Читать книгу Das Albtraumschiff - Christoph Fromm - Страница 10
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ОглавлениеDIE HEREINBRECHENDE NACHT, von deren Schönheit sie nichts wahrnahmen, fand Grohl liegend auf einer durchgebrochenen samtroten Couch, deren Zustand dem letzten, sechs Monate zurückliegenden Heimspielsieg seines Leid- und Magenvereins Kickers Offenbach geschuldet war, den Grohl etwas zu akrobatisch gefeiert hatte, während Olaf, sitzend in schwarzblauem Licht, die spärlich fließenden Drehbuchideen in den Computer hämmerte, die er seinem Meister mit reichlich Süßigkeiten entlockte. Zunächst lief nicht viel, obwohl Grohl seine Magenwände mit kalorienreichen Gummigeschossen aller Art bombardierte.
Einziges Highlight einer weiteren düsteren Drehbuchnacht waren ihre Improvisationen über Konni und Risotto. Ihre erniedrigte, gepeinigte Fantasie suchte Freiräume, indem sie Frankie zum bisexuellen Lustsklaven von Konni degradierte. Am meisten Spaß machte ihnen Konnis französischer Akzent, den beide perfekt beherrschten.
Sie überlegten kurz, die beiden als schwules Mitarbeiterpärchen der Kommissarin unterzujubeln – wenn der Frankie mir öffentlisch-reschtlisch ein blasen darf, hast du carte blanche, Schätzelschen –, verwarfen den Gedanken aber wieder, da die Selmau mit Sicherheit keine homosexuellen Kollegen neben sich dulden würde. (Wie sollen die sich in mich verlieben?)
Alle männlichen Kollegen mussten selbstverständlich latent in die strahlende Tatortkommissarin verliebt sein, die wie ein asexueller Engel über den zwischengeschlechtlichen Niederungen schwebte. Sichtbaren Geschlechtsverkehr hatten die Bösen oder die Opfer, die Guten kuschelten elliptisch oder waren traumatisiert und taten vor allem ihre staatsbürgerliche Pflicht.
Grohl amüsierte Olaf mit einem gesellschaftlichen Ereignis, das sich angeblich in Konnis Achtzimmer-Penthousewohnung zugetragen hatte. Alle schwachsinnigen Kochsendungen waren kürzlich durch die Idee einer Überraschungs-Promi-Kochsendung getoppt worden und natürlich durfte Konni als Koch dort nicht fehlen. Da Konni sich nicht einmal selbst ein Spiegelei zubereiten konnte, hatte er über Risotto einen Fünfsternekoch engagieren lassen, der ein kleines, delikates Mahl für Konnis Gäste und die Kameras des Fernsehteams zubereitete und der von Risotto zum Hinterausgang rausbefördert wurde, während der Maestro mit strahlendem Lächeln angeblich völlig überrumpelt und live seine Gäste empfing. Die Selmau und ähnliche Topschauspieler wie Aki Horn und Sascha Dreikamp kosteten Konnis Horsd’œuvres mit einer Begeisterung, mit der die ersten Christen das Abendmahl empfangen haben mochten: Konni, das ist ein kulinarisches Wunder, wie schaffst du das alles bloß so schnell?
Bescheiden neigte der Maestro sein Haupt.
Wenn isch die Zeit hab, brutzel isch mir gerne was.
Dabei hab isch die tollsten Ideen. Kochen kann sowas von kreativ sein, ehrlisch …
Olaf war sich nie ganz sicher, ob Grohl diese Details aus Konnis Leben tatsächlich über verschlungene Wege in Erfahrung gebracht oder schlicht erfunden hatte, er vermutete Letzteres und bewunderte seinen Freund für dessen ausufernde Fantasie, die nur wieder einmal in die richtigen Bahnen gelenkt werden musste, was er um drei Uhr morgens mit Spiegeleiern, Speck und literweise Kaffee versuchte. Nach dem fünften weggedrückten Spiegelei fanden in Grohls Hirn tatsächlich die bisher sinnlos herumliegenden Drehbuchideen zu einer ersten Verknüpfung: Man könne das Adoptivkind der Kommissarin und die herzkranke Tochter des Bankräubers zu einer Figur verschmelzen. Olaf fand, da lag eine Lovestory in der Luft. Grohl verteilte etwas heiße Butter in seinem Dreitagebart.
Nein, sie darf keinen Bankräuber bumsen. Wir haben es hier mit einer moralisch integren Hauptfigur des öffentlichrechtlichen Fernsehens zu tun.
Olaf gab sich nicht so leicht geschlagen.
Natürlich erst, nachdem sie ihn geschnappt hat und er im Knast sitzt und Postkarten für behinderte Kinder malt.
Grohl grinste hinterhältig.
Nein! Er ist selbst behindert! Sie hat ihm die Hand weggeschossen und jetzt lernt er, mit den Zehen zu malen.
Grohl, keine Krüppel! Du weißt, welchen Ärger wir mit der Neumann hatten.
Gemeinsam intonierten sie Gebot Nummer vier: Behinderte im Hauptabendprogramm sind schwierig!
Grohl hielt ihre Überlegungen für einen Witz, aber da ihnen nichts Besseres einfiel, bestand Olaf, nachdem er Frühstücksbrötchen geholt hatte, auf einer Ausführung ihres bisherigen Brainstormings. Grohl wurde auch ohne weitere Schokoriegel schlecht. Mit von Spiegeleiern und Süßigkeiten geschmierter Stimme diktierte er Olaf die schwachsinnigen Dialoge.
Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er ausschließlich indirekte Dialoge geschrieben, versucht, die Gefühle zwischen die Zeilen zu legen. Nachdem er in wenigstens zwanzig Drehbuchbesprechungen gefragt worden war, aber warum sagen sie es sich nicht, wenn sie sich lieben, hatte er beschlossen, alles immer schön direkt aufs Papier zu klatschen, die gesamte Schmonzette: angesagte Emotion, Selbstdefinitionstiraden, Resümees, die auch dem dümmsten Bierholer die Handlung noch einmal erklärten. Grohl erinnerte sich immer wieder gerne an Konnis Gesetz Nummer sechs: Es muss auch der RTL-Zuschauer mit Schulabbruch verstehen!
Er hatte vergessen hinzuzufügen, dass auch der BWL-Student nicht über mehr Kunstverstand verfügte. Die Quotengeilheit aller Sender hatte vor allem zu einem geführt: Es gab keinerlei Qualitätsunterschied mehr zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten.
Befeuert wurde Grohls sich langsam ausbreitende Depression, begleitet von einem hinterhältigen Sodbrennen, von fünf Absagen, die innerhalb der nächsten zwei Stunden per E-Mail eintrudelten: Ein Freitagabendstoff zum Thema Flitterwochen war inhaltlich noch am leichtesten zu verkraften.
Olaf hatte ausgiebig in einigen Nobeldiskotheken recherchiert. Da die Auftraggeber längst über keine Rechercheetats mehr verfügten, hatte das ihr Budget einer weiteren Belastungsprobe ausgesetzt, aber selbst Grohl hatte an der vulgären Verquickung von Gefühlen und Finanzen, die dort hemmungslos stattfand, so viel Gefallen gefunden, dass er seinen schweren Arsch dafür ausnahmsweise von der Couch hochhievte.
