Читать книгу Dunkle Rituale - Christoph Grimm - Страница 11

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Als ich vor der durch kaltes Metall umrahmten Milchglastür stand, die die Station 3B für forensische Patienten abriegelte, erwartete ich einen Fall, wie ich ihn regelmäßig zugeteilt bekam.

Maria, mit einem langen dunklen Zopf und tiefsitzenden Augen, kam mit eiligem Schritt und rasselndem Schlüsselbund und öffnete mir die Tür.

»Du kommst für Pérez? Es tut mir leid, ich fürchte, wir müssen einen neuen Termin abmachen«, raunte sie mir zu, während sie mich über den monoton grau laminierten Boden zum Schwesternzimmer führte. »Sie ist heute Morgen immer noch verladen.«

»Was habt ihr denn dem armen Mädchen gegeben, um Himmels willen?«, spöttelte ich, während ich meine Tasche auf einen Bürostuhl warf.

Maria schloss die Tür hinter uns und nahm eine breitbeinige Position vor mir ein. Ihre Augenringe waren dunkler als sonst. Ihre Miene verriet mir, dass sie heute nicht zu Späßen aufgelegt war.

»Sie ist gestern ausgerastet. Ich habe dir alles ausgedruckt«, sie deutete auf einen braunen Pappordner auf dem Tisch. »Carolina ist gleich für dich da, sie ist noch auf Visite.« Maria wandte sich zur Tür und drückte die Klinke.

Ich griff nach den Papieren. »Passiert das öfter bei ihr?«, warf ich ihr hinterher.

»War das erste Mal«, hörte ich noch, bevor sich die schalldämpfende Tür schloss.

Alba Pérez hatte nach drei Monaten in der geschlossenen Anstalt eine Krise bekommen. Wer konnte ihr das verübeln? Davor hatte sie sich vorbildlich verhalten. Während also ihre behandelnde Psychiaterin den morgendlichen Rundgang abfrühstückte, überflog ich die ausgedruckte Dokumentation der Schwestern und blieb in dem Papierstapel an ein paar kopierten Briefen hängen, die Pérez an einen Priester geschrieben hatte.

Auszug aus der Akte

»Alba Pérez, geboren 24.03.1992«:

Brief an Bernardo Fortunas

Liebster Padre Bernardo,

vielleicht erinnert Ihr euch an mich. Sicher seid Ihr erschrocken über den Absender auf dem Briefumschlag. Ihr kennt mein Gesicht aus dem Fernsehen. Aber trotzdem hoffe ich, dass Ihr euch noch an das Gesicht der fünfjährigen Alba Pérez erinnert.

Ich, Padre, erinnere mich noch gut an Euch. Als sei Euer Gesicht das Erste, auf das mein Blick je gefallen ist. In gewissem Sinne ist es auch so. Durch Euch wurde ich wiedergeboren und bin zu der Frau herangewachsen, die ich nun bin.

Es hat Wochen gedauert, bis die Aufseher mir einen richtigen Stift erlaubt haben. Ich kann nun auch richtige Bettwäsche und Möbel haben, weil ich durch die Pillen zu erschöpft bin, mir noch einmal etwas anzutun. Ich habe es versucht, Padre.

Wie ich dort hing und einfach nicht starb, Schmerzen hatte und nicht mehr aus der Schlinge herauskam, hat mich geläutert. Sie stand da, in der Ecke des Zimmers, und hat mir beim Sterben zugesehen. Sie wollte meine Seele in die Hölle hinabziehen. Fast hätte ich ihr nachgegeben, Padre, fast. Doch Eure Mühen von damals sollten nicht umsonst gewesen sein. Die Schwestern haben es rechtzeitig bemerkt und mich gerettet. Dort, wo die Augen normalerweise weiß sind, sind meine nun rot. Dr. Gordoni sagt, dass sie in ein paar Wochen wieder normal sein werden. Ich habe ihr gesagt, dass ich die Augen eines Teufels behalten möchte. Wenn das meine Strafe sein sollte, dafür, dass ich diese Sünde gegen Gott begehen wollte, dann nehme ich sie an.

