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IMMER WENN GROHL VÖLLIG AM BODEN LAG, besuchte er einen Freund, den er nur im Zustand völliger Verzweiflung aushielt. Hans Held hatte angeblich noch mit Fassbinder gearbeitet und Aki Kaurismäki in jungen Jahren unter den Tisch gesoffen. Grohl hatte ihn als Dozent an der Filmhochschule erlebt. Der Abschluss von Helds Seminar hatte darin bestanden, die Studenten zu einem Saufgelage einzuladen, auf dessen Höhepunkt sein energischer kleiner Zeigefinger auf Grohl mit folgender, abschließender Beurteilung zuschoss: Nichts wissen, nichts können, nichts verstehen, nichts begreifen, ab und weg!

Zehn Minuten später hatte sich sein dünner Arm um Grohls fleischige Schulter geschlungen: Aber genau deswegen liebe ich dich!

Seitdem verband die beiden eine unverbrüchliche Freundschaft in Ausnahmesituationen. Eine solche Situation war jetzt gegeben.

Held residierte im sechsten Stock einer der zahllosen Tochterfirmen von R & R, die, von Konni und seinen Wirtschaftsanwälten aus Lohndumping- und Steuervermeidungsgründen geschickt gesät, wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Er produzierte mit einem geradezu genialischen Gespür für schlechten Geschmack Konnis erfolgreichste Serie.

Als Grohl am späten Vormittag den seit sechs Jahren nur provisorisch umgebauten Dachboden betrat, auf den Konni sein Faktotum Held verbannt hatte, um ihn von allen weniger erfolgreichen, aber mit weitaus besseren Manieren ausgestatteten Mitarbeitern fernzuhalten, tippte Held gerade volltrunken die dritte Folge der vierten Staffel von »Frühlingsliebe« in den Computer. Seine kleine, leicht rundliche Gestalt wirkte neben der beinahe geleerten Wodkaflasche wie ein Kobold, dessen Finger über die Tasten torkelten.

Die Lizzi kann das alles lesen!

Grohl warf einen vorsichtigen Blick auf den Schirm: Wghhhrftoudlmi, war selbst für Grohl schwierig zu deuten. Held starrte ihn an wie einen Fremden.

Die Lizzi kann das alles lesen! wiederholte er beharrlich in jenem seltsam abgehackten Tonfall, den seine Studenten so gerne nachahmten. Sein Gesicht, irgendwo zwischen fünfzig und siebzig, sah seit zehn Jahren gleich aus. Der Alkohol konservierte. Er warf einen abfälligen Blick auf das offensichtlich bearbeitungsbedürftige Manuskript einer vegan lebenden Nachwuchsautorin, deren Bekanntschaft Grohl hartnäckig vermied.

Diese Autorin begreift nicht mal Aschenputtel. Sie begreift nicht, dass jedes Buch genau gleich sein muss. Kann man leichter Geld verdienen? Nein! Aber diese Frau muss ja Kunst im Vorabendprogramm machen.

Erst jetzt schien er Grohl zu realisieren.

Ah! Noch so ein großartiger Künstler!

Grohl wiegelte mit kleinlautem Lachen ab. Seinen Kunstanspruch habe er bereits mit dem ersten Drehbuch begraben und ab sofort würde er gerne für »Frühlingsliebe« schreiben.

Geht nicht! stieß Held beinahe triumphierend hervor und klappte schwungvoll den Computer zu.

Dafür bist du nicht unbegabt genug. Außerdem schreiben für »Frühlingsliebe« nur Frauen, außer mir!

Er stellte mit einem letzten Schluck fest, dass sein vormittäglicher Alkoholvorrat bedenklich zur Neige ging, und zerrte Grohl an seiner Sekretärin vorbei Richtung Kantine. Lizzi, eine mit gesundem Menschenverstand und stoischer Lebenshaltung gesegnete Bauerstochter aus Pommern, war die einzige Person, die es seit zwölf Jahren beruflich und privat kontinuierlich in Helds Nähe aushielt. Im Vorübergehen musste Held an ihrer Schreibtischkante Halt suchen. Lizzi eröffnete ihm, er habe gestern Nacht beim Umtrunk den Schauspieler Sascha Dreikamp zu fortgeschrittener Stunde so nachhaltig beleidigt, dass der sich weigere, auch nur eine einzige weitere Szene in »Frühlingsliebe« zu spielen. Für Held war das nichts Neues.

Kein Problem. Den ruf ich nachher an. Kostet mich zehn Minuten! Jetzt geh ich erst mal scheißen. Wen hab ich sonst noch beleidigt? Bei wem muss ich mich noch entschuldigen?

