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II. Akt Vom Underground-Literaten zum Rockpoeten

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Erwähnt man heute den Namen Leonard Cohen, fällt fast immer der Titel seines wohl berühmtesten und einflussreichsten Songs. Denn wie jeder populärer Vertreter der Rockgeschichte, so hat auch Cohen seine »Hymne«; bei ihm heißt sie »Suzanne«. Von keinem Cohen-Song existieren mehr Coverversionen, und es gibt kaum ein Konzert, in dem sein Autor ihn nicht selbst vorträgt.

Die Episode, auf der der Text beruht, ist schon oft, aber nicht immer vollständig erzählt worden. Hinweise zur Entstehung des Songs finden sich in zahlreichen Interviews, die Cohen gegeben hat, aber auch auf der Cover-Rückseite seines Albums The Greatest Hits von 1975. Um die Pointe der Geschichte vorwegzunehmen: Nicht um einen Song für Cohens (spätere) Liebe Suzanne Elrod handelt es sich, sondern um ein Lied für eine Tänzerin, die er 1963 in Montreal kennenlernte. Der Nachname dieser »ersten« Suzanne lautete Verdal. Ihr ist der weniger bekannte Text »Suzanne trägt einen Ledermantel« gewidmet, den Cohen im Jahr 1963 schrieb und 1966 in Parasites Of Heaven veröffentlichte: die Hommage an eine Frau mit zahlreichen Amouren, in der die Gefahr beschworen wird, die von einer Femme fatale in Gestalt einer Frau im Ledermantel ausgeht.

Suzanne trägt einen Ledermantel.

Ihre Beine sind versichert durch viele Brücken, die sie

hinter sich abbrach.

Ihre Waden sind prall wie Spinnaker

in voller Fahrt, hart vom Wippen im Takt der Musik,

jenseits der Koordinaten jedes Publikums.

Suzanne trägt einen Ledermantel,

denn sie ist kein Zivilist.

Nie schlendert sie leger die Ste. Catherine entlang,

denn mit jedem Schritt muss sie erlösen

die klumpfüßigen Massen und über den Acker staken

voll riesiger Hagelkörner, die nie schmolzen,

ich meine den Friedhof.

Steht auf! Steht auf!

Suzanne geht vorbei.

Sie trägt einen Ledermantel. Sie hält nicht an,

um die Brüche zu bandagieren, zwischen denen sie hindurchgeht.

Sie darf nicht anhalten, sie darf kein

Geld bei sich haben.

Groß ist die Zahl der Mildtätigen.

Wenige dienen dem Flieder,

wenige heilen mit Dunst.

Suzanne trägt einen Ledermantel.

Ihre Brüste sehnen sich nach Marmor.

Der Verkehr stockt: Leute fallen aus

ihren Autos. Ihre geilsten Gedanken

sind nicht wild genug,

um die ameisen-wimmelnde Kristallstadt zu bauen,

die sie zersplittern würde mit dem Klang ihrer Schritte.

© Zweitausendeins

Einen zweiten »Suzanne«-Text schrieb Leonard Cohen zur gleichen Zeit, auch diesmal hatte er in Suzanne Verdal seinen Ursprung. »Die Akkorde zu diesem Song waren mir klar, bis eine Frau ins Spiel kam«, gesteht der Autor. Die Urfassung seines populären Songs wurde jedoch nie veröffentlicht; erst der Text einer weiteren Version mit umgeschriebenen Passagen, die auf seiner Begegnung mit einer anderen Suzanne (Vaillancourt) basierten, erschien 1964 unter dem Titel »Suzanne Takes You Down« im Band Flowers For Hitler. In Liedform wurde »Suzanne« erstmals im Jahr 1966 in einer Coverversion von Judy Collins veröffentlicht.

Suzanne

Suzanne nimmt dich mit

an den Fluss dort, wo sie wohnt

du kannst die Schiffe fahren hören

du kannst die Nacht an ihrer Seite sein.

Und du weißt, sie ist halb verrückt

aber deshalb willst du bleiben

und sie gibt Orangen dir und Tee

der weither aus China kommt.

Und willst du ihr endlich sagen

nein, ich hab dir nichts zu geben

hebt sie dich in ihre Wellen

und der Fluss gibt dir die Antwort

du warst immer ihr Geliebter.

Und du gehst mit ihr auf Reisen

die man blinden Auges reist

und du weißt, sie kann dir trauen

denn du berührtest ihren makellosen Körper

mit deinem Geiste.

Jesus war ein Seemann

wenn er auf dem Wasser ging

und lange stand er da und blickte

von einem einsamen Turm aus Holz

und als er sicher wusste

dass nur Ertrinkende ihn sehen

sprach er: Jeder wird ein Seemann sein

bis einst das Meer ihn freimacht

doch er selbst war schon zerbrochen

lang bevor der Himmel aufging

verachtet, fast menschlich

sank er in deine Weisheit wie ein Stein.