Und was hätte ich Pedro und Miguel damit angetan? Ständig frage ich Dr. Gordoni, was mit ihnen sei. Ob es Pedro gut gehe und warum die beiden mich nie besuchen kommen. Aber sie weicht mir jedes Mal aus.

Heute weiß ich, dass die Gebete mich vor ihr beschützt haben. Als ich Pedrito in mir heranwachsen spürte, wurden sie immer leiser. Immerhin musste ich nun dem Baby zuhören. Als ich ihn dann endlich in meinen Armen hielt, waren Eure Gebete verstummt. Ich war glücklich, doch ich war auch geblendet. Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich wollte mir so sehr einbilden, dass sie nicht mehr da wäre. Doch sie lauerte in der Stille.

Wenn ich nachts wach liege, Padre, erinnere ich mich daran, wie mein Großvater mich mit seinen haarigen Armen um den Bauch herum festhielt und Ihr über mich gebeugt ward. Damit ich nicht kratzte, hattet ihr meine Hände in Waschlappen gepackt. Ich habe euch mein Leben lang gehört, wenn ich versuchte einzuschlafen, wenn ich in der Schule saß, oder wenn ich den Fernseher viel zu laut stellen musste, um durch euer Gemurmel noch etwas zu verstehen.

Ich mag Dr. Gordoni. Wenn ich an sie denke, dann sehe ich sie in ihrem dunkelroten, maßgeschneiderten Hosenanzug vor mir, der nur an einer dunkelhäutigen Frau wie ihr geschmackvoll aussehen kann. Über dem steifen Kragen des Blazers schwebt ihr besorgtes Gesicht. Ich habe ihr einmal gesagt, dass sie wegen mir noch Falten zwischen den Augenbrauen bekommt. Das war, nachdem sie mir erklärte, dass manche Sachen der Seele eines Kindes schlimme Wunden zufügen können. Sie glaubt, dass Ihr schuld daran seid, dass ich jetzt hier bin. Aber sie hat nie die Geister gesehen, dir wir gesehen haben, Padre.

Darum habe ich Verständnis für ihre Haltung.

Ich wünsche mir, dass Ihr Euch mit Dr. Gordoni in Verbindung setzt. Gerade eben habe ich ein Dokument ausgefüllt, dass es ihr erlaubt, frei mit Euch über mich zu reden. Ich habe da so ein Bauchgefühl, dass Dr. Gordoni Euch glauben wird. Ihr seid ein angesehener Mann und noch dazu in einem respektablen Beruf. Erzählt ihr einfach nur die Wahrheit. Wenn sie mir erst glaubt, wird sie verstehen, dass ich alles getan habe, um Pedrito vor der weißen Teufelin zu beschützen.

Mit den besten Wünschen, Alba Pérez

Ich drehte die letzte Seite des Briefes um. Was für eine wortgewandte Frau. Sie musste diesen Brief in einem sehr klaren Moment verfasst haben. Oder die Medikamente wirkten sehr gut bei ihr. Ein Blick auf das Datum ergab, dass sie ihn ganz sicher hier geschrieben haben musste. Obwohl ich heute wohl kein vernünftiges Gespräch mit der jungen Frau würde führen können, hatte sich mein Besuch doch schon gelohnt. Ihr Brief enthielt wertvolle biographische Informationen für mein Gutachten.

Ich stand aus meiner Kauerhaltung auf und streckte mich. Die ganze Zeit hatte niemand das Büro betreten. An der Wand mir gegenüber hing ein kleines Kreuz. Ich verstand nie, warum eine staatliche Anstalt ein religiöses Symbol verwendete, und machte mir gerne einen Jux daraus, das Kreuz abzunehmen und in der Schublade zu verstauen.

Da der Morgen schon fortgeschritten war, sollte die Visite jeden Moment zu Ende sein. Ich öffnete die Tür zum Gang der Station und ließ meinen Blick schweifen. Meine Tätigkeit als Gutachter hatte mich damals seit fünf Jahren mindestens monatlich hierhergeführt. Ich kannte alle üblichen Verdächtigen, Insassen wie Mitarbeiter. Wegen unserer engen Zusammenarbeit warteten normalerweise Kaffee und Kekse im Schwesternzimmer, wenn ich kam. Das war heute nicht der Fall.

