächlich in »Sonnenschein für Napoleon« oder »Mauern für Dschingis Khan« umbenennen sollen, wie er in »A Note on the Title« ironisch anmerkt.
Mit Beautiful Losers (Schöne Verlierer), seinem 1966 veröffentlichten zweiten Roman, gelang Leonard Cohen jedoch ein allseits akzeptiertes »Konglomerat« seiner bisherigen literarischen Arbeit. Diesmal fielen die Kritiken durchweg positiv aus. Auch wenn das Werk von einigen Rezensenten als Beschreibung einer »perversen« Dreiecksbeziehung getadelt wurde, priesen es die meisten hingegen als die Beschreibung einer »ménage à trois« schlechthin. Doch Beautiful Losers lässt sich auch anders lesen: als »kanadische Anthropologie« im Sinne der Beschreibung des gesamten Erfahrungsschatzes dieses Landes oder als historische Beschreibung der politischen Unterdrückung der nicht zuletzt aufgrund ihrer Sprache benachteiligten französischen Minderheit Kanadas. (Noch heute sprechen nur 25 Prozent der Einwohner Französisch, während 40 Prozent Englisch sprechen – beide sind Amtssprachen. Nur 1 Prozent der Bevölkerung ist jüdischer Abstammung.)
»[…] arme Tagelöhner die wir die Welt auf unseren Knien schrubben das ist wirklich Prosa das ist das tägliche Mysterium ich setze in Keilschrift Gesicht Mund der Sphinx ein denn meine Zunge war nur ein Testspiel auf dem rosigen Loch der Sphinx ich stelle meinen Mund nur auf Gespräche ein nagende saugende Anbetung Scheißgefahr Liebesmut auf zu auf zu macht die Oberfläche Blütenblätter schließen sich um das Öffnen ihrer eigenen kleinen Muskelwände zu fühlen in schrecklicher Preisgabe rot verzweifelt wie die Kehle eines Vögelchens oh Edith Arschhäutchen keucht der ganze Speichel meines Mundes badend sich putzend flatternd in einem sonnigen Vogelbad auf einer Säule barmherzigen Mitgefühls wo bin ich jetzt jetzt geh nicht weg hier bin ich einfach mit meinem Gesicht zwischen ihren Arschbacken die Hände auseinandergezogen haben mein Kinn tut automatisch der Fotze Gutes nun lass ich die Backen los sie klemmen mich ein ich klemme mich ein ich zerquetsche meine Nase versiegele die Säfte Kinderspiele mit Scheiße im Sinn […]«. © März Verlag
Auch diesmal stellt Cohen wieder die Frage nach Wesen und Art eines Heiligen, wer und wie der »Neue Jude« ist. Ein »Konglomerat« ist Beautiful Losers, weil Cohen verschiedene Sprachstile und -formen verwendet. Lyrik und erzählende Prosa werden durch Briefe, Artikel, Fußnoten und geradezu filmische Sequenzen ergänzt – Verweise auf Stars wie James Dean oder Marilyn Monroe zeigen Cohens Liebe zum Film.
Schon auf den ersten Seiten des Romans erfährt der Leser, was mit den Personen geschehen wird; anschließend beschreibt der Autor die Beziehungen der Charaktere zueinander. Auf die Frage von Thomas Lasarzki, ob es ihm eher darum gehe, wie etwas passiert, als darum, was passiert, antwortete Cohen, er habe in dieser Hinsicht zunächst »überhaupt kein Konzept« gehabt, sondern das Buch »in einer Art Fieber« geschrieben. »Im Unterbewusstsein muss ich gewisse Vorstellungen gehabt haben, aber es wurde auf eine sehr gewagte Weise geschrieben. Und ab einem bestimmten Punkt bewegte ich mich in eine falsche Richtung.« Cohen hatte ursprünglich 30 bis 40 Seiten geschrieben, die er vernichtete, nachdem er erkannt hatte, dass er in eine Sackgasse geraten war.
»Das war ein großes Zugeständnis. Ich musste also zu dem Punkt vor diesen 30 bis 40 Seiten zurückkehren und von vorn beginnen. Mit der Gewissheit des Unbekannten, sich einfach Tag für Tag vorwärts zu bewegen. Es war mehr ein Akt des Suchens als ein Konzept. Ich war sehr zuversichtlich, dass ich dieses Werk vollenden konnte, aber ich wusste nicht, wie ich es Tag für Tag gestalten sollte. Ich spürte nur, dass es sich, wenn ich jeden Tag daran arbeitete und konzentriert am Thema blieb, entwickeln würde. Wenn ich nur lange genug an der Geschichte dranblieb, würde sie eine organische Gestalt annehmen. Ich spürte, dass es da diese Geschichte der Catherine Tekakwitha gab und ihre Beziehung zu den Gelehrten der Neuzeit, die sich mit ihr beschäftigt haben. Ich musste nur die alte und die neue Zeit zueinander in Bezug bringen. Die beste Studie über diesen Roman stammt übrigens von einem kanadischen Dichter und Kritiker namens Dennis Lee. Sie ist in dem Buch Savage Fields erschienen, eines der besten mir bekannten Werke der Sekundärliteratur.«
Catherine Tekakwitha war eine Indianerin, die Leonard Cohen, indem er ihre Geschichte in den Roman aufgenommen hatte, dazu diente, den autobiografischen Aspekt zu relativieren. »Am Stadtrand von Montreal gab es ein Indianerreservat namens Cauganawaga, ein Reservat der Mohawk-Indianer. Mein Vater nahm mich als Kind oft mit dorthin. Das hatte eine besondere Bedeutung für mich. Hinzu kommt, dass einen, wenn man in Nordamerika groß wird, die Cowboy-Indianer-Mythologie prägt. Außerdem schienen mir die Indianer immer als die auf eine ganz besondere Weise unterdrückten Menschen Nordamerikas. Das sind einige Momente, die mich dazu bewogen haben, mich für diese Geschichte zu entscheiden.«
»Alle meine Arabesken sind für die Öffentlichkeit bestimmt«, notierte Cohen in Beautiful Losers – ein Bekenntnis, das sein im Oktober 1966 veröffentlichter Lyrikband Parasites Of Heaven bestätigte. Viele der Gedichte aus diesem Band stammen aus den Jahren 1957 und 1958, andere waren ganz offensichtlich Erfahrungen entsprungen, die Cohen in der Zwischenzeit mit Haschisch und Marihuana gemacht hatte und die wohl nur von Lesern mit eigener Drogenerfahrung nachzuvollziehen sind. Die meisten erinnern an die assoziative Prosa von Beautiful Losers. Aus manchen dieser Gedichte wurden später Songs, so zum Beispiel aus den damals noch unbetitelten Texten »Avalanche«, »Master Song«, »Suzanne« und »Teachers«. In allen deutete sich jedoch schon die Richtung an, die Cohen nun einschlagen sollte: die eines Dichters, der in mitunter rätselhaften Bildern die Anfänge jener neuen Generation zeichnete, die man später die erste Pop-Generation nennen sollte.