Und du gehst mit ihm auf Reisen

die man blinden Auges reist

und vielleicht wirst du ihm trauen

denn er berührte deinen makellosen Körper

mit seinem Geist.

Suzanne nimmt deine Hand

und sie führt dich an das Ufer

sie trägt Lumpenzeug und Federn

aus den Lagern der Heilsarmee.

Und die Sonne schmilzt wie Honig

auf der Madonna unseres Hafens

und sie zeigt dir, wo du suchen sollst

zwischen dem Abfall und den Blumen.

Da sind Helden in dem Seetang

da sind Kinder früh am Morgen

sie mühen sich um Liebe

sie werden sich für immer müh’n

und Suzanne, sie hält den Spiegel.

Und du gehst mit ihr auf Reisen

die man blinden Auges reist

und du weißt, sie wird dich finden

denn sie berührte deinen makellosen Körper

mit ihrem Geist.

© März Verlag

Die wahre Geschichte »Suzannes« ist die von Suzanne Vaillancourt, Berufstänzerin und Frau des Montrealer Bildhauers Armand Vaillancourt, deren »makellosen Körper« Leonard Cohen tatsächlich nur »mit seinem Geist« berührt hat, denn zwischen ihm und Suzanne stand ihr Ehemann. Suzanne bat Leonard zwar in ihre Wohnung, doch lediglich, um ihm »Tee und Orangen« aufzutischen. Der Fluss, der »die Antworten« gibt, fließt durch St. Marks, und Suzannes Fenster gab einen Blick auf ihn frei. Beim Entschlüsseln der Bilder, die Cohen in diesem Song verwendet, erweist sich sein Welthit somit als eine einzige Liebeserklärung und als ein Extrakt aus den vielen Erinnerungen, die Cohen mit dieser Frau verbindet.

Mit der Veröffentlichung des Textes verlor Cohen jedoch zugleich alle Rechte an dem Song. »Ich unterschrieb ein Stück Papier, das ich nicht sorgfältig genug durchgelesen hatte. Ich vertraute dem Typ, nur weil er lange Haare und Stiefel trug.« Reich wurde Cohen durch »Suzanne« also nicht. Erst Anfang der 90er-Jahre, nachdem die Urheberrechtsfrist abgelaufen war, konnte er sie zurückgewinnen, um das Lied nach 25 Jahren erstmals wieder als Urheber zunächst in seinem in deutscher Sprache nicht erschienenen Buch Stranger Music. Selected Poems And Songs (1993) zu veröffentlichen.

Nach der um 1968 in die Brüche gegangenen Beziehung mit Marianne Jensen lebte Cohen bis Ende der 70er-Jahre mit Suzanne Elrod zusammen, seiner zweiten großen Liebe und Mutter seiner beiden Kinder Adam und Lorca. »Er kam herein, und ich ging gerade hinaus«, erinnert sich Suzanne Elrod an ihre erste Begegnung irgendwo in Manhattan. Schon kurze Zeit später zog sie zu ihm ins Hotel Chelsea. Für beide war es eine Zeit der Veränderungen: Suzanne, damals gerade 19 Jahre alt, wollte weg von den Kneipen, und Cohen wollte weg von den Drogen. »Deshalb ging er nach seiner New Yorker Zeit auch wieder zurück nach Montreal zu seiner Mutter, die großen Einfluss auf ihn hatte. Das Einzige, was mich an ihr störte, war, dass sie mich immer Marianne rief. Danach gingen wir nach Tennessee. Es war sehr romantisch. Ich war ihm ergeben. So lange es jemanden wie ihn im Universum gab, war es für mich okay, hier zu sein. Aber wir stellten fest, dass unsere Beziehung wie ein Spinnennetz konstruiert war.«

Das Fundament der in ihrer Kompliziertheit nie genauer beschriebenen Beziehung bestand aus einem Arrangement: Man lebte und arbeitete zusammen in Montreal und auf Hydra; Leonard schrieb Songs und Gedichte, Suzanne arbeitete für ein Magazin und verfasste den Anfang eines pornografischen Romans, »nur um uns zum Lachen zu bringen«. Verheiratet war Cohen jedoch weder mit Marianne noch mit Suzanne oder einer anderen Frau. Er steckte Suzanne lediglich einen jüdischen Hochzeitsring an den Finger, ein offizielles Papier unterschrieb er hingegen nie.