Lizzi reichte ihm wortlos eine Liste mit acht Namen.

Gut, mach ich das auch noch! Warum nicht!

Mit überraschend geordneten Schritten erreichte er den Fahrstuhl.

Kann man diesen Schwachsinn nüchtern machen? Nein, Gottseidank nicht!

Sie fuhren nach unten.

Grohl erfuhr einige Details der Dreharbeiten, die seinen Eindruck, bei dem schönen Sascha handele es sich um ein misanthropisches Arschloch, nachhaltig verstärkten. Der Frauenschwarm und Quotengarant lernte grundsätzlich keinen Text, sondern improvisierte. Als seine Partnerin, die brav auswendig gelernt hatte, daraufhin mit den Dialoganschlüssen nicht klarkam, bezeichnete er sie als Nullschauspielerin, und als Held ihn zwang, seinen Text zu sprechen, pappte er seiner Partnerin beim Gegenschuss mit Botox eine Drehbuchseite an die Stirn, da man angeblich Helds schwachsinnige Texte nicht auswendig lernen könne.

Held hatte ihn zu später Stunde mit Gebot Nummer zehn in Streikmodus versetzt: Okay, ich kann nix, aber du kannst gar nix! Ich bin eine Null, aber du bist eine Doppelnull! Man darf WC zu dir sagen!

Der Ausfall ihres Hauptdarstellers war für die aktuelle Regisseurin von »Frühlingsliebe«, Friederike Thon, nur schwer zu verkraften. Völlig aufgelöst empfing sie Held im Eingang der einige hundert Meter entfernt liegenden Gemeinschaftskantine der R & R-Firmenfamilie. Kern einer ersten Wortkaskade war, dass sie jegliche Verantwortung für einen weiteren geordneten Drehablauf ablehne und Held die alleinige Schuld an möglichen Produktionsausfällen trage. Held winkte stoisch ab und garantierte ihr, dass sich Sascha in spätestens zwei Stunden wieder im Studio einfinden werde.

Bernd?! Friederikes Stimme besaß den Charme einer Tischkreissäge: Hast du die Auflösung?! Bernd?!?

Ihr geradezu sagenhaft gutmütiger Kameramann ließ seine Erbsensuppe stehen, um ihr die bevorstehenden Einstellungen zu erklären. Gut unterrichtete Kreise waren ohnehin der Ansicht, dass alleine Friederikes Kameramann die pünktliche Fertigstellung der letzten Folgen von »Frühlingsliebe« zu verdanken war und man ohne ihn schlicht und ergreifend kein sendbares Material gehabt hätte, aber Friederike war gut gestellt mit der verantwortlichen Redakteurin Westerhage. Böse Zungen unterstellten der Regisseurin sadomasochistische Zusammenkünfte mit dem Leiter der Serienabteilung, Matthias Seidel. Die absolutistischen Machtansprüche, die Ludmilla Wagner ihrem Sender im Süden der Republik diktierte, verkörperte Seidel mindestens ebenso rigoros im Norden; insofern waren sadomasochistische Verdachtsmomente durchaus nicht abwegig. Aber die Wahrheit war viel banaler: Bei »Frühlingsliebe« vereinigte sich auf kongeniale Weise der schlechte Geschmack der Macher mit dem der Zuschauer und der Einzige, der das durchschaute und mit böser Freude vorantrieb, war Hans Held.

Friederike eilte ein letztes Mal zu ihm.

Ich will, dass es gut wird! Ihre Augen kämpften mit der nicht ganz natürlich gestrafften Haut ihrer Schläfen. Verstehst du? Gut!!

Helds Pupillen schienen sich noch ein Stück weiter in seinen kahl werdenden Schädel zurückzuziehen.

Ist doch völlig egal, was du machst, Friederike, es wird immer gleich.

Friederikes dunkle Locken vibrierten vor Empörung: Na schön, ich rufe jetzt Konni an und sage ihm, was du gerade gesagt hast und welch eine unglaubliche Beleidigung das für mich und meine Arbeit und das ganze Team …

Geschüttelt von haltlosem Schluchzen entschwand sie durch die Kantinentür. Held nahm umständlich auf einem Barhocker Platz und normalisierte seinen bedrohlich absinkenden Alkoholpegel mit einem Mittagsbier. Grohl bestellte sich einen Vanillepudding. Held musterte die mit Resopal möblierte Kantine durch den Schaum seines Bieres.

Wie kann man nur mit Frauen arbeiten! Da muss man so blöd wie ich sein!

Die Strafe für diese zutiefst frauenfeindliche Bemerkung folgte auf dem Fuße.