Leonard Cohens Selected Poems 1956–1968, im Jahr 1968 gleichfalls von McClelland & Stewart verlegt, war wieder eine Sammlung zuvor bereits veröffentlichter sowie neuer Gedichte – in diesem Fall 20; Anlass dieser Publikation war das Erscheinen von Cohens erstem Songalbum. Die Auswahl für den Band traf Marianne Jensen, eine Ehre, die Cohen keiner anderen Frau mehr zuteil werden ließ. Das Buch entwickelte sich in den USA und in Kanada zu einem Bestseller, der binnen Kurzem eine zweite und dritte Auflage erlebte. Innerhalb von drei Monaten wurden von diesem Werk mehr als 200 000 Exemplare verkauft. Anfang der 70er-Jahre wurde es darüber hinaus in mehrere europäische Sprachen übersetzt und Leonard Cohen von zahlreichen namhaften Zeitungen als »Autor, Sänger und Songwriter« hoch gelobt. Doch obwohl Cohen im Jahr 1972 mit The Energy Of Slaves einen weiteren Gedichtband folgen ließ, war er aufgrund des Erfolgs seiner ersten Platte mit dem Ruf des »Rockpoeten« geschlagen.
The Energy Of Slaves, ursprünglich unter dem Arbeitstitel Songs Of Disobedience (Lieder des Ungehorsams) entstanden, dokumentierte den Wandel, der in Leonard Cohens Lyrik vonstatten gegangen war. Hatten in seinen ersten beiden Büchern noch Mythologien und im dritten das Thema der Entmenschlichung den Inhalt seiner Texte bestimmt, und war im vierten an die Stelle einer eher distanzierten Beschreibung von Historie und Gesellschaft ein »subjektiver« Ton getreten, so hatte Cohen mit seinem fünften Gedichtband geradezu eine Art Gegenlyrik geschaffen. Wieder trugen die Gedichte keine Titel, stattdessen hatte sie der Autor schlicht von »1« bis »116« durchnummeriert. Fast konnte man meinen, Cohen habe es aufgegeben, den Dingen Namen zu geben. Er schrieb nun nicht mehr, »um ein Lächeln in das Gesicht einer Frau zu zaubern«, sondern um das Lachen der Frau seiner einstigen Träume, Suzanne, wiederzufinden. Was er fand, waren Gefühle des Zorns, der Verlorenheit und unverblümte Selbstironie – als sei er aus dem Gelobten Land vertrieben, ins Ägypten des Alten Testaments zurückgejagt und auf die »Energie von Sklaven« zurückgeworfen worden. Unverkennbar war vor allem, dass Cohen nun vornehmlich für sich selbst und erst in zweiter Linie für ein Publikum schrieb.
Das Gedicht »95« gibt die Stimmung wieder, in der sich Leonard Cohen in den Jahren 1971 und 1972 befand:
Liebe ist ein Feuer
Es verbrennt jeden
es entstellt jeden
Es ist ein Vorwand für die Welt
hässlich zu sein
© Zweitausendeins
In Gedicht »27« bekennt Cohen:
Ich ließ eine Frau wartend zurück
Ich traf sie später wieder
sie sagte, deine Augen sind tot
Was ist mit dir geschehn mein Lieb
Und weil sie mir die Wahrheit gesagt hatte
versuchte ich, aufrichtig zu antworten
Was mit meinen Augen geschehen sein mag
das ist mit deiner Schönheit geschehen
Leg Dich zur Ruh mein treues Weib
sagte ich recht grausam ihr
Was mit meinen Augen geschehen sein mag
das ist mit deiner Schönheit geschehen
© Zweitausendeins
Leonard Cohen attackiert und verteidigt, klagt an und verurteilt – meist sich selbst. Er macht Vorwürfe (Gedicht »15«: »Hast du je unter mir gestöhnt / Jungfrau der Betäubung«) und Eingeständnisse (Gedicht »27«: »Ich ließ eine Frau wartend zurück«), bilanziert Erfolge und Verluste, hält sich und seiner Geliebten den Spiegel vor und lässt Dritte das Bild betrachten; denn sie sind es, die letztlich urteilen sollen über den »Sklaven«, der alles verloren zu haben scheint. In Gedicht »5« fasst er zusammen:
Dich entzücken alle Männer
Wenn du dies jemals liest
Denk an den Mann der es geschrieben hat
Um deinetwillen hat er die Welt gehasst.
© Zweitausendeins
In »112«, einem der letzten Gedichte des Bandes, zeigt sich der Künstler zwar noch immer desillusioniert, aber zugleich auch versöhnlich. Er konstatiert seine »Berufung zum Propheten«: »Die Mystiker haben wohl doch recht / wenn sie sagen wir sind alle Eins«.