1978, im selben Jahr als Cohens Mutter starb, endete auch seine Beziehung zu Suzanne, die mit den Kindern nach Avignon zog. Sprach man ihn zu dieser Zeit auf die Trennung an, antwortete er nur, niemand könne mit ihm leben. »Ich werde nie wieder mit jemandem zusammenleben. Ich habe kein Privatleben mehr.«

Von Journalisten nach 16 Alben und über 40 Jahren im Musik-Business noch immer darauf angesprochen, weshalb er damals den Schritt vom Schriftsteller zum Singer/Songwriter getan habe, gibt Leonard Cohen stets dieselbe Antwort. »Es hatte vor allem wirtschaftliche Gründe. Mitte der 60er-Jahre war mir klar, dass ich mir meinen Lebensunterhalt nicht als Schriftsteller verdienen konnte. Nachdem ich Beautiful Losers veröffentlicht hatte, wurde es von den Kritikern zwar wunderbar besprochen, trotzdem löste es nicht das Problem, dass ich am Existenzminimum lebte. Die einzige Möglichkeit, mit meinen Texten mehr Menschen zu erreichen, war die Vorstellung, nach Nashville zu gehen und ein Country-&-Western-Sänger zu werden.«

Mit dieser düsteren Aussicht blieb Leonard Cohen 1966 in New York hängen. Seine »Wohnung« befand sich in Manhattan in der 23. Straße, die Nummer des roten Backsteinhauses mit seinen Erkern und gusseisernen Balkongittern lautete 222. Cohen bewohnte ein Zimmer auf der sechsten der insgesamt elf Etagen des Hotel Chelsea. Wer heute in New York auf Leonard Cohens Spuren wandelt und dabei das Chelsea aufsucht, trifft auf ein Hotel, das vom Jahr seiner Eröffnung 1884 bis 1899 das höchste Gebäude New Yorks war und bis heute nur 100 seiner insgesamt 400 »Einheiten« vermietet. Die nobelste dieser Einheiten ist eine Luxussuite (Nr. 600), die mit Parkettboden und einem bronzenen Kamin ausgestattet ist und in der bis um die Jahrtausendwende zwei homosexuelle Autoren lebten, die unter dem Pseudonym Judith Gould Liebesromane verfassten. Wer im Chelsea unterkommen will, muss schon ein einfaches Zimmer mindestens zwei Monate im Voraus buchen. Bezahlt wird dabei weniger für das Zimmer als vielmehr für die Berühmtheit des Hotels.

Illuster war das Chelsea schon zu jener Zeit, als Mark Twain eines der Zimmer bewohnte. Auch die Autoren Thomas Wolfe und Arthur Miller lebten und arbeiteten dort. Miller, der sechs Jahre im Chelsea verbrachte, beschrieb die legendäre Künstlerherberge mit den Worten: »Das Hotel gehört nicht zu Amerika; dort gibt es keinen Staubsauger, keine Regeln, keine Scham … Es ist die Bastion des Surrealen. Ich stieg vorsichtig über blutverschmierte Betrunkene, die auf dem Gehweg lagen – und war glücklich. Ich beobachtete, wie die neue Zeit, die 60-Jahre, mit blutunterlaufenen jungen Augen in das Chelsea taumelten …« Leonard Cohen hat sich über das Hotel nicht weniger liebevoll geäußert: »Es ist eines jener Hotels, denen das zu eigen ist, was ich an Hotels am meisten liebe. Ich liebe Hotels, in denen ich ohne Aufsehen morgens um vier einen Zwerg, einen Bären und vier Frauen aufs Zimmer mitnehmen kann.«

Jedes Zimmer im Chelsea hat seine eigene Geschichte. In Nr. 205 fiel der walisische Dichter Dylan Thomas – nach dem sich Bob Dylan angeblich benannt hat – nach dem Genuss von 18 Gläsern Whisky in ein tödliches Koma. Nr. 100 bewohnten einst Sid Vicious, der Bassist der Punkband The Sex Pistols, und seine Freundin Nancy Spungen. Spungen wurde am Morgen des 11. Oktober 1978 erstochen im Badezimmer aufgefunden, der wegen Mordverdachts verhaftete Vicious starb kurz darauf an einer Überdosis Heroin. Auch Jimi Hendrix lebte, liebte und probte hier – nicht zuletzt mit Drogen. Janis Joplin pflegte im Chelsea nicht nur das Verhältnis mit ihrem heiß geliebten Southern Comfort, sondern ließ sich auch auf eine kurze Affäre mit Leonard Cohen ein. Die Liste der Größen aus der Literatur-, Musik- und Kunstszene, die im Chelsea ihr Quartier aufschlugen, ist endlos. Eben auch Leonard Cohen gehört dazu – mit seinem Song »Chelsea Hotel No. 2« hat er seinem damaligen Quartier ein Denkmal gesetzt.