Die Quittung für so viel Wirklichkeit kam auf der Stelle. Ihr Buch wurde von der verantwortlichen Redakteurin als eine Verächtlichmachung der Institution Ehe gebrandmarkt. Als die junge Producerin mit beinahe an Selbstvernichtung grenzendem Mut dagegen hielt und einwandfreie Beweise in Form von Interviews für die Vorgehensweise einer Generation junger Szeneschnallen vorlegte, die sich darauf spezialisiert hatten, reiche Typen, paralysiert von Ed Sheeran und Helene Fischer, abzugreifen, um sich nach zwei Monaten gewinnbringend wieder scheiden zu lassen, konterte die Redakteurin kühl: Wenn das die Wirklichkeit sei, interessiere sie das nicht. Und den Zuschauer im Übrigen auch nicht. Sie ließ den Autoren ausrichten, sie seien Opfer ihrer Recherche geworden. Nachdem Grohl und Olaf das Loch beziffert hatten, das ihre Nachforschungen in die Haushaltskasse gerissen hatte, mussten sie ihr zustimmen.
Die zweite Absage war ein Blattschuss für Grohl. Hinter allem Zynismus hatte er im hintersten Winkel seines mit Zuckerersatzstoffen und Drehbuchmeetings geschredderten Herzens ein Projekt versteckt, für das er noch wirklich brannte: Einen Kinofilm über Anita Berber, die erste deutsche Nackttänzerin im Berlin der Zwanzigerjahre. Grohl fühlte sich dieser ebenso genialen wie destruktiven, kokainbeladenen Figur aus vielerlei Gründen verbunden. Die Eleganz ihrer schlangengleichen Tänze weckte in ihm eine tiefe Sehnsucht. Gerade weil sein Körper solche Bewegungsvielfalt ausschloss, liebte er Anita mit platonischer aber nichtsdestoweniger sinnlicher Leidenschaft.
Es hatten gleich zwei Sender auf sein Herzblutprojekt reagiert. Serienchef Matthias Seidel, im Norden der Republik beheimatet, ließ ihm mit hanseatischer Direktheit ausrichten, eine derart widerliche Figur werde es im deutschen Fernsehen selbst im Spätprogramm nur über seine Leiche geben. Es war ein denkbar schwacher Trost, dass Fernsehspielchef Siegbert Ellen vom mitteldeutschen Konkurrenzsender im Pluralis Majestatis verkünden ließ: Wir hätten dem Stoff durchaus nähertreten können, aber da bereits ein Stoff über die Brechtinterpretin Lotte Lenya im Hause favorisiert wird, können wir leider nur unsere Hochachtung vor den Autoren zum Ausdruck bringen.
Da Seidel und Ellen sich voller Inbrunst hassten, war dieses Lob ebenso vergiftet wie bedeutungslos.
Grohl, der sich gerade einen weiteren Kaffee geholt hatte, taumelte wie ein angeschlagener Boxer zur Couch, wo Olaf ihn mit einigen Donuts aufpäppelte, wobei er weitere E-Mails unauffällig zu löschen versuchte. Grohl durchschaute den Zweck seiner Erste-Hilfe-Maßnahmen und verlangte nach der vollen Dröhnung. Als Olaf sich weigerte, schob er ihn beiseite und klemmte sich selbst an den Schirm. Mit schiefem, starrem Lächeln betrachtete er die dritte Absage: Ein Kinofilm über eine Kindersoldatin, die auf einen Bundeswehrangehörigen im afrikanischen Kriegsgebiet traf. Mit diesem Buch hatte Grohl sogar einen Preis gewonnen. Da er sich vor zwei Jahren noch um Authentizität bemüht hatte, waren die meisten Dialoge in Pidginenglisch geschrieben. Abgesagt wurde es jetzt mit der Begründung, dieser Stoff benötige zu viele Untertitel.
Die Krönung war ein Fernsehfilm über eine Verkäuferin, die psychotische Schübe hatte und in die sich drei Mechaniker verliebten. Die Redakteurin ließ ausrichten, einfache Menschen litten nicht unter psychischen Krankheiten. Das sei ein bürgerliches Phänomen.
Grohl dachte an seine Mutter, ihre mühevollen Telefonate mit der Krankenkasse wegen neuer Therapiesitzungen und an die endlos langen Fernsehabende, während denen Grohl mit seinen ironischen Kommentaren und Alternativgeschichten zum Tatortgeschehen mehr bewirkt hatte als alle Psychopharmaka. Zumindest hatte seine Mutter ihn das damals glauben lassen und dafür war er ihr, trotz aller Verwüstungen, die ihr Freitod bei ihm hinterlassen hatte, immer noch dankbar. Die heftige Bitterkeit, die in ihm hochstieg, zeigte ihm einmal mehr, wie verhängnisvoll es war, private Erlebnisse den Reißzähnen einer Fernsehredaktion zu überlassen. Er überlegte, den Computer durch eine der Schießscharten zu feuern, aber er hatte kein Geld für einen neuen. Also beschränkte er sich auf hartnäckiges Schweigen und eine Dose Red Bull.
Genau, versuchte Olaf ihn nach der Lektüre der letzten Mail mit sarkastischem Grinsen aufzumuntern, wer arm ist, ist gesund. Jedenfalls psychisch. Schau uns an!
Er klickte weiter und behauptete, es sei noch nicht alle Hoffnung verloren. Ein weiterer Sender habe den Stoff ebenfalls gelesen, die Nachricht des zuständigen Redakteurs lautete: Zwingt mich nicht, es jetzt abzusagen, vielleicht will ich es in zwei Jahren machen.
Grohl weigerte sich, das als Hoffnungsschimmer zu begreifen. Grunzlaute waren alles, was Olaf ihm in den nächsten fünf Minuten entlocken konnte. Unterbrochen wurde ihre Schaffenskrise durch das Klingeln von Grohls Handy. Olaf ging ran. Es war die bei der Tatortbesprechung verhinderte Redakteurin Neumann: Ich … kann … nicht …, lallte es aus dem Hörer. Olaf stellte auf Lautsprecher, damit Grohl dieses Highlight redaktioneller Verantwortung nicht entging: Ich … kann es … nicht machen, … ich … kann nicht mehr …
Die Verbindung brach ab. Olaf rätselte, um welches Projekt es sich handeln könnte. Doch nicht etwa den Tatort? Ihre Existenzgrundlage für die nächsten Monate, einzige Hoffnung zur Begleichung exorbitanter Schulden? Grohl war es egal. Sechs Absagen innerhalb von zwei Stunden wären ein neuer Rekord!
Der Tatort war nicht abgesagt. Das freute vor allem den asiatischen Kioskbesitzer um die Ecke von Grohls Büro, dessen Umsatz mit Süßigkeiten rapide anstieg, ein schönes Alltagsbeispiel für die ökonomische Bedeutung öffentlichrechtlicher Fernsehereignisse.
Nach fünf Tagen und Nächten waren Grohl und Olaf zwar um einige Kilo schwerer, aber keinen Schritt weiter. Sie starrten auf die Kellerwände, die irgendwann einmal weiß gewesen waren. Konnis carte blanche war längst zum chambre blanche mutiert, ein hermetischer Raum, in den die beiden sich gesperrt hatten, um pausenlos für den Maestro ein Feuerwerk der Kreativität abzubrennen. Mit tränenden Augen verfolgten sie Krimiserien aus unterschiedlichen Herkunftsländern, ließen sich da und dort inspirieren, kramten in ihrer Verzweiflung sogar alte Tatortfolgen hervor, es wollte ihnen trotzdem nichts Brauchbares gelingen. Die amerikanischen und skandinavischen Serien waren fürs deutsche Hauptabendprogramm zu anspruchsvoll, die Plots der alten Tatorte so abgedroschen, dass Grohl sich ihnen mit seinem letzten Funken Autorenstolz verweigerte.