Leonard Cohens Lyrik und seine Songs deuten nach Ansicht vieler Kritiker auf den Einfluss von Charles Baudelaire oder Jean Genet hin. Aber weit näher stehen Cohen wohl Beat-Autoren wie Allen Ginsberg oder Frank O’Hara, den der 1975 verstorbene deutsche Dichter Rolf Dieter Brinkmann, ein intimer Kenner der literarischen Beatszene, in der von ihm mitherausgegebenen legendären Anthologie Acid (März Verlag, 1969) mit einem Zitat charakterisiert, das auch aus Leonard Cohens Feder hätte stammen können: »Werde ich liederlich, als sei ich eine Blondine? Oder religiös, als sei ich ein Franzose?«
Literaturwissenschaftlich gesehen ist Cohen demnach ein Vertreter der amerikanischen Gegenkultur der späten 50er- und frühen 60er-Jahre. Sozialwissenschaftlich betrachtet greift seine Lyrik zersetzende Gedanken im Sinne Herbert Marcuses auf, dem Theoretiker der Subversivität. Dabei ist Cohens subversive Lyrik fast zeitlos, da sie unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsform alles Bestehende infrage zu stellen oder gar umzustürzen versucht und damit einen Teil der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft widerspiegelt. Die subversive Fantasie, die in dieser Lyrik zum Ausdruck kommt, beschwört die Erinnerung an das Glück und eine in ihr enthaltene Hoffnung – die Hoffnung, das Glück wiederzufinden, die sich auch in Cohens Bereitschaft zeigt, stets aufs Neue Leiden dafür in Kauf zu nehmen. Cohen nimmt anhand von Visionen individuell wahr, erfährt, empfindet und leidet, weil er sich selbst nur noch im Leiden als Ich erfahren kann. Seine Visionen eröffnen ihm zunächst einen Weg, seinen »Melancholismus« positiv und nicht als etwas Störendes oder Negatives zu empfinden. Aber sie sind für ihn auch eine Form der Meditation, in der er sich ausleben kann. Cohens Lyrik offenbart eine Melancholie, die aus der Ohnmacht des Individuums gegenüber der Gesellschaft entsteht und zugleich eine Lösungsperspektive bietet: die Gleichzeitigkeit der Ablehnung von und des Festhaltens an Traditionen, Wertvorstellungen und gegebenen Strukturen: »Dies Lied mach ich für dich / Herr der Welt / dem alles eigen ist auf dieser Welt / außer diesem Lied« (aus: The Energy Of Slaves).
Allein hierin liegt also begründet, warum Leonard Cohen der Schwarzen Romantik ebenso wie der Beatgeneration zugerechnet wird. Zum einen schreibt er in der Haltung der kulturpessimistischen Atmosphäre des späten 19. Jahrhunderts, zum anderen bietet er mit seinen Texten einen gedanklichen Nährboden für die Beatgeneration. Er macht den »Beats« mit seinen paranoiden, schizophrenen, paradoxen und suizidlüsternen Bildern und aufgrund seiner rein individuellen Erfahrung eines in Melancholie mündenden Ohnmachtsgefühls lediglich – und, wie gesagt, rein zufällig – das Angebot, die herrschende Ordnung zu zerstören.
Eine andere als die primär schöngeistige Definition von Kultur ist diejenige vom Wesen der Kultur als all das, was dem menschlichen Individuum erlaubt, sich der Welt, der Gesellschaft, dem eigenen Erbe und den eigenen Traditionen gegenüber zu behaupten, und somit alles, was dem Menschen ermöglicht, seine Existenz zu begreifen, um sie unter Umständen verändern zu können. Kultur kann mithin auch die Entwicklung eigenständiger Lebensformen sein, die den sozialen und materiellen Erfahrungen des Individuums Ausdruck verleihen. Diese Eigenständigkeit erfordert aber auch die Bereitschaft des Individuums, Widerstand zu leisten, womit aus Kultur »Gegenkultur« und, im Falle von Cohens Lyrik, »Anti-Lyrik« wird, eine Art Neuerschaffung von Kultur.
Leonard Cohens Lyrik ist ein Paradebeispiel für diese »Neuerschaffung«. Ähnlich wie die Beatprotagonisten Allen Ginsberg, Gary Snyder und William Burroughs setzt Cohen mit seinen frühen Texten alles daran, die traditionelle Ordnung zu zerstören, auch wenn er diese Destruktion nicht leichtfertig propagiert, sondern in gewisser Hinsicht sogar bedauert. Die ihm dennoch notwendig erscheinende Zerstörung wird in seinen Gedichten zum beherrschenden Thema. Cohens »Heilige« sind dabei die Personifizierung eines Leidenswegs und der Vernichtung des Ichs; am deutlichsten wird dies in den beiden Gedichten »It Swings Jacko« und »The Cuckold’s Song« aus The Spice-Box of Earth. Aber auch mit formalen Mitteln treibt Cohen das Werk der Verheerung voran, indem er – was sich nicht zuletzt anhand vieler der in diesem Buch vorgestellten Gedichte nachvollziehen lässt – traditionelle lyrische Formen und Strukturen radikal demontiert. Der Autor Stephen Scobie, der bereits 1978 in seiner schlicht Leonard Cohen betitelten Analyse von Cohens Texten anmerkte, dass »die Rolle des Anti-Dichters nie etwas anderes als die eines Paradoxons sein kann«, unterstreicht diesen Befund mit seiner Aussage, jedes Gedicht, das die Dichtung per se angreift, mache aus Kultur »Gegenkultur«. Aber Scobie merkt gleichfalls kritisch an, dieses Unterfangen sei »always less successful in its aim the more successful it is in its execution«. (Scobie weigert sich übrigens, eine aktualisierte Neuauflage seines Buchs herauszubringen, weil er der Meinung ist, dies sei nicht notwendig, da sich Cohens Lyrik bis heute nicht verändert habe.)