Wie vom Blitz getroffen kippte Held vom Hocker und brach sich, wie der Notarzt wenig später feststellte, eine Rippe. Grohl stellte mit Erstaunen fest, dass die Erzeugung von »Frühlingsliebe« alttestamentarische Züge angenommen hatte.

Der diensthabende Internist in der Notaufnahme musste nach einer gründlichen Inspektion von Helds Blutwerten klein beigeben. Helds Leber bestand offensichtlich aus Granit und so konnte der trinkfeste Soapproduzent wenig später mit einem elastischen Druckverband, drei Zweiliterflaschen Lambrusco und einem Stapel Pappbechern bewaffnet der von allen Beteiligten mit Hochspannung erwarteten Mustervorführung der zuletzt abgedrehten Folgen von »Frühlingsliebe« beiwohnen.

Konni überbrückte wie immer souverän die Verspätung seines ausführenden Produzenten und verwickelte Serienchef Matthias Seidel in das übliche Geplänkel, das Seidel mit gnädigem Kopfnicken quittierte. Der Serienchef gestaltete sein Äußeres so ambivalent, wie er seine Figuren gerne gehabt hätte, zumindest theoretisch. Damit war er eine Killerfigur für jeden Autor, denn er formulierte Ansprüche, die er mit der größten Selbstverständlichkeit kurz darauf wieder vom Tisch wischte. Seine Godard-Brille nickte Konni scheinbar interessiert zu, während Konni elegant parlierend über Seidels unrasierte Physiognomie hinwegzusehen versuchte, die an einen Statisten aus einem Italowestern erinnerte. Zwischen den beiden hing bleichgesichtig wie ein halb gefüllter Punchingball die zuständige Redakteurin Westerhage, die sich mit allerlei nervenstärkenden Medikamenten auf diese Abnahme vorbereitet hatte und deren Immunsystem durch die Last der ständigen Verantwortung für all die hochsensiblen Senderinhalte so geschwächt war, dass sie zu ihrem größten Bedauern niemandem die Hand schütteln durfte. Doppelküsschen waren ihr aus medizinischen Gründen ebenfalls strikt untersagt. Flüsternd wurde unter einigen Teammitgliedern die Theorie weitergegeben, dass sich ihre weißen Blutkörperchen aus Panik vor Seidels in der gesamten Branche gefürchteten Wutausbrüchen verflüchtigt hatten. Noch war alles gut. Seidel, der sich jeden Morgen im Spiegel als öffentlich-rechtlichen Kreuzritter abfeierte und fest daran glaubte, er allein habe sich allerhöchster Qualität verpflichtet, kotzte kurz über Ludmilla Wagners Krankenhausserien ab und konzedierte bräsig, er sei vom letzten von R & R produzierten Fernsehevent »schwer beeindruckt« gewesen. Konni verstieg sich daraufhin in leeren Superlativen zu der Behauptung, einer seiner Hausregisseure, Ferdinand Puch, habe mit diesem Film das Fernsehen neu erfunden – ehrlisch!

Held unterbrach diese Lobeshymne, indem er den beiden Fernsehgrößen je einen Pappbecher in die Hand drückte und diese leicht zitternd mit Lambrusco füllte. Konni war leicht konsterniert.

Danke Hans, sehr lieb.

Er blieb trotzdem beim Mineralwasser.

Ihr wollt mich wohl vor den Mustern besoffen machen!

Seidels krachende Lache wirkte auf die Regisseurin Thon und ihre Teammitglieder wie ein heraufziehendes Gewitter. Held verschenkte ungerührt weiter Lambrusco, bis sich jeder, der wollte, an einem halben Becher Rotwein festhalten konnte, während das Licht ausging und eine Folge »Frühlingsliebe« unbarmherzig über die Kinoleinwand des Vorführraums flimmerte. Gelegentliche kleine Lacher der Teammitglieder verstummten rasch, als Serienchef Seidel mehrmals scharf die Luft zwischen den Zähnen einzog und unverkennbar weitere Empörungslaute von sich gab. Es breitete sich lähmende Stille aus, die anhielt, lange nachdem die Folge beendet und das Saallicht wieder hochgefahren war. Ehe Seidel etwas sagen konnte, erhob sich Konni, gutgelaunt, sein graumelierter Pferdeschwanz wie immer perfekt gebunden, die Gesichtshaut dank einer neuen Diät gestrafft und solariumgebräunt.

Also, wie fanden wir das denn alle so? Hans?

Held musterte den Boden seines leer getrunkenen Pappbechers. Die letzten Tropfen Billigwein, die im Saallicht fluoreszierten, sorgten für eine kongeniale Verbindung diverser alkoholbefeuerter Synapsen: Dieser Film hat einen Anfang und ein Ende … und das finde ich … genial!