Recherchieren war für den Arsch, das hatten sie mittlerweile begriffen. Jeder Redakteur besaß ein geradezu unheimliches Gespür dafür, ob etwas recherchiert war, und eliminierte es instinktsicher, weil es entweder die Figuren zu unsympathisch, zu düster, zu uneindeutig oder schlicht zu wenig erfolgsversprechend machte.
Grohl wusste, das beste Rezept war, zu klauen, was Redakteure kannten und liebten. Am besten, was innerhalb der letzten fünf Jahre einen Preis bekommen und gute Quoten gemacht hatte. Das Problem war, es musste gleich sein, aber nicht so gleich, dass die Redakteure es bemerkten. Grohl erinnerte sich gerne daran, wie er vor zwei Jahren der Neumann exakt denselben Tatort gepitcht hatte, den er vor acht Jahren als Erstlingswerk nach seinem Abgang von der Filmhochschule für sie geschrieben hatte. Sie war begeistert gewesen, bis Chefredakteurin Ludmilla – nennt mich Milla – Wagner den Schwindel durchschaut und die Kollegin in der Redaktionskonferenz genüsslich zur Nacktschnecke degradiert und zertreten hatte. Um Grohl zu beweisen, dass die Wagner ihrer Kollegin fachlich nicht so weit überlegen war, wie es ihre Position hätte vermuten lassen, hatte Olaf ihr eine mit deutschen Namen versehene Folge der Serie »Breaking Bad« als Pilotvorschlag zukommen lassen, die die Wagner kurz davor noch in den höchsten Tönen gelobt hatte. Es musste an den deutschen Namen liegen, dass der Wagner die Folge jetzt weitaus weniger gefiel, und sie, schließlich aufgeklärt, zu der interessanten Erklärung Zuflucht nahm, so etwas wie »Breaking Bad« sei in Deutschland nicht vorstellbar, da die Deutschen im Krankheitsfall sozial viel zu gut abgesichert seien, um solche Verzweiflungstaten zu begehen.
Grohl war inzwischen auf Schokoküsse umgestiegen, die er in Reminiszenz an seine unglückliche Kindheit Negerküsse nannte. Olaf warf ihm grinsend Rassismus vor, während er sich den letzten von zehn dieser klebrigen Köstlichkeiten in den dauergähnenden Rachen stopfte. Grohl zuckte zusammen, als habe ihn eine Starkstromdose geküsst. Es war einer der wenigen, aber existenziell wichtigen Momente, in denen Olaf ihn inspiriert hatte.
Rassismus, genau! Der Adoptivsohn der Kommissarin ist Neonazi!
Olafs Bedenken – Sympathiewert der Figur – wischte Grohl mit schokoladegesättigten Fingern beiseite und hieb in die Tasten. Das Buch schrieb sich quasi wie von selbst.
Alle fanden es großartig – bis auf den zuständigen Redakteur. Herrmann Frings, treuer Soldat im dritten Sender, mit dem Grohl »kontinuierlich und vertrauensvoll« zusammenarbeitete, im Süden der Republik beheimatet, hatte wegen der länger andauernden Unpässlichkeit der Neumann auf Befehl von Chefredakteurin Wagner die Zuständigkeit für den Tatort übernommen. Die Rusch, wegen Unerfahrenheit entmachtet, wurde nicht müde, den Autoren zu versichern, wie großartig sie und die leider nur langsam genesende Neumann, die Grohl nicht ganz zu Unrecht in einer Entzugsklinik vermutete, das Skript fänden, aber leider seien ihnen die Hände gebunden.
Frings war autodidaktisch geschulter Vorzeigedemokrat, SPD-Wähler, Brandt-Verehrer. Trotzdem war Zensur eine Selbstverständlichkeit für ihn. Neonazis, so erklärte er den staunenden Autoren, seien doch längst durch, ein abgenutztes Klischee. Vor allem in der süddeutschen Heimatstadt ihres Tatorts, auf den die Bürger bisher unglaublich stolz gewesen seien.
Der Geist unseres Tatorts spiegelt die Gesinnung der Stadt! Die allermeisten Bürger dieser Stadt sind aufrechte Demokraten!
Olaf wagte darauf hinzuweisen, dass aus dieser Stadt einer der Unterstützer des NSU … Frings stürzte sich wie ein Habicht darauf.
Das waren drei verkommene Subjekte, genau drei! Und das mit dem Unterstützer sei juristisch nie einwandfrei bewiesen worden. Vor Aufregung verfiel er in seinen unfreiwillig komisch wirkenden Heimatdialekt. Er werde nicht zulassen, dass wegen dieser drei Verbrecher eine ganze Stadt von dekadenten Prenzelbergautoren denunziert werde!
Wieso, wir wollen doch nur einen einzigen Neonazi?
Den Sohn der Kommissarin! Unserer Hauptfigur!
Frings rang nach öffentlich-rechtlicher Luft.
Grohl beschloss, sich ein T-Shirt mit der Aufschrift »dekadenter Prenzelbergautor« anfertigen zu lassen. Zur Beruhigung tunkte er einige Kekse in den Automatenkaffee des Senders, der noch schlechter war als bei R & R.
Genau. Es gab drei Nazis, die sind tot oder verhaftet. Seitdem ist Großdeutschland volldemokratisch und nazifrei.
Frings war immun gegen jeglichen Sarkasmus. Das Thema sei viel zu ernst, um in billigen Negativklischees zu baden. Olaf, verzweifelt ihre Schulden, die Erlöse der Abnahmerate und des fünfzigprozentigen Buyoutanteils im Blick, schlug den Kompromiss eines unpolitischen Taschendiebs vor. Aber Frings wollte überhaupt keinen Kriminellen als Kommissarinnensohn.
Er kann doch auch was Gutes machen und trotzdem interessant sein. Nur bei schlechten Autoren sind die Menschen immer nur böse!
Grohl brauchte den Rest der Kekse.
Genau. Er kann im Flüchtlingsheim Kissen ausschütteln.
Frings verwies darauf, die korrekte Bezeichnung laute »Geflüchtete«. Und Geflüchtete fand Frings ebenfalls abgedroschen. Außerdem solle man die Bevölkerung durch das zu häufige Präsentieren von Geflüchteten nicht unnötig provozieren.
Also doch herzkrank.
Frings wollte auch keinen Kranken. Die Besprechung fokussierte sich zunehmend auf die Frage, was wollte Frings? Frings wusste es nicht, er wusste nur ganz genau, was er nicht wollte, und das war viel. Gute Autoren, so sein abschließendes Statement, könnten seine Ablehnung als Quelle der Inspiration nutzen.
Wieder einmal war in Grohls Autorenkarriere der Punkt erreicht, an dem ihm nur noch eine Person weiterhelfen konnte: seine Agentin. Elfi Traun, dritte Tochter eines Inkassoanwalts aus der Wiener Vorstadt, war so klein und wendig, dass sie mühelos alle Fallstricke des deutschen Fernsehwesens überwand. Da sie Grohl im finanziell abgesicherten Hafen eines Tatorts vermutete, lud sie ihn zum Italiener ein. Umso erboster war sie, als ihr »Künstler« sie während der Vorspeise um einen Vorschuss bat.