Die Subversivität Leonard Cohens zeigt sich auch in Gedichten, in denen er nicht von Heiligen, sondern von Lehrern und Schülern, Meistern und Sklaven spricht, wie etwa in dem zunächst im Band Flowers For Hitler und 1968 auf seinem Debütalbum auch als Song veröffentlichten Text »Teachers«.
Lehrer
Ich traf eine Frau vor langer Zeit
Ihr Haar war schwarz, so schwarz wie keins.
»Bist du ein Lehrer des Herzens?«
Leise sagte sie »Nein«.
Ich traf ein Mädchen überm Meer
Ihr Haar war golden, wie Gold nur glänzt.
»Bist du ein Lehrer des Herzens?«
»Ja – aber nicht für dich.«
Ich traf einen Mann, der verlor seinen Geist
An einem verlorenen Ort, den ich finden musste,
»Folge mir«, sprach der weise Mann
Aber er ging hinter mir.
Ich kam in ein Krankenhaus
Wo keiner krank war und keiner gesund.
Als zur Nacht die Schwestern fort waren
Konnt’ ich nicht mehr gehen.
Der Morgen kam, und dann kam der Mittag,
Essenszeit, ein Skalpell
Lag neben
Meinem Silberlöffel.
Manche Mädchen treten aus Versehen
In den Schmutz, den Skalpelle hinterlassen.
»Seid ihr der Lehrer meines Herzens?«
»Wir lehren alte Herzen brechen.«
Eines Morgens wachte ich auf allein
Das Krankenhaus, die Schwestern fort.
»Hab’ ich mein Messer gut geführt?«
»Kind, du bist aus Bein.«
Ich aß und aß und aß
Nein, ich ließ keinen Teller aus,
»Nun, was kosten die Mahlzeiten?«
»Wir halten uns schadlos mit Hass.«
Ich vergab meinen Hass überall
Für jede Arbeit, für jedes Gesicht.
Jemand gab mir Wünsche frei
Und ich bat um eine Umarmung.
Manches Mädchen umarmte mich,
Dann wurde ich von Männern umarmt.
»Ist meine Leidenschaft vollkommen?«
»Nein, tu es noch einmal.«
Ich war schön und ich war stark
Ich kannte die Lieder und die Worte.
Gefiel dir mein Gesang?
»Nein, die Worte, die du sangst, waren falsch.«
Wer ist es, den ich anrufe?
Wer schreibt auf, was ich gestehe?
»Seid ihr die Lehrer meines Herzens?«
»Wir lehren alte Herzen ruhen.«
»Ihr Lehrer, sind meine Lektionen gemacht?
Ich kann nicht weiterlernen.«
Sie lachten laut und sagten:
»Nun, Kind, sind deine Lektionen gemacht?
Sind deine Lektionen gemacht?
Sind deine Lektionen gemacht?«
© Leonard Cohen
»In ihrer fantastischen, surrealen Bildhaftigkeit unterlaufen die Antworten jede vernunftmäßige Zweckbestimmung«, stellt Hans-Peter Rodenberg in Subversive Fantasie. Untersuchungen zur Lyrik der amerikanischen Gegenkultur 1960–1975 zutreffend fest, denn »Antworten« sind bei Leonard Cohen in Wahrheit immer neue Rätsel. Rodenberg fügt hinzu, sie glichen »damit den Koans, die die Zen-Meister ihren Jüngern stellen, um deren ichbezogene Denkstrukturen daran zerbrechen zu lassen«. Wenn Cohen also die Frage beantwortet, ob die Lektionen gelernt sind, so tut er dies nicht nach den Gesetzen der Logik. Vielmehr »zielt [die Antwort] auf die Änderung der undeterminierten Erfahrung selbst ab« (Rodenberg). Cohens »Lektionen« öffnen damit das Tor zu einer neuen Wirklichkeit. »Wenn der Protagonist sich dabei zudem am Ende seiner Kräfte sieht (›Ich kann nicht weiterlernen‹), deutet er damit jenen Zustand der psychischen Verzweiflung an, der in der Unterweisung im Zen meist kurz vor dem des Satori steht.« Das Satori bezeichnet jene Phase im Lernprozess eines Zen-Schülers, in der es, wenn das Bewusstsein ausgelöscht ist und das Unterbewusstsein an seine Stelle tritt, zu einer Verschmelzung von Außen und Innen, zum sogenannten Samadthi, zur Versenkung kommt. Dieses Satori kommt bei Cohen jedoch nie zustande. Er sucht weiter, nicht frei von zynistischen Anflügen: »Child, you ’ve just begun« (Parasites Of Heaven).
»St. Leonard« findet den Erfolg also im ständigen Scheitern. Er wird im fortwährenden Versuch, die bestehenden Regeln zu durchbrechen und so zur allumfassenden Erfahrung zu kommen, zum »schönen Verlierer«. Nur in der Freiheit des Ichs wird der Verlierer dann zum Gewinner. Verwunderlich daran ist, dass Cohen mit der Vernichtung des Ichs einen hohen Preis zahlt; paradoxerweise erhält man dafür keinen Gegenwert, außer den des kontinuierlichen Prozesses selbst. Um das Gleichgewicht zwischen gegenwärtiger Frage (die drohende Vernichtung) und greifbarer Antwort (die rettende Erleuchtung) zu beschreiben, verwendet Cohen stets wiederkehrende Bilder. Im Song »Stories Of The Street« lehnt sich der Erzähler über den Fenstersims hinaus, in »Teachers« legt er ein Skalpell neben den Silberlöffel. Die Zurückweisung der profanen Alltagserfahrungen, die die materielle Welt zu bieten hat, gipfelt in Cohens Texten entweder im Suizid oder in sexueller Ekstase, die beide als Auflösung des individuellen Ichs erfahren werden.