Es war ruhig auf dem Gang. Lediglich das Schlurfen von Pantoffeln, das langsam näher kam, war zu hören. Ein untersetzter, gebeugt gehender Mann mit einem straßenköterblonden Dreitagebart schob sich in mein Sichtfeld.

»Moin,« krächzte er. Ich erwiderte seinen Gruß. Er blieb neben mir stehen und schien in seinen Gedanken nach einem Gesprächsthema zu suchen. Währenddessen ging auf der anderen Seite des Ganges eine Tür auf. Maria schob einen Wagen, auf dem ein Laptop stand, hinter ihr trottete Carolina Gordoni, eine der Ärztinnen der Station. Es sollten zwei Ärzte sein, doch ihr Kollege war nicht auszumachen. Carolina sah mich und winkte mir zu. Sie gab mir Handzeichen, dass sie nur noch ein Zimmer visitieren mussten. Ich nickte geduldig, schließlich hatte ich ja Gesellschaft. Das letzte Zimmer war das Intensivzimmer, in dem ich meine Klientin vermutete.

»Sind Sie der neue Doktor?«

»Nein, ich bin der Gutachter.«

Er nickte verständnisvoll. »Ah ja, so einen hab ich auch. Meiner ist ein netter Kerl, ganz nett, wirklich. Sie sind für das Mädchen da, nich? Jaja, das arme Mädchen…«

Eine weitere Pflegerin erschien auf Station. Sie trug ein altmodisches, für meinen Geschmack ganz grauenvolles korallrotes Kleid. Die Frau lief zum Intensivzimmer, wohl um der Visite beizuwohnen. Ich konnte mich nicht an sie erinnern.

»Hören Sie, Herr Doktor, von den Tabletten krieg ich so Verstopfung.« Der Mann rieb sich mit einer Hand den Bauch und zog dabei eine leidvolle Miene. Als ich wieder aufblickte, war die neue Pflegerin verschwunden.

Gerade wollte ich ansetzen und ihn fragen, ob er genügend Ballaststoffe esse, da kam ein bitterliches Weinen aus dem Intensivzimmer. Der Mann schaute auf die geschlossene weiße Tür und wischte sich mit der Hand über den Mund.

»Ich denke, Sie sollten besser auf Ihr Zimmer gehen«, wies ich ihn höflich an. Er schien die Spielregeln zu kennen und nickte, noch ehe ich zu Ende gesprochen hatte. Zwischen dem Schlurfen seiner Pantoffeln meinte ich »Armes Ding« zu hören.

Auch ich beschloss, mich wieder an die Arbeit zu machen. Immerhin konnte es nun doch noch eine Weile dauern.

Auszug aus der Akte

»Alba Pérez, geboren 24.03. 1992«:

Brief an Bernardo Fortunas

Liebster Padre Bernardo,

eine Weile ist nun vergangen seit meinem ersten Brief an Sie. Schon seit einer Woche frage ich die armen Schwestern jeden Tag, ob ein Brief für mich angekommen ist.

Doch meine Bitte an Sie ist dringender als zuvor. Man hat mir nun einen Anwalt gegeben, doch ich verstehe wirklich nicht, wofür. Er kommt einmal in der Woche vorbei und erklärt mir etwas über »Unzurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt«.

Ich habe Dr. Gordoni gefragt, warum sie Sie noch nicht kontaktiert hat. Da hat sie mir erklärt, dass sie es nicht förderlich hält, wenn ich weiterhin versuche, Sie zu erreichen. So gerne ich diese Seelenklempnerin mag, aber ihr ist einfach nicht klar, dass ich nicht krank bin, sondern dass diese Sache übernatürlich ist und ein Arzt da nichts verrichten kann. Darauf hat sie mir geantwortet, dass es einem Menschen sehr viel schadet, wenn er mit jemandem, der ihm einmal etwas Schlimmes angetan hat, in Kontakt bleibt. Wie ich laut gelacht habe! Sie waren doch mein Retter! Die weiße Teufelin hätte meine Seele in die Hölle mitgenommen, wenn Sie nicht gewesen wären!