So schaust aus! Du willst von mir a Geld, nach all dem Mist, den du und deine sauberen Freunde mit diesem scheiß Körbchenmodell gebaut ham?
Grohl erinnerte sich nur ungern an die letzte Sitzung des Drehbuchverbandes. Dort war den staunenden, weniger aktiven Mitgliedern vom Vorstand erklärt worden, dass man sich mit den Sendern auf einen deutlich niedrigeren Buyout für die Neunzigminüter verständigt habe als bisher. Alternative, sogenannte Körbchen sahen noch bescheidenere Zahlungsmodalitäten vor. Summen, die auf den ersten Blick großzügig wirkten, relativierten sich, wenn man wie Elfi wusste, dass das Verhältnis zwischen geplatzten und realisierten Stoffen mittlerweile bei zwanzig zu eins lag und man nur in Ausnahmefällen über die ersten zwei Raten hinauskam, die bei fünfzig Prozent Abnahmeanteil nur äußerst selten 22 000 Euro überstiegen, für die man ganz leicht mal ein bis zwei Jahre schuften konnte.
Seid ihr alle deppert?
Sie nahm Grohl seine Vorspeise weg.
Was hast im Hirn? Die Elfi richtets irgendwie! Geh scheißen!
Grohls Finger wedelten um Mitleid bemüht über das schneeweiße Tischtuch.
Die Geste gehörte zum Stammrepertoire eines Stummfilmstars, dem er nicht ganz unähnlich war.
Ich weiß nicht, wie viele Körbchen, BHs und andere Schweinereien da beschlossen wurden, ich weiß nur, ich hab kein Geld und muss zum Ersten aus der Wohnung raus, wenn ich nicht zahle.
Zieh in dein Büro. Da lebst eh meistens.
Da muss ich auch raus. Aber wir wehren uns jetzt. Ehrlich!
Stolz berichtete er Elfi von einer Initiative seiner Drehbuchkollegen, die ein sogenanntes Protestpapier erstellt hätten, in dem die schlimmsten Missstände angeprangert würden. Elfis Augen bekamen den ausdruckslosen Glanz eines Terminators.
Und da willst unterschreiben?
Grohls Finger tasteten unauffällig nach dem Rest der Vorspeise.
Warum nicht? Zwei Andere ham schon unterschrieben.
Ja, und die sind für immer arbeitslos.
Grohl protestierte. Fernsehspielchef Siegbert Ellen hatte ihm bei einem der zahllosen Fernsehfestchen, die sich immer noch als Filmfeste präsentierten, versichert, wie sehr er diese längst überfällige Autoreninitiative begrüße.
Elfi griff gefährlich zur Gabel.
Und des glaubst du?
Für Elfi war glasklar, dass jeder, der dort unterschrieb, sofort bei allen Sendern auf die Schwarze Liste kam, die es natürlich offiziell nicht gab, und ebenso klar war für sie, dass die Vorstandsmitglieder für ihr selbstmörderisches Körbchenmodell von den Sendern mit lukrativen Aufträgen überschüttet worden waren, ein Verdacht, den Grohl bisher nicht zu denken, geschweige denn zu äußern gewagt hatte.
Ich hab aber versprochen, dass ich unterschreibe!
Elfis Gabel bohrte sich knapp neben Grohls Hand in die letzte Olive seiner Vorspeise.
Wenn du das unterschreibst, komm i in dein Büro und bind di an der Heizung fest!
Die ist kaputt.
Elfi fand das nicht lustig. Schließlich einigte man sich gegen Grohls Versprechen, niemals irgendetwas zu unterschreiben, was Elfi ihm nicht ausdrücklich genehmigt hatte, auf einen Vorschuss von 3000 Euro.
Aber dafür schreibst alles, was i dir anschaff. Die Betonung liegt auf alles!
Mach ich doch sowieso.
Elfi schwor sich wieder einmal, nie mehr einen Autor in ihre Agentur aufzunehmen. Autoren waren immer schwierig, jammerten, brauchten ewig für ihre Bücher, brachten kein Geld. Sie blickte auf die Uhr. Sie musste sich noch mit einem Serienschauspieler treffen, der mit seiner bisherigen Agentur unzufrieden war. Dessen Eitelkeit war zwar unerträglich, aber er würde ihr in einem Monat mehr Geld bringen als Grohl in drei Jahren.
Die wundersame Rettung kam ausgerechnet in Form von Chefredakteurin Ludmilla Wagner. Zumindest glaubten Grohl und Olaf so lange an ein Wunder, bis Elfi ihnen steckte, dass sie der Wagner bei einer der zahllosen Premieren, die selbst die wertloseste Serie mittlerweile im Kino bekam, angedeutet habe, dass ihr Redakteur Frings, »der Schwabenpfeil«, sich damit brüstete, dieses High-End-Meisterwerk deutscher Fernsehkunst völlig alleine aus dem Boden gestampft, mehr noch, es mit berserkerhaftem Mut gegen seine Chefin Wagner durchgesetzt zu haben. Geschickt nutzte Elfi die Tatsache, dass die Wagner als eine Art erster Festakt der deutschen Wiedervereinigung kurz nach der Wende in einen süddeutschen Sender exportiert worden war. Dort stellte sie schnell fest, wie gut ihre FDJ-Vergangenheit mit der süddeutschen Kleinbürgerseele harmonisierte. Intern fühlten sich natürlich hauseigene Gewächse wie Frings übergangen und schossen quer, was wiederum dazu führte, dass die Wagner Grohls Buch las und – begeistert war: Welche Tragik! Unsere Kommissarin war immer eine gute Mutter, hat zwischen harten Polizeieinsätzen ihrem Sohn die Brust gegeben, sich aufgearbeitet – und jetzt das! Obwohl sie alles für ihren geliebten Sohn getan hat, wird er Neonazi!
Grohl und Olaf starrten sie mit offenen Mündern an. Sie erkannten ihr eigenes Buch nicht wieder. Sie waren sicher, die Wagner, der mittlerweile Tränen in die Augen gestiegen waren, hatte bestenfalls drei Seiten gelesen – aber egal. Hauptsache, sie war »tief beeindruckt« und mehr noch, sie war sogar bereit, die Selmau davon zu überzeugen, dass sie das unbedingt spielen müsse. Leider stellte sich jetzt heraus, die Wagner hatte offensichtlich wenigstens zwanzig Seiten gelesen, denn in einem Nebensatz merkte sie fröhlich an, natürlich müsse die jetzige Fassung bis nächste Woche komplett überarbeitet werden.
Ich will weinen können! Dann wird alles gut, beendete sie mit Doppelküsschen die Besprechung. Bis aufs Buch, fügte Grohl im Stillen hinzu.
Immerhin hatte das Projekt bei R & R jetzt allerhöchste Priorität. Selbst Konni war der Meinung, bei diesem hochpolitischen Thema müsse ausnahmsweise recherchiert werden, und so wurde den Autoren eine noch nicht gänzlich mit kleinbürgerlichen Moralvorstellungen zugekleisterte Praktikantin zur Verfügung gestellt, die ihnen in Tag- und Nachtarbeit wirklich gutes Recherchematerial auf den Tisch legte.