Der »Master Song« (auf dem Album The Songs Of Leonard Cohen) ist dafür ein typisches Beispiel: In einer sexuellen Meister-Schüler-Beziehung sind drei Personen miteinander verbunden. Cohen ist »sick in bed«, während eine anonym mit »you« angesprochene weibliche Person, die ihn als Gefangenen hält, von einem Meister instruiert wird, der selbst ein »schöner Verlierer« ist. In Cohens »Master Song« wird der Meister zum Schüler, der Schüler zum Gefangenen, der Gefangene zum Meister – eine Rollenumkehr, die mit der Wiederholung der ersten Strophe am Ende des Lieds gleichsam erneut stattfindet. Zum Akt der Liebenden gehört also eine dritte Person. Die transzendierende »sainthood« ist erreicht, wenn die klar umrissene Form der Zweierbeziehung gestört wird. »Sie« werden der »andere«. Die Vernichtung des Ichs spiegelt sich im allgegenwärtigen Geschlechtstrieb wider. Für den, der sich dessen bewusst wird, ist es demzufolge leicht, in »eine« oder »die« Melancholie zu verfallen, die Leonard Cohen irrtümlicherweise oft nachgesagt wird. Schon Freud hatte die Regression der Libido ins Ich als Charakteristikum der Melancholie beschrieben. Damit einher gehen Interesselosigkeit für die Außenwelt und eine Herabsetzung des Selbstwertgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und -beschimpfungen äußert und in der wahnhaften Erwartung von Bestrafung endet.
Ein weiteres damit verbundenes Paradoxon findet sich in Cohens Liebeslyrik, wenn er etwa in The Favourite Game schreibt, er wisse erst, dass er sich mit ihr getroffen habe, »when I see a woman transformed by the orgasm we have reached together […]. Anything else is fiction.« Der Orgasmus ist die Lösung und dient als Gegenpol zur Verlorenheit des Individuums in Melancholie. Doch diese Lösung ist nur von kurzer Dauer. »I had it for a moment«, schreibt Cohen in Flowers For Hitler – das Gefühl der im Orgasmus erreichten Nähe löst sich in nichts auf.
»Alle zentralen Themen der Lyrik Cohens finden sich schließlich in ›You Have the Lovers‹ (The Spice-Box of Earth) vereinigt«, fasst Rodenberg zusammen, »die Liebenden als ›saints‹, die den normalen Wert der Individualität überwunden haben, in eine andere Ebene jenseits der erfahrbaren Realität eingetreten sind, und ein Protagonist, der zu ihnen als ›disciple‹ kommt, um seine Initiation in der Ekstase ihrer sexuellen Vereinigung zu erfahren.
Finden wir in den Gedichten Cohens so eine tantrische ekstatische Einheit im Liebesakt als Transzendenz der physischen Realität von Trennung und Leiden betont, so dominiert in den Songs, wie zum Beispiel in ›You Know Who I Am‹, ›So Long, Marianne‹ oder ›Hey, That’s No Way To Say Goodbye‹, die Problematik des Fremdseins, der nur kurzen temporären Begegnung.« Die Trennung zweier Liebender betrachtet Cohen als einen natürlichen Prozess. Sie ist für ihn kein Anlass zur Traurigkeit, sondern Grund zur Erinnerung »an das gemeinsame Erlebnis, das sie mit der Welt in Verbindung gebracht hat«. Dies ist der »Gnadenzustand«, von dem Cohen in The Favourite Game spricht. Dort befindet sich »St. Leonard« im Gleichgewicht des existenziellen Chaos.
In »Suzanne«, seinem wohl bekanntesten Lied, illustriert Leonard Cohen dieses Konzept von Weltablehnung, Ich-Vernichtung und sexueller Transzendenz, indem er seine mystische Idee einer Verschmelzung von Außen und Innen, Körper und Geist, Realität und Surrealität anhand einer konkreten Situation nachvollziehbar macht. Bereits mit der ersten Zeile zeichnet er dort das Bild einer anderen, friedlicheren Welt als unserer irdischen alltäglichen, von Disharmonie geprägten: »Suzanne takes you down to her place near the river …« Verstärkt wird der Traumcharakter dieses poetischen Bildes dadurch, dass der Dichter seine Suzanne als »halb verrückt« bezeichnet und von ihr sagt, ihr Tee und ihre Orangen kommen aus dem fernen China. Mit den Zeilen »And just when you mean to tell her / That you have no love to give her / Then she gets you on her wavelength / And she lets the river answer / That you’ve always been her lover« löst sich das »you« – das Ich des Sängers – ebenso auf wie seine Beziehung zu dieser feenhaften Suzanne. Die Auflösung findet jedoch nicht in einem Liebesakt statt, sondern auf einer höheren spirituellen Ebene: »… for he’s touched your perfect body with his mind«.
Denkt man Rodenbergs Interpretationsansatz weiter, erkennt man in der Zeile »And Jesus was a sailor« nicht nur biblische Referenzen – Jesus, der auf dem Wasser wandelt (Matthäus 14,25), seine Jünger als Seelenfischer (Lukas 5,10) –, sondern auch Bezüge zu Baudelaires »Bateau Ivre«, Bob Dylans »Ship Of Fools« oder jenem »mittelalterlichen Narrenschiff, auf das mit beginnender Exterritorialisierung der wahnhaften Erfahrung aus dem gesellschaftlichen Erlebnisbereich die zu Geisteskranken erklärten Individuen verbannt wurden«. Legt man bei der Interpretation des Songs vor allem letztere Deutung zugrunde, erschließt sich zugleich der nicht immer auf Anhieb erkennbare »Leidensaspekt« in Cohens Lyrik, der hier eine geradezu programmatische Dimension erhält. Jesus wird als gebrochener Mensch geschildert (»But he himself was broken […] / Forsaken, almost human«), der erst spricht, als er sicher weiß, dass ihn nur Ertrinkende sehen können (»And when he knew for certain / Only drowning men could see him«). Denn »nur nach Verlust der ordnenden, begrenzenden Struktur des Selbst im Leiden [wird] jene gemeinsame archaische Ebene verfügbar […], auf der die definierende (und dadurch trennende) Ordnung der äußeren Realität nicht mehr erlebt, sondern nur noch innere Einheit über den psychischen Prozess der narzisstischen Identifikation mit ihr erfahren wird. Die psychische Regression im selbstquälerischen Leiden wird hier erneut als eine Voraussetzung transzendenter Erfahrung, das heißt der ›sainthood‹, herausgestellt und mit einer religiösen Aura versehen«, beschreibt Rodenberg.