Ohne Ihr Wort, Padre, kämpfe ich hier gegen Windmühlen. Niemand wird mir glauben.

Und weil sie mich für eine Verbrecherin halten, habe ich immer noch nichts über Pedrito erfahren. Diese Anstalt hier macht mich verrückt, so ist das.

In der Hoffnung, dass dieser Brief Sie nun erreicht, bitte ich Sie noch einmal inständig: Bitte nehmen Sie Kontakt mit Dr. Gordoni auf. Auf der Rückseite habe ich nochmal die Adresse der Anstalt vermerkt, damit es für Sie etwas leichter ist. Auch habe ich die Telefonnummer meines Anwaltes hinterlegt, falls Sie meine Ärztin nicht erreichen.

Mit besten Wünschen und dringender Bitte um Antwort, Alba Pérez

Gerne hätte ich nun Pérez gesprochen und ihr erklärt, dass ein Pfarrer ihr keine Zurechnungsfähigkeit bescheinigen kann. Dennoch tat sie sich selbst einen Gefallen mit diesen Briefen, denn je fester sie davon überzeugt war, von einem Dämon verfolgt zu werden, desto eher würde sie hier bleiben statt lebenslänglich im Gefängnis zu verbringen.

Trotz der schalldämpfenden Türen drangen weiterhin verzweifelte Laute in das Schwesternzimmer. Ein Ausdruck aus der Dokumentation der Ärztin vom Vortag gab mir mehr Infos zum aktuellen Zustand der Patientin.

Auszug aus der Akte

»Alba Pérez, geboren 24.03. 1992«:

Bericht über kritischen Vorfall, verfasst von Dr. Carolina Gordoni

Am Morgen des Vorfalls war Frau P.s Verhalten unauffällig. Sie verhielt sich freundlich und zurückhaltend. Wie schon seit einigen Wochen fragte sie das Pflegepersonal täglich danach, ob sie einen Brief erhalten habe, reagierte jedoch höflich und angepasst, als die Antwort negativ ausfiel. Die Patientin nahm am Beschäftigungsprogramm teil und zog sich am Nachmittag in ihr Zimmer zurück.

Gegen drei Uhr begann sie laut zu schreien, dass die »weiße Teufelin« sie nun gefunden habe. Da die Patientin durch die Schwestern nicht zu beruhigen war, wurde ich dazu gerufen. Ich verordnete beruhigende Mittel, die die Patientin jedoch verweigerte, sodass die Medikation unter Zwang verlief und Frau P. ins Intensivzimmer verlegt werden musste.

Ich befürchte, dass die Kontaktaufnahme mit dem Priester Frau P. geschadet hat, auch wenn seinerseits keine Antwort erfolgt ist. Um die Behandlung der Patientin weiterzuführen, denke ich, dass es hilfreich sein könnte, wenn ich mich mit dem Priester in Verbindung setze. So könnten biographische Daten der Patientin verifiziert werden und eine Beschreibung der Geschehnisse aus einer anderen Perspektive eingeholt werden.

Nachträglich hinzugefügt:

Gerade kam Frau García, die Zimmergenossin von Frau P, zu mir. Sie sei durch den Vorfall sehr verwirrt und wollte daher mit mir sprechen. Sie berichtete mir, Frau Pérez habe auf die »neue Patientin« sehr extrem reagiert. Ich fragte sie, wen sie meinte, da es seit zwei Wochen keine Neuaufnahme gegeben hatte. Frau García erzählte, dass eine blonde Frau plötzlich im Zimmer gestanden sei. Darauf habe Frau Pérez begonnen, zu schreien. García habe diese Frau noch nie gesehen, denn jemand, der sich kleidete wie ihre Großmutter als sie jung war, würde ihr sicher auffallen, meinte sie.

An der Tür erklang ein Rasseln und Klacken. Jemand seufzte, und Maria und Carolina kamen hineingetrottet. Carolina konnte kaum die Augen aufhalten.