Der Song ist allerdings nicht im Chelsea entstanden. »Ich begann ihn 1971 in einem polynesischen Restaurant in Miami und beendete ihn in Asmara, Äthiopien, kurz bevor dort der Putsch stattfand. Ron Cornelius half mir, die ursprüngliche Version umzuschreiben«, merkt Leonard Cohen in »Some Notes on the Songs« seines Greatest-Hits-Albums von 1975 an. Cohen nahm den Song erst für sein Album von 1974 New Skin for the Old Ceremony auf, brachte ihn aber live bereits am 23. März 1972 in seinem dritten Konzert in der Londoner Royal Albert Hall zu Gehör.

»Chelsea Hotel No. 2«? Der Titel provoziert die Frage, ob es auch ein »Chelsea Hotel No. 1« gibt. Die Antwort lautet: Nein, offiziell jedenfalls nicht. Doch wie Bob Dylan von Konzert zu Konzert nicht nur seine Songlist, sondern auch die jeweilige Interpretation ändert und seine Fans damit in Spannung versetzt, trägt auch Leonard Cohen seine Songs nicht selten in sehr unterschiedlichen Versionen vor, mit zusätzlichen Versen oder geänderten Zeilen. Die nachfolgend wiedergegebene, vom Original abweichende Version ist allgemein als »Chelsea Hotel No. 1« bekannt und unter anderem in Tony Palmers Tourneefilm Bird on a Wire von 1972 zu hören. Auch in seinem Frankfurter Konzert vom 6. April 1972 trug Leonard Cohen diese Version vor. (Die mit * gekennzeichneten Zeilen entsprechen der auf dem Album New Skin For The Old Ceremony veröffentlichten »No. 2«-Version.)

Chelsea Hotel No. l

I remember you well in the Chelsea Hotel*

You were talking so brave and so free*

Giving me head on the unmade bed*

While the limousines wait in the street*

(And) Those were the reasons and that was New York*

I was running for the money and the flesh*

That was called love for the workers in song*

Probably (it) still is for those of us/them left*

But you got away, didn’t you baby*

You just threw it all to the ground

You got away, they cant pay you now

For making your sweet little song

I remember you well in the Chelsea Hotel*

In the winter of sixty-seven

My friends of that year they were all trying to go queer

And me I was just getting even

And me I was just getting even

And me I was just getting even

(And) those were the reasons and that was New York*

I was running for the money and the flesh*

That was called love for the workers in song*

Probably (it) still is for those of us/them left*

But you got away, didn’t you baby*

You just threw it all to the ground

You got away they cant pay you now

For making your sweet little sound

© Leonard Cohen

Drogen spielten in Leonard Cohens Jahren auf Hydra und in New York eine große Rolle. »Heute lebe ich nicht mehr in der Agonie, die meine jungen Jahre überschattete«, erklärte er 1988. »Mit den Drogen hatte ich mein physisches und elektrochemisches Gleichgewicht verloren. Meine Drogenerfahrungen hatten zwar auch ihre guten Seiten, aber in physischer Hinsicht wirkten sie sehr destruktiv. Ich war froh, als ich von ihnen loskam und mich erholen konnte. Zu viele meiner Bekannten sind an ihnen gestorben. Nach dem Drogenkonsum – auch dem der milden wie Amphetamine und Marihuana — braucht man lange, um sich zu erholen, manchmal zehn bis 15 Jahre, wenn man empfindlich ist.«

Kunst und Drogen gingen in den 60er-Jahren Hand in Hand – ähnlich wie bis heute Kunst und Geld. »Aber inzwischen scheinen die Leute es müde geworden zu sein, nur zu tanzen. Sie wollen sich wieder hinsetzen und zuhören, ähnlich wie in den 60ern«, zieht Cohen 30 und 40 Jahre später im Gespräch Bilanz und fügt hinzu: »Heute spielen Drogen für mich keine Rolle mehr … Aber vielleicht werden sich Stimmen erheben, die eine andere Sichtweise proklamieren. Aber ich denke, dies wird nicht durch Songs geschehen. Bob Dylan hat es auf eine politische Weise getan, Joni Mitchell auf eine persönliche. Ich sehe es zur Zeit so, dass eine Menge Drogen um uns herum kursieren, die recht interessante Effekte bewirken. Vielleicht geht es genau darum, einfach nur Effekte zu erzielen, egal, welcher Drogen sich die Kultur bedient. Ich möchte zu Drogen keine Stellung beziehen, aber es scheint, sie erzeugen eine bestimmte Art von Ausdruck, wobei einige von ihnen zu großartigen Ergebnissen führen können. Psychedelika rufen ganz unterschiedliche Arten von Visionen hervor, die offensichtlich in Beziehung zu religiösen Visionen stehen. Egal, ob Drogen, wie Terence McKenna glaubt, nur unter Anleitung im Rahmen einer zeremoniellen Selbsterforschung genommen werden sollten oder, wie nach Collins’ Meinung, als eine Art ›recreational sport‹ – egal, wie man zum Gebrauch psychedelischer Drogen steht: »It’s got to have a real effect if the thing takes off.« Ich bin der Meinung, man vergisst, dass Acid der wahre Brennstoff der 60er war. Es war diese Vision, die Leute befähigt hat, die Energie zu bündeln, um die Oberfläche der Dinge zu zerstören, zumindest in ihrem eigenen Kopf. Viele von ihnen haben dabei nur ihren Geist zerstört, und das äußere Gefüge ist weitgehend intakt geblieben.«

