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IRGENDWANN NACH DEN NULLERJAHREN. Die deutsche Fernsehwelt war noch in Ordnung, mehr oder weniger. Irgendwo vor Acapulco …

Ein strahlend weißes Kreuzfahrtschiff gleitet durch die märchenblaue See. Delphine umrunden es und wachen, gemeinsam mit sorgfältig geschultem Personal, über das Wohl seiner Passagiere. Goldbeknöpfte Stewards reichen kalorienarme Häppchen und ein Heer von Dienstleisterinnen offeriert Wohlfühl- und Verschönerungsmaßnahmen aller Art. Auf der Kommandobrücke sorgt ein graubärtiger, vitaler Kapitän mit markanten Augenfalten samt seinen von Verantwortungsbewusstsein strotzenden Offizieren für eine störungsfreie Idylle.

Dringend bedarf die wertvolle Fracht nachhaltiger Regeneration. Alles, was Rang und Namen im deutschen Fernsehbetrieb hat, tummelt sich nach einem weiteren höchst anstrengenden und erfolgreichen Jahr auf den frisch polierten Planken. Selbstverständlich macht man nicht einfach Urlaub, sondern pflegt Kontakte, spinnt Netzwerke und entwickelt gemeinsame Visionen. Die Chefredakteurin sonnt sich in einem orientalischen Gewand auf dem Achterdeck und befindet sich im unverbindlichen Plausch mit dem Fernsehspielchef über das Potenzial einer neuen Serie zum Thema Wiedervereinigung. Rasch ist man sich einig: Dieses wichtige, epochale Jahrhundertereignis könne gar nicht oft genug erzählt, die Segnungen der gesamtdeutschen Demokratie im Gegensatz zum menschenverachtenden Arbeiter- und Bauernstaat müssten der Bevölkerung immer wieder eindringlich nahegebracht werden. Natürlich müsse es kritisch sein, authentisch, aber selbstredend müsse man auch emotional andocken können. Die Anker in die Herzen der Zuschauer werfen!

Die vielversprechende junge Autorin, die diversen Redaktionen bei ihren zahlreichen, authentischen Krankenhausserien bereits wertvolle Dienste geleistet hat, schaltet sich ein. So etwas würde sie gerne schreiben und mit starken Frauenfiguren kenne sie sich hervorragend aus.

Aus der spiegelglatten See taucht ein Sehrohr auf und richtet sein kaltes Auge direkt auf den Luxusliner und seine angeregt diskutierenden Passagiere. Ein Torpedo verlässt, unbeeindruckt von allen Bemühungen um die Gunst des deutschen Fernsehzuschauers, sein Rohr. Wenige Sekunden später verschwindet der blütenweiße Rumpf samt all seinen ambitionierten Projekten in einem überdimensionalen Feuerball …

Ein entrücktes, um nicht zu sagen seliges, Lächeln umspielte Grohls Mund.

Mehrere Wecker hatten bereits vergeblich geklingelt. Das Telefon wollte abgenommen werden, SMS-Nachrichten drängten sich auf dem Display. Grohl war ein gefragter Mann. Dabei wollte er das gar nicht. Eigentlich wollte er nur schlafen. Endlos schlafen. Das Telefon ließ ihm keine Ruhe.

Mühsam wälzte er hundertdreißig Kilo in die Halbsenkrechte, stieß das Ende von 195 Zentimetern – einen Rundschädel mit beachtlich vorstehender Nase, unterfüttert mit Fünftagebart, behelmt mit mönchischer Frisur – fluchend an ein unter DVD-Hüllen ächzendes Regalbrett und drückte die Empfangstaste. Es war Olaf. Busenfreund, Studienkollege, Mädchen für fast alles.

Du hast einen Termin bei Risotto. Es geht um den Tatort!

Grohl blinzelte durch die schießschartenähnlichen Fenster seines Kellerbüros in einen kalten Märzmorgen und erinnerte sich mühsam. Es war ihm tatsächlich gelungen, innerhalb der letzten fünf Monate eine erste Fassung für ein Tatortdrehbuch aus seinem von unendlich vielen Fehlversuchen gemarterten Hirn zu quetschen. Und das musste jetzt auch noch besprochen werden. Er beruhigte Olaf, der ihn daran erinnerte, dass sie mit der Wohnungsmiete drei und mit der Büromiete fünf Monate im Rückstand waren. Mühsam tastete er sich durch das Chaos aus ausgedruckten Drehbuchseiten, mit Zigarettenkippen gefüllten Getränkeflaschen, halb ausgelöffelten, schimmelpilzblühenden Fertiggerichten, vertrockneten Pizzaresten, Schoko- und DVD-Hüllen zur unbeheizten Toilette. Der Dampf seines Urinstrahls vernebelte ihm gnädigerweise die Sicht auf einen zugemüllten Hinterhof.