»Sie will nicht aus dem Intensivzimmer rauskommen«, stieg sie ohne Umschweife ein. »Ich glaube nicht, dass du mit ihr jetzt ein vernünftiges Gespräch führen kannst.« Sie ließ sich auf den Stuhl gegenüber mir fallen und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Wie geht’s der Familie?«

Ich benötigte eine halbe Sekunde zum Antworten. »Äh, gut, gut. Nicolás ist gerade ganz versessen auf seinen Laufroller.«

Carolina lächelte. »Süß!«, doch ihre ehrliche Freude verschwand sofort wieder. »Du musst entschuldigen. Hier herrscht Unruhe. Viele Patienten sind am Rande einer Krise, kaum einer kann schlafen.«

»Ihr beide auch nicht, wie mir scheint«, warf ich ein.

»Krankmeldungen«, erklärte Maria, die sich hinter einem Computerbildschirm verschanzt hatte und ununterbrochen tippte.

Carolina und ich verabredeten am nächsten Morgen zu telefonieren, falls es Pérez dann besser ginge.

Durch die Terminverschiebungen kam ich an diesem Tag früher nach Hause. Ich war kaum in den Eingangsflur getreten, da kam Nicolás um die Ecke geschlichen und grinste mich unter seinen dunkelblonden Locken schelmisch an.

»Papi,« sagte er und streckte die Arme nach mir aus.

Ich hob ihn hoch, wobei ich ein Knacken im Rücken spürte. »Na du? Was hast du wieder angestellt?«

»Ich war lieb«, sagte er, während er seine weiche kleine Hand auf meine Wange legte. Sie war ein bisschen klebrig.

Im Wohnzimmer kauerte Inés auf allen Vieren und streckte den Po hoch in die Luft.

»Namaste«, grüßte ich sie und tätschelte dabei ihren Hintern, worauf ich mir ein »Tsk!« einfuhr.

Mein erster Impuls war es stets, den Inhalt des Kühlschranks zu überprüfen. Mit Nico auf dem Arm öffnete ich die Tür und Kälte strömte uns entgegen. Nico wand sich, sodass ich ihn fester packen musste, damit er mir nicht runterfiel. Zu meiner Freude stand im obersten Regal Karamel-Pudding im 6er Pack. Nico greinte mir ins Ohr und zappelte, sodass ich den Kühlschrank wieder schloss. Dann fuhr mir der Schreck durchs Mark. Keuchend trat ich einen Schritt zurück und presste meinen Sohn fest an mich. Der Moment war kurz, doch er reichte, um genau zu sehen, wer da stand: Eine Blondine in einem korallroten Kleid.

»Was ist los bei euch?«, ertönte Inés besorgte Stimme hinter mir. Sie nahm mir Nicolás ab, der begonnen hatte, zu schluchzen. Er schmiegte sein Gesicht fest gegen die Brust seiner Mutter.

»Du siehst ja aus als hättest du einen Geist gesehen.«

Ich starrte meine Frau an und wühlte in meinem Hirn nach der Stimme der Vernunft. Sie strich mit der Hand über Nicos Köpfchen und schaukelte ihn.

»Nein, ich …«, versuchte ich zu erklären, »da war wohl eine optische Täuschung.«

Inés schlug die Lider langsam zu und wieder auf.

»Optische. Täuschung.«

Nun wurde ich ein wenig böse, weil sie mir meine fadenscheinige Ausrede nicht abkaufte. Ich winkte ab und fragte Inés nach ihrem Tag.

»Naja, heute Morgen sind wir in den Kindergarten gefahren, richtig?«, fragte sie Nico, der weiterhin nicht von seiner Mutter lassen wollte und nur stumm nickte.

»Genau. Und dann war Mami einkaufen. Mami hat dem Papi seinen Lieblingspudding gekauft. Dann hat Mami gearbeitet. Und dann hab ich dich vom Kindergarten wieder abgeholt.«

Als Nico sich wieder beruhigt hatte und Inés ihn wieder absetzte, waren seine Wangen pink vor lauter Aufregung. Er rieb sich die noch feuchten Augen und schien dann zu beschließen, dass es jetzt doch witziger wäre, sich vor uns unter dem Küchentisch zu verstecken.

Inés umarmte mich.