»Ich denke, dass ich mit allen Drogen experimentiert habe«, gestand Cohen auch in einem Gespräch mit dem englischen Journalisten Adrian Deevoy. »Speed mochte ich sehr. Kokain habe ich nie sonderlich geschätzt. Ich habe es versucht, aber ich mag es grundsätzlich nicht, irgend etwas durch die Nase einzunehmen. Aber darüber möchte ich nicht viel sagen. Ich möchte die Jugend nicht dazu animieren.«

Doch zurück ins Jahr 1966, als Cohen ins Chelsea einzog. Jugendrevolte, Individualismus und musikalische Experimentierfreude waren die Kennzeichen jener Zeit. Die Popmusik hatte seit ihren Anfängen in der Nachkriegszeit bedeutende Fortschritte gemacht. Die von akustischen Gitarrenklängen dominierten Genres Blues, Country und Folk waren zunehmend in den Hintergrund getreten, Rhythmus und Elektrizität des Rock ’n’ Roll hatten immer mehr an Bedeutung gewonnen. Bill Haley und Elvis Presley hatten mit ihren Millionenhits »Shake, Rattle and Roll« (1954) beziehungsweise »Hound Dog« (1956) gute Vorarbeit geleistet. Die beiden Künstler hatten das Startsignal zum Aufbruch einer Jugend geliefert, die bis dahin schlicht als »noch nicht erwachsen« und somit auch als »nicht kompetent« angesehen wurde. Die neuen Klänge, die sich von der Musik älterer Generationen grundlegend unterschieden, vermittelten den Jugendlichen ein eigenes Lebensgefühl und Selbstbewusstsein; sie wurden zum Soundtrack einer Generation, in der nicht zuletzt die afroamerikanische Kultur und die bis dahin vom Musikmarkt der Weißen ausgegrenzten Schwarzen eine Rolle spielten. Zuvor hatten Songs, die von schwarzen Musikern geschrieben und gespielt wurden, nur in Coverversionen weißer Musiker eine Chance gehabt. Neben Rock-’n’-Roll-Idolen wie Bill Haley, Elvis Presley, Buddy Holly und Jerry Lee Lewis war es nun auch einem Chuck Berry, Little Richard oder Fats Domino gelungen, die dem Rock ’n’ Roll zuströmenden Massen zu begeistern. Rock ’n’ Roll, meist in der Standardbesetzung Schlagzeug, Bass-, Rhythmus- und Leadgitarre gespielt, erregte die Jugend durch seine schnellen Rhythmen, seine unter konservativen Moralhütern als »obszön« verschrienen Tanzbewegungen, einen betont »schmutzigen« Gesang und nicht zuletzt durch Textinhalte, die sich oft auch den Anliegen unterdrückter Minderheiten widmeten, zu denen sich große Teile der weißen Jugend zählten.

Die 60er-Jahre sind zweifellos die aufregendste Zeit in der Geschichte der Popmusik. Damals wurden die Grundsteine für den Pop der 70er- und 80er-Jahre gelegt. Nach Elvis Presley & Co. betraten neue Idole die Szene, allen voran die Beatles, die nach ihren noch der Rock-’n’-Roll-Tradition verhafteten Anfängen ab Mitte des Jahrzehnts mit Texten, die zu Recht als Protest gegen Gewalt und kleinbürgerliches Denken verstanden wurden, dafür sorgten, dass Popsongs mit einem Mal zugehört wurde. Der Text eines Musikstücks wie »All You Need Is Love« war genauso wichtig wie die Musik selbst.