In der dritten und letzten Strophe des Songs stellt Cohen sein Konzept von Weltablehnung und Selbstauflösung des Individuums infrage, indem er ihm die poetische Schilderung eines (körperlichen oder geistigen) Orgasmus entgegenstellt. Der Sänger (»you«) erlebt ihn, weil Suzanne in der Gestalt eines Hippiemädchens fleischgeworden ist. »Der Spiegel, den Suzanne ihm entgegenhält, ist weniger in seiner Bedeutung als Vanitas-Motiv zu deuten, als dass er den Liebenden auf sich selbst zurückwirft und ihn seine sinnliche Schönheit erkennen lässt«, schreibt Rodenberg und stellt fest, dass Cohen hier das Hippiemädchen als Inkarnation der sich in Innerlichkeit und Sexualität vollendenden »sainthood« feiert: »In schon bekannter Manier kehrt sich die anfängliche Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen ›Suzanne‹ und dem ›you‹ um, beide treffen sich im Lebenszusammenhang der Hippiekultur zu einer die Realität transzendierenden Einheit psychischer und physischer Art.« Kein Wunder also, dass Leonard Cohen mit diesem Song genau das Lebensgefühl der damaligen Hippiejugend traf, die auf der Suche nach neuen Zielen und Lebensformen war.
Wer jedoch aufgrund der zahlreichen politischen Anspielungen in Leonard Cohens bilderreicher Poesie auf ein gesellschaftliches Engagement oder eine Parteinahme des Dichters schließt, befindet sich auf einem Irrweg, denn diese sind anhand Cohens Werk kaum belegbar. Leonard Cohen stand der Politik ebenso reserviert gegenüber wie den traditionellen Welterklärungssystemen der Philosophen. Zwar lässt sich aus seinen Texten – von Flowers For Hitler bis »First We Take Manhattan« (auf dem Album I’m Your Man) oder »Democracy« (The Future) – ein politisches Interesse herauslesen, doch nie bezog Cohen eindeutig Position. Allenfalls machte er sich, wie etwa in seinen Gedichten »All There Is To Know About Adolph Eichmann« und »Folk«, über den Sadismus der Nazis (den er in »A Migrating Dialogue« auch als ein amerikanisches Phänomen beschreibt) auf eine geradezu makabre Weise lustig.
Cohen war in der Lage, die ihn umgebende politische Gewalt zu erkennen und ihre Auswüchse anzuprangern, nicht jedoch, ihr entgegenzutreten. Sein Gedicht »The Only Tourist In Havana Turns His Thoughts Homeward« (Flowers For Hitler) macht deutlich, dass er sich eher von der Welt abwandte. Er besuchte die Insel während der Kuba-Krise und nahm ihre politische Realität wahr, doch seine potenziell vorhandende Bereitschaft zu einer Parteinahme verendete in einer »Handlungshemmung«. Nicht ohne Grund nannte ihn ein Kritiker der New York Times deshalb einen »Anarchisten, dem es unmöglich ist, eine Bombe zu werfen«. Die »sainthood«, die nur in körperlichem oder geistigem Orgasmus erreicht werden kann, lässt politische Stellungnahmen nicht zu. Cohens persönliches Credo läuft darauf hinaus, zu erkennen, was vorgeht, sich dessen bewusst zu werden und sich dann zu verweigern, um den Dingen ihren Lauf zu lassen. Besonders deutlich wird diese distanzierte Haltung in seinen 1978 und 1984 veröffentlichten Werken Death Of A Lady’s Man und Book Of Mercy.
Allen Texten Leonard Cohens ist jedoch eines gemeinsam, wie bereits Michael Ondaatje in seinem 1970 bei Cohens Verlag McClelland & Stewart veröffentlichten Bändchen Leonard Cohen resümiert und richtig erkannt hat: »Der Schwerpunkt liegt nicht in dem, was Leonard Cohen sagt, sondern wie er es sagt.« Gleichgültig, ob wir Cohen damit ernst nehmen oder uns über ihn amüsieren – ihn selbst kümmert es nicht. »Er hat die Maske so oft aufgesetzt und wieder abgenommen, dass sie ein Teil von ihm geworden ist.« Wenn auch nur, um über sich selbst lachen zu können. Vielleicht ist es nur eine von Cohens Visionen, man könne selbst mit den Masken umgehen.
Als endlich etablierter, wenn auch nicht unumstrittener Autor konnte Leonard Cohen von seiner Kunst gut leben. Bereits 1964 verdiente er mit seinen Veröffentlichungen und Lesungen 7000 Dollar. Weitere 4000 Dollar erhielt er als Hauptpreisträger in einem Wettbewerb für englischsprachige Literatur, dem Prix Littéraire du Québec. Dieser war mit einer Lesetournee verbunden, die Cohen zusammen mit Earle Birney und Phyllis Gotlieb sowie seinem alten Freund Irving Layton absolvierte. Aus dem auf dieser Reise gedrehten Filmmaterial entstand unter dem Titel Ladies And Gentlemen … Mr. Leonard Cohen das schon mehrfach erwähnte Porträt der damaligen Literaturszene Kanadas. Der 1965 vom National Film Board of Canada veröffentlichte und sich weitgehend auf Leonard Cohen konzentrierende Film, wie der Titel nahelegt, zeigt den Alltag des Dichters – wie er frühmorgens aufsteht, in Hotelzimmern seinen Gedanken nachhängt, sich in Restaurants bewirten lässt und durch die Straßen von Toronto und Montreal läuft.