Im Fränkischen, nicht allzu weit von ihrer fiktionalen Fernsehstadt entfernt, war der Oberbürgermeister, weil er einen Kranz der national gesinnten Kräfte zur Erinnerung an den Luftangriff der Alliierten auf Dresden mit der Aufschrift »Holocaust der Deutschen« hatte wegräumen lassen, in seinem Haus vom rechten Mob umzingelt und mit Erhängen durch ein deutsches Standgericht bedroht worden. Die ortsansässige Polizei war leider mit Fußballhooligans derart beschäftigt gewesen, dass der bedauernswerte Mann sich mit seiner Familie zwei Stunden lang in seinem Eigenheim hatte verschanzen müssen, bis sich die ersten Beamten zu einem Einsatz bequemten.
Grohl und Olaf, die immer noch rätselten, ob die Wagner selbst einen drogenmäßig abgestürzten Sohn hatte oder ob sie gar ein dunkles Zeugungsgeheimnis mit den NSU-Highlights Uwe und Uwe verband, glaubten endlich, ihren Plot gefunden zu haben. Ein Bürgermeister, der den Machenschaften rechter Geschäftemacher in der Stadt Einhalt gebieten will, wird von seinem Polizeiapparat im Stich gelassen und natürlich von einer rechtsstaatlich entschlossenen Fernsehkommissarin gerettet. Zur Not konnte man sich unter diesen Umständen eine muttermilchtriefende Polizistenmutter leisten, die selbstverständlich völlig schuldlos am Abgleiten ihres Sohnes war. Die Szenen schrieben sich wie von selbst und Grohl spürte seit Jahren beinahe wieder so etwas wie Spaß bei der Arbeit.
Mittlerweile hatte leider die Selmau Wind davon bekommen, dass sie die Mutter eines Neonazis spielen sollte, und war, gelinde gesagt, entsetzt. Als sie hörte, dass dieser Stoff eine Herzensangelegenheit der Wagner sei, rief sie, taktisch geschult, Konni an und säuselte ihm vor, sie habe mittlerweile einige Szenen aus Grohls ursprünglichem Drehbuch – die missbrauchten Zigeunerkinder – mit ihrem Coach Bertram probiert und überraschend Zugang gefunden. Konni malte sich genüsslich aus, wie dieser Zugang ausgesehen haben mochte, während er in seinem Hinterstübchen die Realisierungschancen des Neonazistoffs unter den gegebenen Umständen pfeilschnell abwog, und versicherte Anni, er habe den Roma-Stoff schon immer präferiert – Kinder als Opfer geht supergut, fast so gut wie Tiere.
Er versprach »seiner Nummer 1«, die Wagner umgehend von ihrer Neonazi-Mutterfiktion zu erlösen.
Risotto erhielt den Auftrag, den Autoren mitzuteilen, jede Weiterarbeit an »diesem Nazischeiß« sofort einzustellen und wieder auf das Pädophilen-Buch umzuschwenken. Die 241 Anmerkungen von Anni gingen ihnen heute noch per E-Mail zu.
Während Olaf ein Poster von der Selmau an der Wand befestigte und ihren leicht geöffneten Delphinmund mit Dartpfeilen pflasterte, kreuzte zu allem Überfluss auch noch Grohls Teilzeitfreundin Lisa auf. Sie hatte geahnt, dass Grohl seit seinem letzten Diätversuch wieder zugenommen hatte, und brachte ihm ein Buch mit dem nur bedingt stimulierenden Titel »Sex für Dicke« mit.
Grohl bemerkte trocken, das hab ich schon. Merkt man das nicht?
Lisa nahm mit weiten drehenden Bewegungen den Raum in Besitz und empfahl Olaf einen inspirierenden Abendspaziergang im Park. Olafs Einwand, der nach realsozialistischen Kriterien durchkomponierte Park inspiriere ihn ungefähr so sehr wie eine durchgeschwitzte Socke, konterte Lisa mit einem, das liegt nicht am Park, sondern an dir.
Olaf ging und Lisa schmiegte sich an Grohl.
Ich weiß, ich bin gemein, aber so bin ich nun mal. Ich bin ein einziges, wandelndes Negativklischee.
Grohl rieb seinen grau werdenden Wochenbart an ihr.
Deswegen steh ich auf dich.
Lisa umarmte ihn.
Du bist auch missbraucht worden, Grohl. Das ist der Link zwischen uns.
Ich bin nicht missbraucht worden, ich werde missbraucht. Täglich!
Lisa küsste seinen pflaumigen Mund.
Deswegen finde ich dich so süß.
Während ihre Zungen zueinander fanden, überlegte Grohl. Er war alleine bei seiner Mutter aufgewachsen. Möglicherweise war er von ihr betatscht worden, er konnte sich nicht erinnern und hatte auch keine gesteigerte Lust, es in einer Gemeinschaftstherapie herauszufinden, wozu Lisa ihn ungefähr zweimal die Woche überreden wollte. Ob betatscht oder nicht, das Leben war hart und beschissen.
Grohl erinnerte sich an einen Schauspielworkshop, an dem er, als er noch Regieambitionen hegte, teilgenommen hatte. Es war einer dieser wilden Workshops gewesen, den selbsternannte Gurus abhielten, die angeblich noch bei »Lee« die Straßberg-Methode erlernt hatten. In der Praxis war es ein dilettantisches Coachingseminar für psychisch Durchgeknallte mit einer hundertprozentigen Chance für den Veranstalter, umsonst arbeitslose Schauspielerinnen zu vögeln. Eine dieser bedauernswerten Kreaturen hatte, nachdem die gesamte Gruppe eine halbe Stunde lang verbal auf sie eingeprügelt hatte, heulend gestanden: Bevor ich gar nichts fühle, leide ich lieber.
Grohl fand, das war immerhin eine Einstellung.
Lisas Kuss währte so lange und leidenschaftlich, dass Grohl wenig erstaunt über die anschließende Zahlungsaufforderung war. Sie verlangte, dass er ein Drehbuch, bei dem sie Regie führen sollte, bearbeitete, die 87. Folge einer niederbayerischen Copserie. Grohl wollte lieber nicht wissen, wie sie diesen Regieauftrag ergattert hatte. Er konnte kein Bairisch, bis auf das Wort »Bockfotzen«, und das durfte nicht vorkommen.
Lisa zog Grohl in die Küche, die einer wilden Müllhalde glich, und flüsterte ihm ins Ohr, sie werde ihm einen blasen, bis er glaube, ein Symphonieorchester spiele in seinem Körper, wenn er das Buch, das im Augenblick kompletter Schwachsinn sei, in drei Tagen umschreibe. Grohl spürte, dass sie seine Hilfe dringend benötigte, und fühlte sich zumindest angemessen bezahlt.
Lisas virtuose Bemühungen wurden von einem erneuten Anruf unterbrochen.
Konni hatte mit seinem gesamten Charme auf Granit gebissen. Die Wagner war geradezu versessen auf den Neonazistoff, aus Gründen, die in ihrem wohlweislich gehüteten familiären Dunkel lagen, und verteidigte ihn mit Zähnen und Klauen. Sie zitierte die Selmau in ihr Büro und nach dem üblichen Gesülze – nur eine so starke Frau wie du kann das spielen, Anni – Ja ich weiß, liebste Milla, die Rolle fühlt sich für mich aber nicht richtig an – eröffnete ihr die Wagner, wenn sie sich weigere, werde sie in der nächsten Folge einen qualvollen Tod sterben und durch ihre schlimmste Konkurrentin ersetzt werden.
Dann schenke ich mein Geld eben jemand Anderem!
Selbst Anni war für einen Moment sprachlos.