Bands wie die Beatles oder die Rolling Stones verschafften sich aber nicht nur mit ihrer Musik und ihren Texten, sondern auch durch die Art ihres Vortrags Gehör. Härtere Rhythmen, gitarrenlastige Arrangements und ein Gesangsstil, aus dem der Protest gegen das spießige Kleinbürgertum sprach, luden die auch in politischer Hinsicht erwachende Jugend zur Identifikation ein. Große Wirkung hatte natürlich Bob Dylan, der als Folksänger auf den Pfaden des legendären Woody Guthrie begonnen hatte. Als Dylan auf dem Newport Folk Festival 1965 seine Gitarre an einen Verstärker anschloss, galt er seiner alten Gefolgschaft als Verräter, weitsichtigere Kritiker priesen ihn als den Erfinder des Folkrock. Ähnlich experimentierfreudig war Frank Zappa, der mit seinen Mothers of Invention die Freak-Band schlechthin aus der Taufe hob. In den Londoner Underground-Klubs begründete ein Quartett namens Pink Floyd mit seinem von elektronischen Effekten durchsetzten Psychedelic Rock ein neues Genre, und Bands wie Deep Purple – damals als angeblich lauteste Band der Welt im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet – experimentierten ebenso wie das Trio The Nice mit Elementen der klassischen Musik. Ziel und Motiv waren dabei stets der Protest gegen das Establishment und der Ruf nach Mitbestimmungsrechten für die Jugend, wie er sich auch in der Studentenrevolte von 1968 widerspiegelte. In Musik, Mode und Haartracht brachten die Jugendlichen ihre Auflehnung gegenüber den »Alten« zum Ausdruck.

Ihren kulturellen Höhepunkt erreichte die Revolte mit der Hippiebewegung, die gegen den Vietnamkrieg ebenso protestierte wie gegen die sozialen Ungerechtigkeiten der westlichen Industriegesellschaften. Leonard Cohen beschreibt sie als »meist recht friedliche junge Leute mit langen Haaren, ausgeflippter Kleidung und ohne richtigen Job, die mit der Gitarre in der Hand durch die Welt zogen und glaubten, mit Blumen im Haar, einem Lied auf den Lippen, der Botschaft von Toleranz, Liebe und Abkehr von materiellen Gütern und dem unvermeidlichen Joint die Welt verändern zu können.«

In der zweiten Hälfte der 60er-Jahre fanden in Monterey und Woodstock die ersten großen Open-Air-Festivals statt, an denen nahezu alle namhaften Rock- und Folkmusiker teilnahmen, von Jimi Hendrix und Janis Joplin über Jefferson Airplane und The Who bis zu Country Joe McDonald und Joan Baez. Zur selben Zeit jedoch entwickelte sich die Rockmusik zu einem riesigen Geschäft. All ihre Stilvarianten wurden rasch genormt und zu Schablonen, die nur noch dazu dienten, möglichst große Käuferschichten anzulocken.

Leonard Cohen hat sein eigenes Bild von dieser Zeit: »Was wir heute die 60er-Jahre nennen, hat eigentlich nur 15 Minuten gedauert. Es war ein Moment, der den Anschein erweckte, als habe die Welt einen Sinn für ›Freizügigkeit‹ entwickelt. Aber das änderte sich mit dem Einzug des Kommerzes sehr schnell. Sogar die Medien ließen sich davon einnehmen, und ich habe Auseinandersetzungen mit Theoretikern gehabt, die die Fahnen der 60er-Jahre weiter – vergeblich! – hochhalten wollten. Meiner Ansicht nach waren viele Ideen sehr unrealistisch und gegen eine organisierte Gesellschaftsform gerichtet, vor der ich immer Respekt gehabt habe.«

Vielleicht sind es aber gerade organisierte Gesellschaftsformen, die ein Geschichtenerzähler wie Leonard Cohen braucht, weil seine mitunter anarchischen Geschichten erst vor einem solchen Hintergrund ihre volle Wirkung entfalten. Die Geschichte, die hinter Cohens Song »Chelsea Hotel No. 2« steckt, gibt der Autor auch 25 Jahre nachdem er sie erstmals live vorgetragen hat, noch immer gern zum Besten, sei es in TV- und Filmdokumentationen oder in Konzerten wie jenem, das am 10. Mai 1993 in der Londoner Royal Albert Hall stattfand und in dem er sie besonders ausführlich geschildert hat.