Wieso war er letzte Nacht im Büro geblieben? Er liebte Olaf, aber manchmal brauchte er sogar Ruhe vor der Liebe. Obwohl Olaf ihm jetzt bestimmt einen Kaffee gemacht hätte. Olaf kümmerte sich um alles, machte Termine, kaufte ein, putzte sogar zweimal im Jahr die gemeinsame Wohnung. Bereits im Kindergarten hatte er Grohl immer seine Sandschaufel hinterhergetragen. Nur vor Grohls Schlafzimmer, das einem Junkie im Endstadium zur Ehre gereicht hätte, kapitulierte selbst Olafs ansonsten unverbrüchliche Treue. Grohl konnte ziemlich sicher sein, dass Olaf nur wegen ihm die Filmhochschule besucht hatte. Auch dort hatte die beiden, außer ihrer Unzertrennlichkeit, nichts verbunden. Grohl war früh als aus der Form geratenes Genie gehandelt worden, Kommilitonen schlossen nach kurzer Zeit Wetten ab, wie viele Pausen auf Parkbänken sein schokoladegesättigtes Herz benötigte, um den knapp zehnminütigen Weg von seiner Studenten-WG bis zur Filmhochschule zu bewältigen. Olafs dürrer Körper war nur mit Filmtheorien aller Art belastet, die ihm, gemeinsam mit einem bescheidenen Talent, den Weg zu genialen Drehbüchern versperrten. Rasch hatte sich ein Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. Olaf fungierte als Grohls Co-Autor, was beinhaltete, dass er Grohls gesamten Alltag organisierte und ansonsten dem Meister in allen weniger anspruchsvollen Drehbuchaufgaben wie Recherche, Orthographie, Druckerpapier einlegen, Computer updaten, Deadlines einhalten, zuarbeitete. Das war anspruchsvoller, als es sich anhörte. Grohl war, was die Organisation von Alltag anging, ein hoffnungsloser Fall. Er brachte es fertig, drei Wochen lang Tag und Nacht im selben karierten Hemd zu verbringen, das man anschließend nur noch verbrennen konnte. Sein Umgang mit Geld war gnadenlos, sodass Olaf nichts Anderes übriggeblieben war, als ihre dünn tröpfelnden Drehbuchgagen mit einem Halbtagsjob als Museumswärter aufzustocken. Wenn ihnen selbst die bescheidensten Grundnahrungsmittel zur Neige gingen, labten sie sich an gemeinsamem Zynismus, den sie hingebungsvoll über die gesamte Branche gossen, bis er wie Zuckerguss über allen Medienereignissen der vergangenen fünf Jahre klebte. Niemand außer Olaf konnte hinreißender erzählen, wie Grohl bei der Premiere eines hochgehypten deutschen Filmwerks der Berliner Schule einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden war, indem er laut schnarchend bereits während der Anfangstitel entschlief. Auf Olaf war Verlass. Grohls Handy, dessen Akku sich bereits wieder dem Ende zuneigte, surrte erneut, während er mit bedenklich niedrigem Zuckerspiegel der Straßenbahn entgegen dämmerte.

Leider hatte er übersehen, dass es Lisa war. Lisa war der Ansicht, sie sei Grohls Freundin, Grohl zweifelte manchmal daran. Zehn Jahre älter als Grohl, drehte sie nach einer schwierigen Kindheit in der Oberpfalz noch schwierigere Experimentalfilme. Missbraucht von ihrem Vater, deswegen geschlagen von ihrer krankhaft eifersüchtigen Mutter, seit Jahrzehnten in einer unaufgelösten, inzestuösen Schleife kreisend, brachte sie die geradezu optimalen Voraussetzungen für eine ambitionierte künstlerische Karriere jenseits des Mainstreams mit. Sie befriedigte Grohl nur oral, was dem angesichts seiner Leibesfülle nicht ungelegen kam. Ihre von der Mutter ins kindliche Gemüt gebrannte Eifersucht war ebenso legendär wie unbegründet und machte selbst vor Olaf keinen Halt. Ansonsten pflegten sie und Grohl ein für beide nicht unanstrengendes Mutter-Sohn-Verhältnis, das sich vor allem in Lisas sehr bestimmender Sorge um Grohls Gesundheit manifestierte.

Stehst du an der Haltestelle? Du hast mir versprochen, du gehst möglichst viel zu Fuß.

Mach ich doch, erwiderte Grohl, während er in die Straßenbahn stieg.

Ich hör doch das Klingeln der Straßenbahn! Ich höre es ganz deutlich!

Grohl ließ sich schwer atmend neben eine Rentnerin samt Hund fallen.

Ich geh neben der Straßenbahn her.

Verzweifelt versuchte er, das Kläffen des Köters mit einem Rest Nougatschokolade zu unterbinden, den er zwischen einigen nicht mehr ganz taufrischen Tempotaschentüchern entdeckt hatte. Lisa begann, Grohl darauf hinzuweisen, wie allergisch sie gegen Lügen sei, Grohl wollte erwidern, da habe sie sich mit einem Drehbuchautoren den optimalen Partner ausgesucht, verwies dann aber nur auf den sich dem Ende zuneigenden Akku seines Handys und legte auf.

Die Rentnerin verbot ihm, ihrem Hund weiter Schokolade jenseits des Verfallsdatums zu geben. Grohl leckte einen kümmerlichen Schokoladenrest von einem der Taschentücher und überflog die erste Seite seines Drehbuchs. Er hatte es in zehn Tagen in Tag- und Nachtarbeit runtergeschrieben, da es angeblich schnellstmöglich gebraucht wurde. Seitdem waren zwei Monate vergangen.

Grohl versuchte sich einzureden, dass sein Manuskript gut war, mit Bestimmtheit wusste er aber nur eines: Er brauchte ganz dringend einen Kaffee. Seine Augen musterten ein letztes Mal erschöpft das muntere Treiben ein- und aussteigender Menschen, dann fielen sie wieder zu.

Das Albtraumschiff

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