Dein Geld? Das sind Gebührenzahler, meine Zuschauer, die mich lieben …
Und die dich in zwei Monaten vergessen haben! Und falls du vorhast, zur Presse zu laufen, das sitze ich auf einer Arschbacke ab.
Die Selmau musterte das in der Tat unzerstörbar wirkende Gesäß der Chefredakteurin, das von einem der weit geschnittenen Hippiekleider verhüllt wurde, die die Wagner bevorzugte – möglicherweise, weil sie zur Zeit der Flowerpower auf der weniger vergnüglichen Seite der Mauer im blauen Hemdchen hatte strammstehen müssen. Für diese triste Jugend hatte sie sich nach der Wiedervereinigung reichlich entschädigt. Sie war nicht nur in der Senderhierarchie weit aufgestiegen, sondern wahlweise auch Geschäftsführerin einer sendereigenen Produktionsfirma, die jedes Jahr Löwenanteile des fiktionalen Programms produzierte. Böse Zungen behaupteten, dass sie zeitweilig zwei Gehälter kassierte. Aber das behielt Anni, trotz ihrer Wut, selbstverständlich für sich. Voller Genugtuung registrierte die Wagner, wie sich die Selmau weitere renitente Bemerkungen verkniff.
Also, du spurst jetzt und dann winkt vielleicht, ich sage vielleicht: Leni Riefenstahl!
Anni brachte ein Lächeln zustande, das die meisten ihrer schauspielerischen Leistungen übertraf.
Grohl kannte solche Szenen so gut, dass er sie hätte nachspielen können, aber dafür war jetzt keine Zeit. Er sortierte seine Kleidung, versprach Lisa eine Überarbeitung der bayerischen Copserie in zwei Tagen, verabschiedete sie mit dem Hinweis, er könne sich nur alleine richtig konzentrieren, und machte sich mit dem zurückgekehrten und erwartungsgemäß wenig inspirierten Olaf sowie einem Pappkarton frisch gekaufter Donuts an den Feinschliff der Neonazigeschichte.
Um vier Uhr morgens einigten sie sich auf eine Fassung, die sie umgehend dem von Konni – natürlich nach Rücksprache mit Chefredakteurin Wagner – frisch engagierten Regisseur Felix von Kraich vorlegen konnten.
Kraich, Spross einer Adelsfamilie, hatte es eigentlich nicht nötig zu arbeiten. Deswegen gab er Kurse als Tai-Chi-Lehrer, in denen er selbst vor Baumumarmungen nicht zurückschreckte, und unterrichtete dank exzellenter Verbindungen seines Vaters in die Lokalpolitik an einer der beiden örtlichen Filmhochschulen. Unbestätigte Gerüchte seiner Filmstudenten munkelten von Tantraseminaren, die er für experimentierfreudige Filmschaffende abhielt, deren Teilnehmerinnen mindestens zwanzig Jahre jünger waren als der makrobiotisch optimierte Mittvierziger und deren wichtigster Leitsatz lautete: Nicht bewegen!
Grohl und Olaf machten daraus Gebot Nummer acht: Alles bewegen! Was bedeutete, dass Drehbuchautoren immer, überall und in jede Richtung flexibel bleiben mussten.
Weniger sinnliche Gerüchte sprachen davon, dass vielversprechende Studentenstoffe, die man von Kraich zeigte, ein Jahr später unter seiner Regie in leicht veränderter Form ihren Weg auf den Fernsehschirm fanden. Wie so häufig bei Leuten, die kein Geld brauchen, zeichnete von Kraich eine geradezu unbeschreibliche Geldgier aus. Trotzdem hätten Grohl und Olaf es viel schlimmer treffen können – Kraich war ein ganz brauchbarer Fernsehhandwerker.
Kraich las das Manuskript und war auf Anhieb – schwer beeindruckt. Man war sich bei einem Gläschen Prosecco am frühen Morgen einig, kein Blatt Papier dürfe zwischen Regisseur und Autoren passen, wenn man diesen mutigen Stoff unbeschadet über die zahlreichen Hürden balancieren wolle, die die Sender und Produktionshierarchien weiterhin für die geplagten Kreativen bereithielten.
Die erste fulminante Hürde fand sich auf Anhieb: Chefredakteurin Wagner las das Manuskript und war – entsetzt. Sie habe sich seit Jahren nicht mehr so sehr auf eine Lektüre gefreut und sei jetzt maßlos enttäuscht. Jeden von Grohls schüchternen Einwänden, der darauf abzielte, sie habe die Geschichte doch gewollt, parierte sie mit einem schmerzerfüllten: Aber doch nicht so!!
Vor allem die Szenen rund um den festgesetzten Oberbürgermeister bereiteten ihr beinahe körperliche Schmerzen. Die deutsche Polizei dürfe auf gar keinen Fall als Helfershelfer der Neonazis dargestellt werden, und als Olaf auf einwandfrei durch Recherchen festgelegte Tatsachen hinwies, hatte das nur zur Folge, dass Konni nach einem Anruf der Wagner die bedauernswerte Praktikantin, die den Autoren zugearbeitet hatte, fristlos entließ.
Frings, der vorübergehend in Ungnade gefallene Lakai der Wagner, witterte nun ebenfalls wieder Morgenluft und zerpflückte in einer Sechsstundensitzung das Buch so gnadenlos, dass bis auf den Titel nichts mehr übrigblieb. Von Kraichs unverbrüchliche Unterstützung reduzierte sich nach dieser Sitzung auf die Feststellung, er brauche in sechs Wochen ein verfilmbares Buch. Was drin stehe, sei ihm so langsam egal. Er verabschiedete sich mit einem tröstenden Schulterklopfer zu einer nachmittäglichen Tai-Chi-Runde mit einer besonders attraktiven Regieassistentin, die gerne an Baumrinde roch.
Die Wagner delegierte die Details der neuen Buchfassung an Frings, der Grohl und Olaf zur Revanche für seine Entmachtung, an der die Autoren im Grunde schuldlos waren, mit einer Liste von Vorgaben zupflasterte: Zuallererst! Es gehe unter gar keinen Umständen, dass sie die Stadt, in der sie großzügigerweise Dreherlaubnis hätten, als eine Stadt bezeichneten, die von Neonazis unterwandert sei! Er, Frings, sei dort aufgewachsen und wisse besser als irgendeine dahergelaufene Praktikantin, die höchstens zwei Tage recherchiert habe, dass die Bevölkerung dort seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen die ganz wenigen Rechtsradikalen führe, die möglicherweise in den Randbezirken der Stadt ihr Unwesen trieben.
Aber, erdreistete sich Grohl einzuwerfen, es geht doch nicht um die reale Stadt, es ist doch Fiktion!
Frings verbat sich solche Haarspaltereien.
Da die Autoren darauf bestanden, in ihrem fiktionalen Stoff wenigstens ein Spiegelbild der drei NSU-Terroristen zeichnen zu dürfen, gestand er Olaf und Grohl schließlich zähneknirschend drei Neonazis für ihr Drehbuch zu. Aber: keine Hakenkreuze, keine Nazimusik, keine Nazitexte!
Grohl verdaute die Nachricht gemeinsam mit einigen mitgebrachten Schokoriegeln, mit denen er Konnis Obst- und Mineralwassertempel vorsätzlich entweihte. Seine braun gefärbten Finger schmierten genüsslich über die frisch gereinigte Glastischplatte. Frings entging die subtile Insubordination dieser Geste, Risotto hing seit Beginn der Besprechung ohnehin nur stumm in seinem Stuhl, während sein linkes Bein in eine längst überwunden geglaubte ADHS-Phase zurückfiel. Grohl leckte sich die Finger.