Für Freunde der frühen Literatur Leonard Cohens sind vor allem seine während einer Lesung vorgetragenen oder im Off rezitierten Gedichte echte Live-Raritäten.
Was den Film zudem interessant macht, sind Leonard Cohens Äußerungen zu Sex, sein Versuch, als Vegetarier zu leben, und seine Lebensphilosophie, die er noch 30 Jahre später in Interviews mit ganz ähnlichen Worten erläutern sollte. Sein wohl am häufigsten vorgetragener philosophischer Gedanke, den er in diesem Film im Zusammenhang mit dem I-Ging präzisiert, lässt erkennen, dass er sich bereits damals eingehend mit fernöstlichen Religionen beschäftigt hatte: »Der Gnadenzustand ist die innere Balance, aus der heraus man das Chaos beschreibt, das man um sich herum vorfindet. Es geht nicht darum, eine Lösung für das Chaos zu finden, denn es wäre ziemlich arrogant, die Welt verbessern zu wollen. Aber es ist eine Möglichkeit, der Wirklichkeit zu entfliehen.«
Der mit Unterstützung vom Verlag McClelland & Stewart entstandene Schwarz-Weiß-Film beginnt mit einer Lesung. Cohen steht mit weißem Hemd, dunkler Krawatte, Pullover und schwarzem Ledersakko bekleidet und mit seinem Buch unter den Arm geklemmt vor einem gebannt lauschenden Publikum. Der Film macht rasch deutlich, dass hier Gegenwart und Vergangenheit eines Künstlers anhand seines literarischen Werks präsentiert werden sollen. Der Kommentator schildert – anhand von alten Fotos und Filmen und unterstützt von zahlreichen O-Tönen – Leonard Cohens Kindheit und Jugend. Man erlebt den Dichter auf gemeinsamen Lesereisen mit Freunden wie Irving Layton, erfährt, wie er während seiner Zeit in den Montrealer Hotels drei Dollar für ein Zimmer zahlte, er pro Jahr 750 Dollar aus einer Erbschaft erhielt, die ihm den Lebensunterhalt sicherte, und er in der Tat das Leben eines Bohemiens führte. Leonard Cohen stand damals spät auf, zündete sich zunächst eine Zigarette an, nahm einen ersten Drink, ließ sich viel Zeit für seine Rasur und pflegte auch im Übrigen das Image jenes Dichters, über den die kanadische Presse urteilte, er sei »the finest poet of his generation«, auch wenn der so Gelobte über sich selbst urteilte, er sei lediglich »infinitely wild and without direction«.
Erstmals bekommt man auch Fotos von Leonard Cohens damaliger Lebensgefährtin Marianne und Bilder von Hydra zu sehen. Darüber hinaus gibt Cohen kleine Anekdoten zum Besten, begründet, warum er kein Fleisch isst, und erläutert in einer mit fünf Teilnehmern – unter ihnen Irving Layton – besetzten Talkrunde zur kanadischen Literaturszene seine Definition des »Gnadenzustands«. Dann begleitet ihn das Filmteam in Aufnahmestudios, wo er seine Texte ins Mikrofon spricht, und in die Kaffeehäuser von Montreal, wo er mit Bekannten und Freunden trinkt und diskutiert. Nicht zuletzt dank der verwendeten privaten Filmaufnahmen von Cohens Vater, die mit O-Tönen von Cohens Gedichtrezitationen oder einem Off-Kommentar unterlegt sind, bekommt man ein Bild von Kindheit und Jugend des Autors.
Mit seinem Gedicht »Twelve O’Clock Chant«, das Leonard Cohen, sich selbst auf der Gitarre begleitend, vorträgt, zeigt er sich erstmals auch als Sänger. In weiteren Szenen steht er im Mittelpunkt von Gesellschaftsabenden, stets umringt von Freunden und Freundinnen, »unter denen immer sehr attraktive Frauen waren«, wie er im Film bekennt, um sich gleich darauf über die sexuelle Anziehungskraft von Frauen auszulassen. »Viele Frauen sind für mich sexuell sehr attraktiv. Glücklicherweise ist Sexualität ›Allgemeingut‹, wofür wir auf Knien danken müssten. Denn erst wenn ein Mann die Gunst einer Frau empfängt, gehört sie ihm. Darunter verstehe ich die wundervolle Großzügigkeit der Frauen und des Schöpfers, der es so eingerichtet hat, dass es keine einseitigen Abkommen über Sexualität gibt.«
Schon in diesem Film wird Leonard Cohen als Stimme seiner Generation bezeichnet, als jemand, der dieser Generation zuhört, erkennt, was sie zu sagen hat und dies in eine künstlerische Form kleidet. Der Kommentator resümiert: »Dichter zu sein ist demzufolge kein Beruf, sondern ein Opfer.« Leonard Cohen berichtet über seine Schul- und Universitätsjahre, und der Zuschauer erfährt mehr über seine Arbeitstechnik: »In kleinen Notizbüchern, die ich überall mit mir herumtrage, halte ich meine Gedanken fest.« Fünf Stunden am Tag widme er sich dem Schreiben, erklärt er, »meistens bei Nacht, in erster Linie für mich selbst, mit Tinte und Feder auf weißen A4-Bögen«.