»Es ist über 1000 Jahre her, als ich in diesem sehr guten Hotel in New York City wohnte, wo ich am späten Nachmittag – das war für mich damals so gegen fünf Uhr morgens – im Aufzug immer dieser Frau begegnete. Ich drückte auf den Knopf des Aufzugs und hielt es für ein großes Mysterium. Manchmal drückte ich sogar auf den richtigen Knopf, die einzige Technologie, die ich damals beherrschte. Ähnlich empfand es wohl auch diese Frau, Janis Joplin. Obwohl ihr in ihren Konzerten Tausende von Menschen zu Füßen lagen, schien sie dieser Aufzug ebenso zu faszinieren wie mich. Nach ungefähr einer Woche gab ich meinem Herzen einen Stoß und fragte sie: ›Verzeihen Sie meine Kühnheit, aber darf ich fragen, ob Sie jemanden suchen?‹ ›Ja, ich suche Kris Kristofferson‹, sagte sie, und ich erwiderte: »Lady, Sie haben Glück, ich bin Kris Kristofferson.‹ Das war zu einer Zeit, als man es damit nicht so genau nahm. Und obwohl sie wusste, dass ich etwas kleiner als Kris Kristofferson war, spielte sie das Spiel mit. Und die Beziehung nahm ihren schicksalhaften Gang. Sie hat nie erwähnt, dass ich nicht Kris Kristofferson war. Vielleicht war ich in diesem Moment Kris Kristofferson; bis dahin hatte ich jedenfalls nie Cowboystiefel getragen. Ein paar Jahre später saß ich in einem polynesischen Restaurant in Miami – ein Ort, den ich niemandem empfehle. Aber das ist eigentlich überall so in Miami Beach: Man bekommt seine Drinks in Kokosnüssen serviert; den tieferen Sinn habe ich nie verstanden. Während ich in Erinnerungen schwelgte, wurde mir Janis plötzlich unheimlich gegenwärtig, und ich begann den Song zu schreiben. Eigentlich tut es mir leid, dass ich diese Geschichte immer mit Janis Joplin verbinde. Ich wollte nie indiskret sein und meine intimen Erlebnisse mit einer Frau nach außen tragen.«

Ebensowenig wie Informationen über Leonard Cohens Affäre mit Janis Joplin nach außen drangen, sind Einzelheiten über seine Begegnung mit der Sängerin Nico an die Öffentlichkeit gelangt. Erst in einem Gespräch mit Joe Walsh 1994 äußerte er sich über die ehemalige Velvet-Underground-Sängerin, die dem Hotel Chelsea ihr erstes Solo-Album gewidmet hatte (Chelsea Girl, 1967). Cohen erinnert sich an die »düstere Drogenprinzessin« (New Musical Express) aus dem Umfeld von Lou Reed und John Cale wie an einen Koitus interruptus: »In New York und vor allem im East Village, wo die verrücktesten Typen herumhingen, hielt man mich anfangs sicher für sehr provinziell. Trotzdem landete ich eines Tages im Dome-Club, wo eine wunderschöne blonde Frau mit einem Typen, der sie auf der Gitarre begleitete, sang. Die Frau war Nico, und der Typ hieß Jackson Browne. Ich wusste damals nicht, wer sie war. Ich wusste nicht, dass schon Dylan und Lou Reed für sie komponiert hatten. Aber ich musste sie kennenlernen, das wusste ich. Ich arrangierte was, und nach fünf Minuten ließ sie mir die Nachricht zukommen, ich solle es vergessen; sie sei nur an jüngeren Männern interessiert, würde mich aber gern als Freund haben. Und so sind wir Freunde geworden.«

Mit der Freundschaft kamen jedoch sogleich auch Gerüchte auf. »Ich tat alles, um sie für mich zu interessieren. Aber sie erwiderte meine Verliebtheit nicht, nur unsere Freundschaft wurde enger … Ein paar Jahre später – ich war wieder im Chelsea abgestiegen – traf ich sie an der Bar. Zu dieser Zeit war das Chelsea nicht ungefährlich. Dealer und Zuhälter gaben sich die Klinke in die Hand. Außerdem war kurz zuvor ein Mord geschehen, sodass überall Polizisten herumliefen, die nach dem Mörder suchten. Wir hingegen unterhielten uns über die alten Zeiten. Und als die Bar schloss, schlug Nico vor, oben auf dem Zimmer weiterzureden. Ich wusste nicht, ob es der Drink war oder sonst was, jedenfalls ging ich mit. Oben legten wir uns aufs Bett und redeten. Wir waren uns sehr nah, und irgendwann begann ich sie zu streicheln – ich glaube, an ihrer Schulter. Plötzlich fuhr sie auf, schrie mich an und hörte nicht mehr auf damit. Genauso plötzlich sprang die Tür auf. 20 Polizisten standen im Zimmer, und alle dachten, ich sei der gesuchte Mörder.« Vor dem Hintergrund dieser Anekdote noch einmal über die Zeile »You told me again you preferred handsome men« aus Cohens »Chelsea Hotel«-Song sinnierend, der eben meist mit Janis Joplin in Verbindung gebracht wird, kann man aus ihr auch eine Anspielung auf Nico herauslesen. Darauf angesprochen, bestreitet Leonard Cohen selbst dies nicht.