Wir sollen also Neonazis erzählen, die keine Neonazis sind.
Genau, sagte die Wagner, die gerade mit Konni den mittlerweile von Scheinargumenten vernebelten Besprechungsraum von R&R betreten hatte, mit emotional aufgeladener Stimme, das sind alles fehlgeleitete Kinder!
Grohl versuchte, standhaft zu bleiben: Da darf keine Schmonzette draus werden! Die Sache mit dem Bürgermeister und der Polizei muss drinbleiben!
Frings schlug vor, aus dem umzingelten Bürgermeister einen Imbissbudenbesitzer zu machen.
Warum nicht gleich einen Luftballonverkäufer, fragte Olaf.
Frings fand diese Bemerkung unangemessen.
Macht, was ihr wollt, beendete die Wagner die Diskussion, da wieder einmal wichtige Repräsentationstermine anstanden. Das Wichtigste ist: Ich muss weinen können!
Frings folgte in ihrem Kielwasser, da er hoffte, endlich auch mal positiv in einem Zeitungsartikel genannt zu werden.
Prima, Grohl krönte den Schokoladenpudding in seinem Bauch mit einer schneeweißen Meringe, wir erzählen Nazis ohne Nationalsozialismus.
Öffentlich-rechtlich kompatibel, sekundierte Olaf.
Grohl beendete sein Dessert mit einem neuen Pitch.
Bei Plotpoint 1 bringt der Obernazi die illegal beschäftigte, nigerianische Putzfrau des Bürgermeisters um, hat einen Mitleidsflash und kümmert sich anschließend um ihre fünf Kinder.
Womit wir wieder bei unserem Pädophilenstoff wären.
Olaf war versucht, eine der Kristallobstschalen in die zahlreichen Pokale zu feuern, die Konni bei den letzten Preisverleihungen abgestaubt hatte.
Je te comprends complètement, Schätzelschen.
Konni entwand ihm die Schale mit der Kraft des geübten Hotelpoolschwimmers.
Glaubt mir, isch bin total auf eurer Seite. Schreibt der Wagner den verlorenen Sohn rein, dann drück isch euren belagerten Bürgermeister dursch. Écoutez, isch finds supergut.
Von der Chefetage wieder aufgerichtet machten sich die beiden Autoren erneut ans Werk. Nach zwei Tagen und Nächten standen die ersten dreißig Seiten. Auf den Anfang waren sie wirklich stolz und auch ihr Regisseur fand ihn richtig klasse: Ein Asylbewerber wurde von Neonazis, darunter dem fehlgeleiteten Kommissarinnensohn, mit Gotchawaffen durch die Stadt gejagt. Da alle Nazis maskiert waren, hatten sie zur Not die Weichspülversion in der Rückhand, dass der Sohn ihrer Heldin möglicherweise nicht involviert war.
Grohl und Olaf intonierten, während sie wegen Nachschubmangel mit zwei Tassen Pulverkaffee anstießen, Gesetz Nummer neun: Das überlassen wir der Fantasie des Zuschauers!
Die jetzt folgende Wendung überstieg allerdings selbst die Fantasie der Autoren. Frings eröffnete ihnen, die Idee mit den Gotchawaffen würde leider nicht gehen, da von Kraich sie bereits für eine weitere Tatortfolge benutze. Nicht nur von Kraichs Drehbuchtätigkeit war den beiden verblüfften Autoren völlig neu, sie hätten ihrem Regisseur gerne auch die Frage gestellt, warum er für seine Folge exakt den Anfang verwendete, den sie ihm vor zwölf Stunden am Telefon gepitcht hatten. Doch von Kraich war leider nicht zu erreichen.
Weitere Nachforschungen der beiden Autoren – endlich war Recherche einmal nützlich – zwangen zu einer noch unangenehmeren Schlussfolgerung: Von Kraich schrieb nicht etwa an einer weiteren Tatortfolge, er war offensichtlich von Frings beauftragt worden, für die Folge der beiden fassungslosen Autoren eine Backup-Version zu erstellen.
Grohl, der schwer aus der Fassung zu bringen war, rief mit stark erhöhtem Puls seine Agentin an, die interessanterweise auch von Kraich vertrat.
Das ist dein Klient! Das hast du gewusst!
Elfi bearbeitete gerade ihre vom Vorabendempfang gestressten Fußsohlen mit einem extra leichtgängigen, edelhölzernen Rollgerät.
Geh, schleich di! I hatt kaa Ahnung. I musst mir gestern drei Stunden die Beichte vom Siegbert anhören. Der arme Mann opfert sich auf. Für die Rente der Mitarbeiter! Für die Qualität des Programms! Und des bei den viel zu niedrigen Gebühren!
Wahrscheinlich hatte sich Fernsehchef Siegbert Ellen seine Agentin als Gesprächspartnerin auserkoren, weil beide exakt dieselbe Körpergröße besaßen, aber Grohl hatte im Augenblick andere Sorgen.
Lenk nicht ab! Du weißt ganz genau, was Kraich da hinter unserem Rücken treibt!
Elfi unterbrach empört ihre Fußrollübungen.
Sag amal, wie redst du denn mit mir? Ist doch nicht meine Schuld! Hab ich dir nicht gesagt, keine Widerworte?
Ich wollte doch nur …
Hab ich nicht gesagt: Schreib alles so, wies gefragt ist!
Grohl seufzte tief.
Ich wollte ja nur, dass es gut wird …
Was is die Lebensplanung? Genial und obdachlos?
Elfi nahm ihre Fußdurchblutung wieder auf.
Ich weiß, mein Lieber, du bist begabt, aber irgendwann muss es jetzt schnakseln.
Sie legte auf und stöhnte ihrer Assistentin zu: Seit der von der Filmhochschul runter ist, zieh ich den durch. Mit den Tantiemen könntst net amal an äthiopischen Flüchtling durchfüttern. Dem sei Karrier aufbauen is schlimmer als der Turmbau zu Babel! Nie mehr Anfänger, des sog i dir! Ich nehm nur noch Leut, die mindestens fünf verfilmte Titel ham.
Die hat Grohl doch.
Ja, in zehn Jahr!
Ihr Zeigefinger zielte auf die Schläfenmitte ihrer Assistentin.
Die 3000 kriegt er erst, wenn klar ist, dass der Schaaß gedreht wird!
Von Kraich wurde durchgestellt. Er erkundigte sich nach dem Verbleib seiner ersten Vertragsrate. Elfi beruhigte ihn und lobte seine bisherigen Skriptideen, obwohl sie selbst als dramaturgisch ungeschulte Agentin deren Dürftigkeit nicht übersehen konnte. In diesen unsicheren Zeiten war auch für eine Agentin ein Backup unverzichtbar.
Es gingen weitere fünf Tage und Nächte mit pausenloser Arbeit, verworfenen Ideen, verbotenen Vorschlägen, nicht annehmbaren Gegenvorschlägen, sich widersprechenden Handlungssträngen, Verzweiflungsanfällen und Zwischenfassungen ins Land, bis ausgerechnet von Kraich ihnen zu Hilfe kam: Sein Exposé, das auf der nicht gerade revolutionären Idee eines Geldtransporterüberfalls beruhte, war so schlecht, dass selbst die Wagner es bemerkte. Frings schloss sich umgehend ihrer Meinung an und Risotto nahm für sich in Anspruch, Überfälle jeglicher Art schon seit Langem abgedroschen zu finden.