»In erster Linie für mich selbst« kam es 1961 wohl auch zu Leonard Cohens »Invasion« in der Schweinebucht. »Der wahre Grund dafür«, gesteht er im Film, »war mein starkes Interesse an Gewalt – Interesse an den Gedanken eines Mannes, der Waffen trägt, um einen anderen zu töten. Ich interessierte mich für den gedanklichen Prozess, den ein Mann durchmacht, bevor er tötet. Diese Umschreibung kommt meinem Motiv sehr nahe. Der wahre Grund aber war, dabei selbst zu töten oder getötet zu werden. Was ich nicht bedacht hatte, waren die Konsequenzen dieser Gefahr. So gab ich das Motiv wieder auf.«
Denselben Gedanken formuliert Cohen nicht nur in seinem Gedicht vom »einzigen Touristen in Havanna«, sondern auch in der selbstironischen Einleitung, die er ihm während einer Lesung vorausschickt: »Dieses Gedicht habe ich in Havanna geschrieben, als Kämpfer auf beiden Seiten.«
Der Film endet mit einer Szene, die später am Anfang der 1972 gedrehten Tourneedokumentation Bird On A Wire stehen wird: Cohen schaut sich die gedrehten Szenen an, kommentiert sie und trägt anschließend sein Gedicht »The Music Crept By Us« vor. Der Erfolg des Films verstärkte seine zunehmende Popularität, zugleich festigte diese sein Image als Enfant terrible der kanadischen Literaturszene und brachte ihm nicht zuletzt weitere kleine Aufträge vom National Film Board of Canada ein.
Seine Popularität nutzend und vom Wunsch beseelt, mehr Menschen mit seiner Literatur bekanntzumachen, kündigte Leonard Cohen noch für dasselbe Jahr sein nächstes Werk an, einen ursprünglich Plastic Birchbark, später The History of Them All. A Pop Gothic Novel und schließlich Beautiful Losers betitelten Roman, den er 1964 in Kanada begann und 1965 auf Hydra unter nicht eben optimalen Bedingungen beendete: »Eine große Beichte wollte ich schreiben, verrückt, pornografisch, humorvoll und spannend zugleich und trotzdem unter Beibehaltung eines konventionellen Schreibstils.« Doch eine Sonnenallergie und Fieberanfälle fesselten Cohen für fast zwei Monate ans Bett. Hinzu kam, dass einer seiner Freunde wegen Drogenkonsums in Athen inhaftiert worden war und Cohen sich um seine Freilassung bemühte.
»1965 war eines meiner schlechtesten Jahre. Ich hasste mich selbst und sah das Schreiben von Beautiful Losers als eine Charakterprüfung an. Ich sagte mir, wenn ich nicht schreibe, bin ich es nicht wert zu leben. Aufgeputscht durch Haschisch und andere leichte Drogen brachte ich es auf bis zu 20 Stunden am Tag, an denen ich an Beautiful Losers schrieb. Außerdem ließ ich mich durch nichts anderes ablenken als von dem, was in dem Raum war, in dem ich schrieb.« Neben seinem Bett, dem Schreibtisch und einem Stuhl waren dies nur einige Bücher, darunter ein damals schwer erhältliches Werk über Catherine Tekakwitha, das ihm seine Freundin Alanis Obamsawin in Montreal ausgeliehen hatte, sowie ein amerikanischer Comic mit dem Titel Blue Beetle (eine frühe Version des Spider Man) und ein Radio – »die einzige menschliche Stimme zur damaligen Zeit«. Im April 1965 hatte Cohen Beautiful Losers beendet. Er schickte das Manuskript an seinen Verleger, der ihm jedoch nahelegte, es an mehreren Stellen umzuschreiben. Erst im März 1966 war der Roman druckreif und wurde noch im selben Frühjahr veröffentlicht.
Seit seiner Rückkehr aus Griechenland hatte Leonard Cohen wieder mit Lesungen begonnen. So trat er am 14. Februar 1966 mit Irving Layton im Hebrew Association Center in New York auf, wo er bereits Ende der 50er-Jahre Gedichte vorgetragen hatte. Unter anderem stellte er hier vor: »There! Done! Dear Old Friend«, »What Bravado Impelled Me«, »You Plagued Me Like The Moon«, »Now It Is Time For Edith To Run« (Kapitel aus Buch I und II des Romans Beautiful Losers) sowie die Texte »You All in White«, »For E. J. P.«, »You Have The Lovers« und »The Stranger Song«.
Als Cohen davon erfuhr, dass die Regisseure Otto Preminger, Ulu Grosbard und Alexander Cohen zusammen mit der Firma MCA planten, Beautiful Losers zu verfilmen – vermutlich waren sie beeindruckt durch die Erstauflage von 120 000 Exemplaren –, reagierte er enthusiastisch. Schließlich war er von dem Medium Film ungemein fasziniert, und auch Beautiful Losers enthielt viele Filmzitate. Doch das Vorhaben scheiterte.
Noch im selben Jahr legte Cohen seinen Gedichtband Parasites Of Heaven vor, in dem Selbstanalyse und Vergangenheitsbewältigung einer unverhohlenen Egozentrik gewichen waren. Einer der sämtlich unbetitelten Texte liest sich:
»Ich werde dir sagen, warum ich gern allein sitze: Weil ich ein Sadist bin; deshalb sitzen wir gern allein, weil wir Sadisten sind, die gern allein sitzen […]. Und jetzt bist du in der mathematischen Abteilung deiner Seele, von der du behauptet hast, du hättest sie nie gehabt. Ich nehme an, dass dir das und das gebrochene Herz, die Überzeugung eingibt, du hättest jetzt das gute Recht, loszugehen und die Sadisten zu zähmen […]. Selbst wenn wir unseren Fall sehr einleuchtend vortragen und alle, die unserer Meinung sind, uns zu Hilfe kommen, alle zusammen: Wir wären trotzdem noch sehr wenige …«
Leonard Cohen hatte seinen Weg gefunden. Mochte er sich auch selbst über seine künftige Rolle noch im Unklaren sein, so umschrieb Louis Dudek in seiner Anthologie Poetry of Our Time. An Introduction to Twentieth-Century Poetry Including Modern Canadian Poetry sie zutreffend mit den Worten, Cohen gehöre »einer neuen Generation« an: »Einer Generation, die Avantgardisten, Straßen- und Kneipenmusiker und Popstars vereint. Einer Generation, die die Beatniks, die Beatles und die ›Boîtes à chanson‹ beinhalten wird. Einer Generation, die für Leonard Cohen wie geschaffen zu sein schien, weil er sich keiner dieser Typologien zuordnen ließ und doch zu allen dazugehörte.«