Friederike Thon verschluckte sich vor Empörung an einem zu schnell eingeatmeten Happen Luft.

Matthias Seidel sprang auf und brüllte in den Saal: Verarschen kann ich mich selber! Eine solche Scheiße hab ich überhaupt noch nie gesehen! So nehme ich das nicht ab. Ich geh jetzt pissen und so lange überlegt ihr schon mal, wie wir das umschneiden! Und keiner wagt es, mir aufs Klo zu folgen! Ich will wenigstens beim Pissen euch Schwachköpfe nicht sehen!

Friederike begann zu weinen, Konnis Juniorproducerin Claudia heulte vorsichtshalber gleich mit.

Seidel spürte, wie der Anblick der weinenden Frauen das Sodbrennen vertrieb, das ihn seit den frühen Morgenstunden plagt hatte, und setzte, ganz in der Tradition des Gymnasiallehrersohnes, noch einen drauf: Ums mal klar zu sagen! Das ist eine Sechs mit zehn Minuszeichen!

Großartig!

Held nahm der Cutterin, die in Anbetracht der auf sie zurollenden Überstunden mit hängenden Schultern in ihrem Sessel klebte, den nicht angerührten Lambrusco aus der Hand.

So schlecht war ich noch nie … das muss gefeiert werden!

Helds freie, schlaffe Hand deutete Selbstbefriedigung an, während Seidels von der tiefer liegenden Frontsitzreihe unbarmherzig auf Held ausgestreckter Arm als Hitlergruß missverstanden werden konnte: Von dir und deinem billigen Zynismus hab ich die Schnauze schon lange voll! Okay, lassen wirs. Die nächste Staffel ist gecancelt. Ich kann mein Geld auch jemand Anderem geben.

Es war einer der seltenen Momente, in denen Hans Held laut wurde.

Dein Geld? Das ist das Geld von allen gesamtdeutschen Idioten, die Gebühren zahlen für diesen Schwachsinn! Du hast gar nix! Ab und weg!

Artistisch fing er die Lambruscoflasche auf, die seinen erregten Fingerchen entglitten war. Konni entwand ihm Wein und Pappbecher und flüsterte ihm ins Ohr: Halt jetzt den Mund! Das ist kein Spaß mehr! Noch ein Ton und du bist draußen. Ohne Altersversorgung.

Seidel ahnte natürlich, was da flüsternd verhandelt wurde.

Schmeiß ihn raus! Ich verlange, dass dieser Alkoholiker auf der Stelle gefeuert wird!

Konni bewahrte sich in einem Reflex einen Rest von Selbstachtung.

Entschuldige Matthias, in meiner Firma bestimme immer noch isch, wer fliegt.

Er hätte sich für den Satz verfluchen können. Seidel war bis vor einem halben Jahr wenig erfolgreicher Geschäftsführer einer Tochterfirma von R & R gewesen. Konni hatte ihn, seine zahlreichen politischen Verbindungen nutzend, zum Sender weggelobt, selbstverständlich mit der Verpflichtung, seiner Firma Aufträge zuzuschanzen. Aber natürlich hatte Seidel das Spiel durchschaut, fühlte sich finanziell benachteiligt und gedemütigt und wartete nur auf eine Gelegenheit, es Konni heimzuzahlen. Mühsam gezügelter Hass stand in der Luft, der auch mit einer halbherzigen Einladung zum Nobelitaliener nur bedingt zu kompensieren war.

Außerdem war da noch Hans Held, dessen Trunkenheitsgrad sich gefährlich der Markierung näherte, ab der er bedenkenlos beruflichen Suizid beging.

Darf man jetzt austreten? Nein? Gut. Staffelführer Seidel, zu Befehl! Mach ich eben das auch noch hier.

Held pisste in einen Pappbecher, den er diesmal der Garderobiere entrissen hatte. Allein die Westerhage begann zu lachen. Möglicherweise hatte sie mit ihren weißen Blutkörperchen auch die Kontrolle über ihre Lachmuskeln verloren.

Seidel nahm sich vor, ihr zur Strafe einen Serienentwurf, den er eigentlich ganz passabel gefunden hatte, zu zerfetzen.

Held schüttelte sorgfältig ab.

Du hast völlig recht, Matthias! Ich bin nicht schlecht genug für diesen Schwachsinn! Konni, schmeiß mich raus! Ich bitte darum!

Konni verhinderte, dass Held seinen halb gefüllten Becher Seidel als Urinprobe überreichte, um seine Qualitäten als Dramaturg überprüfen zu lassen.

Das Albtraumschiff

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