Mit der allmählich in Mode kommenden Popmusik und den vielen Musikern, die in kleinen Bars, Cafés und Kneipen auftraten, schien die Zeit für Leonard Cohens Wandel vom Literaten zum Songpoeten reif zu sein. Zugute kamen Cohen dabei die Dienste des Wegbereiters Bob Dylan, der seit Beginn der 60er-Jahre dem Protestsong entscheidende Impulse gegeben hatte und mitverantwortlich war für den Abschied vom traditionellen Folksong. Wenn damals ein Kritiker des Rolling Stone schrieb, Dylan habe in den Jahren 1965 und 1966 die Rockgeschichte revolutioniert, so war dies in zweierlei Hinsicht zu begreifen. Zum einen hatte Dylan seit seinem ersten Erscheinen im Jahr 1961 der populären Musik durch seine Texte dazu verholfen, dass sie auch von Intellektuellen zur Kenntnis genommen wurde; zum anderen war er mit seinem Auftritt in Newport zum Vorreiter aller künftigen Folkrocker geworden.

Judy Collins, neben Joan Baez die zweite herausragende Gestalt des US-Folkrock der 60er-Jahre, unterstützte Leonard Cohen auf ganz besondere Weise. Die 1939 in Seattle, Washington geborene Sängerin, die ihre Karriere 1955 in der Folktradition begonnen hatte und sich später am französischen Chanson orientierte, konnte sich zwar als Singer/Songwriterin nie etablieren, dafür nahm sie sich als Interpretin wie kaum eine zweite der Songs junger Songwriter an. Leonard Cohen und auch Joni Mitchell haben ihr viel zu verdanken. »Ich glaube«, erklärte Collins 1967, »dass unsere Massengesellschaft ihren besten und wahrhaftigsten Ausdruck in der Popmusik gefunden hat. Und ich versuche stets Lieder zu finden, in denen man das Wesen unserer Gesellschaft wie in einem Spiegel erkennen kann. God bless Leonard Cohen and his muse. Ich habe das Gefühl, ich kann mir seine Muse ab und zu ausborgen. Er brachte mich dazu zu schreiben. Und ich war die erste, die seine Songs singen durfte. Das Publikum, ob groß oder klein, bekam immer etwas sehr Seltenes zu hören, wenn sie ihm zuhörten. Eine unvermeidliche Krise des Herzens und des Verstandes.«


01 Leonard und seine Schwester Esther; ein Erinnerungsfoto auf Cohens Sideboard in seiner Montrealer Wohnung. (Foto: Christof Graf)


02 Cohens Elternhaus in Montreal. (Foto: Christof Graf)


03 The Bucksin Boys, Cohens erste Band Ende der 40er-Jahre. (Foto: Archiv)


04 Leonards Studienzentrum in den 50ern: Die McGill University in Montreal, Kanada. (Foto: Christof Graf)


05 Leonard Cohens Studentenausweis aus dem Jahr 1954. (Foto: Archiv McGill University)


06 Cohens alter Baseball-Handschuh und die erste Wandergitarre im ehemaligen Jugendzimmer des Rockpoeten im Montrealer Elternhaus. (Foto: Christof Graf)


07 Leonard mit Oberlippenbart in den frühen 60ern. (Foto: Bob Cato / Columbia)


08 Schüchtern, verträumt und nachdenklich: Posen, die das Klischee des kanadischen Rockpoeten von Anbeginn seiner Karriere begleiteten. (Foto: Columbia)


09 Leonard Cohen Ende der 60er-Jahre. (Foto: Columbia)


10 Cohen sah sich schon zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere gerne in der Pose des melancholischen Dichters – hier in einem Montrealer Straßencafé. (Foto: Columbia)


11 Das Filmplakat der CBC-Dokumentation »Ladies & Gentlemen ... Mr. Leonard Cohen« ziert ein Foto von Cohen Anfang der 60er-Jahre im Hafen von Hydra. (Foto: DVD-Vertrieb)


12 Fotos aus der Serie für das Greatest Hits-Album. (Foto: Columbia)


13 »Field Commander« Cohen auf weißem Pferd im französischen Aix-en-Provence. (Foto: Columbia)


14 Cosmopolit und Gentleman: Backstage mit Drink 1979. (Foto: Christof Graf)


15 Cohen in den 70ern in einer Hafenbar auf Hydra. (Foto: Columbia)


16 Cohen 1974 in Paris. (Foto: Columbia)


17 Selten: Cohen mit Vollbart um 1970. (Foto: Columbia)


18 Buchautor Christof Graf mit Cohens Schwester Esther im Jahr 2000 vor Cohens Haus in Montreal. (Foto: Cornelia Rüngeler)


19 Live im Studio: Cohen bei einer Aufnahme-Session, 1972. (Foto: Columbia)


20 Live beim Isle-Of-Wight-Festival 1970. Das Foto ziert auch die 2009 veröffentliche CD-, DVD- und Blu-Ray-Dokumentation. (Foto: Columbia)

Leonard Cohen

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