Es war ein Pyrrhussieg der beiden Autoren, denn jetzt wandte die Wagner ihre geballte Aufmerksamkeit dem letzten verbliebenen Manuskript zu: Kategorisch verfügte sie, nicht nur die Fernsehkommissarin müsse eine ganz außerordentlich gute Mutter sein und ihren Sohn abgöttisch lieben, was in der vorliegenden Fassung nach wie vor nicht ausreichend zum Ausdruck gebracht werde, nein, viel besser noch, auch der Sohn liebe seine Mutter mindestens ebenso abgöttisch und deswegen verrate er am Schluss seine Neonazifreunde an sie.
Grohl wagte einzuwerfen, das fände er nach den bisherigen Recherchen äußerst unrealistisch.
Konni kam Risotto zuvor: Écoutez, wir machen hier keinen Dokumentarfilm für 20 000, bei 1,2 Millionen Etat brauchen wir ein paar Zuschauer.
Aber …
Konni erstickte jeden weiteren Protest mit Gesetz Nummer eins: Scheißegal, isch will Emotion!
Ich weiß, was der 20 :15-Uhr-Zuschauer will, sekundierte die Wagner, bringt mich und meine Zuschauer zum Weinen, die Ergriffenheit enthob selbst ihren Busen vorübergehend den Gesetzen der Schwerkraft, dann erlaube ich alles!
Genau, entfuhr es Grohl, weinen ist besser als Sex!
Zur Strafe für diese Bemerkung handelten sich die Autoren einen neuen Schluss ein: Die gesamte Stadt jagte in einem Finale, für das Konni tatsächlich die Umschreibung »captivant« verwendete, die einzigen drei Neonazis, die es in dieser Tatortstadt geben durfte. Eigentlich zweieinhalb, da der Sohn der Kommissarin sterbend sein mittlerweile blutendes, aber demokratisch reingewaschenes Herz entdeckte.
Und selbstverständlich wurde der Bürgermeister am Ende von Polizei und mutigen, fest in der gesamtdeutschen Demokratie verwurzelten Einwohnern der Stadt befreit.
Angesichts der letzten Umfragewerte der AfD fühlte Grohl mittelstarken Brechreiz in sich aufsteigen. Olaf musterte ihn flehend: Die Abnahmerate! Das letzte Drittel! Haben oder Nichthaben.
Zurück ins chambre blanche! Grohl kippte drei doppelte Espressi, gefolgt von einer Zweiliterflasche Cola Light, schob Olafs besänftigende Ratschläge beiseite und hieb in wilder Wut das neue Buch in den Computer. Mit brennenden Augen starrte er auf den Schirm. Wenn Festplatten ein Qualitätsbewusstsein hätten, müssten sie jetzt schmelzen! Das einzige, was schmolz, war die Schokolade, die ihn während der letzten Stunden am Schreibtisch festgehalten hatte. Für jeden schrecklichen Satz musste er sich belohnen. Ein süßer Peitschenschlag, mit dem er seinem Körper ein weiteres Kilo auf die Rippen quälte.
Der Moment für einen Kleidungswechsel war gekommen. Grohl zog sich ein XXL-Shirt mit der Aufschrift »Schreibhure« über und fühlte sich umgehend besser. Das Shirt wirkte wie eine Beichte, eine Absolution. Beinahe wie von selbst floss ihm die Sterbeszene aus den mit Schokoerdnüssen gestärkten Fingern. Mit letzten tränenerstickten Atemzügen bat der Neonazisohn seine Polizistenmutter um Verzeihung. Wenn er länger gelebt hätte, hätte er sich um das kleine Ausländermädchen aus dem Nachbarhaus gekümmert.
Während sich alle Anderen das Lachen über dieses, von Grohl in einem Anfall letzter, verzweifelter Renitenz mit unterschwelligem Sarkasmus gespickte, Manuskript verbissen, schließlich stand ein Tatortetat von 1,2 Millionen auf dem Spiel, weinte Milla Wagner geschlagene sieben Minuten.
Dafür bekommst du den Grimme-Preis!
Grohl versuchte, wenigstens einen Moment lang daran zu glauben. Ebenso wie daran, dass er so viel Widerstand geleistet hatte wie möglich. Es gelang ihm nicht wirklich. Hatte er gedacht, alle Leidensstationen eines Tatortautors erfolgreich durchlaufen zu haben und endlich am Kreuz zu hängen, wurde er umgehend eines Besseren belehrt.
Felix von Kraich, nach wie vor als Regisseur vorgesehen und frisch sensibilisiert durch ein Tantraseminar, fühlte die Figuren nicht.
Zwei Wochen vor Drehbeginn war an eine Auswechslung des Regisseurs nicht zu denken und als erfahrener Fernsehhandwerker wusste Kraich das natürlich. Alles lief darauf hinaus, dass er eine Regiefassung schrieb. Dafür verlangte er, bescheiden wie er war, die Abnahmerate, ein Drittel der Gesamtgage. Risottos aktuelle Songzeile lautete mittlerweile: Du musst ein Schwein sein auf dieser Welt!
Grohl wusste, von seiner Agentin war keine Hilfe zu erwarten. Der war es relativ egal, ob sie ihre Tantiemen von Grohl oder von Kraich kassierte, und von Kraich war im Zweifelsfall der weitaus lukrativere Klient. Konni heulte Krokodilstränen – isch bin völlig auf deiner Seite –, aber so kurz vor Drehbeginn sei von Kraich nicht zu ersetzen. Außerdem würde ein anderer Regisseur möglicherweise auf einem komplett neuen Buch bestehen.
Du weißt, Schätzelschen, das nächste Mal hast du dafür carte blanche bei mir.
Grohl wollte keine carte blanche, er wollte gar nichts mehr, vor allem nie mehr schreiben. Er kam sich vor wie rudelgefickt und ausgekotzt.
Olaf, einziger treuer Freund an diesem schwarzen Tag in einer an Dunkelheit nicht armen Zeit, brachte mit einer frisch gekauften Schwarzwälder Kirschtorte einen schwachen Lichtstrahl in ihr demoralisiertes Kellerbüro. Immerhin hatten sie ja den Tatort geschafft! Nach dem fünften Stück Kuchen ging es Grohl wieder so gut, dass Olaf sich traute, ihm die zweite Neuanschaffung des Tages zu präsentieren. Ein gebrauchtes Borgward-Cabrio aus den Sechzigern, das Olaf mit seinem Honoraranteil zu bezahlen gedachte. Grohl verwies verwundert auf die diversen Mietrückstände, aber Olaf war durch die Erfahrungen der letzten Wochen zu dem Schluss gelangt, ihr Leben sei so beschissen, dass sie es unter allen Umständen genießen müssten.
Dieser Philosophie war auch Grohl nicht abgeneigt und so chauffierten die beiden leidgeprüften Autoren versöhnlich durch das Baustellenchaos der wiedererstarkten Hauptstadt und Kunstmetropole, in der die untergehende Sonne dank diverser Hochbauten nur bedingt ihre ermatteten Gesichter wärmte. Bei jeder größeren Bodenwelle berührte das Schutzblech den Reifen auf Grohls Seite, aber Olaf war ein so guter Kamerad, dass er darüber stoisch hinwegging.