Ihr Haar roch nach Shampoo.

»Du bist früh heute.«

»Mein Termin heute ist ausgefallen. Vielleicht komme ich dafür morgen später.«

»Kukuk!«, quiekte Nico vom Boden aus. Als ich nach ihm schaute, sah ich ihn ganz schnell und etwas unbeholfen wieder unter dem Tisch verschwinden.

»Seit wann spielt er denn verstecken?«, fragte ich meine Frau.

»Hm?« Sie sah mich verwirrt an, sodass ich mit dem Kinn auf den Tisch deutete. Nico bemerkte, dass wir hinsahen und wartete ungeduldig auf seine nächste Gelegenheit.

»Also… das macht er jetzt zum ersten Mal. Hat er bestimmt aus dem Kindergarten.«

Am späten Abend flackerte das bunte Licht des Fernsehers über Inés schlafendes Gesicht. Behutsam stand ich auf und schlich mich an meinen Schreibtisch in einer Ecke des Wohnzimmers. Unter dem Licht einer Jugendstillampe blätterte ich die Akte Pérez nochmal durch. Ich hoffte, sie am nächsten Tag sehen zu können, um die Sache möglichst schnell hinter mich zu bringen.

Carolina ging von einer posttraumatischen Belastungsstörung aus, zusammen mit einer Schizophrenie. Interessant war, dass Pérez trotz ihrer schweren Erkrankung noch so gut formulieren konnte. Ich schätzte die Frau als sehr intelligent ein, was ihr all die Jahre geholfen haben musste, eine Fassade aufzusetzen und als »normal« durchzugehen. Ebenfalls wollte ich wissen, wie sie darauf reagieren würde, wenn ich sie mit ihrer Tat konfrontierte. Als ich genauer darüber nachdachte, wurde mir klar, warum ich am Kühlschrank so überreagiert hatte. Pedro, der Sohn von Pérez, war im selben Jahr geboren wie mein Sohn. Der Fall musste mich mehr mitgenommen haben, als ich mir eingestehen wollte.

Ich hatte Glück. Am nächsten Morgen bestätigte Carolina mir, dass Pérez nun wieder in der Lage sei, ein längeres Gespräch zu führen.

»Gut, ich komme am späten Vormittag vorbei. Ach und, Carolina, eine Frage habe ich gestern ganz vergessen.«

»Aha, ja welche?«

»Weiß sie es?«

Carolina stieß einen langen Seufzer aus.

»Ich habe es ihr schon ein paar Mal gesagt. Aber jedes Mal tut sie so, als hätte sie es nicht gehört.«

Wie abgemacht saß ich also in dem Besprechungszimmer, das extra für gutachterliche Termine eingerichtet war. Über eine Überwachungskamera konnte man im Schwesternzimmer alles mitverfolgen, was geschah. Zwei Flaschen Wasser und mehrere Plastikbecher standen bereit.

Als Alba Pérez von den Schwestern hereingeführt wurde, war ich überrascht. Eine gepflegte Frau setzte sich aufrecht vor mich. Ihre grauen Augen beobachteten mich aufmerksam, doch nicht offensichtlich misstrauisch.

Ich stellte mich ihr vor mit meinem Namen und dem Grund unseres Gesprächs, woraufhin sich an ihrem Blick nichts änderte. Dennoch verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Ich verstehe, warum Sie hier sind, Señor Delgado«, ihre Stimme war etwas heiser. Sie musste ihre Stimmbänder während des Vorfalls überstrapaziert haben.

»Was wissen Sie schon über mich?«, fragte sie zu meinem Erstaunen.

»In Wahrheit nur sehr wenig. Können Sie mir etwas erzählen? Wo und wie sind Sie aufgewachsen? Was haben Sie für eine Ausbildung?«

»Ich bin Buchhalterin von Beruf. Ich habe für einen großen Jogurt-Lieferanten gearbeitet. Mein Mann hat auch da gearbeitet, aber in der Werbe-Abteilung. Wissen Sie, wo er ist?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bedauere, nein.«

»Er ist nämlich einfach verschwunden, wissen Sie. Kam irgendwann nicht mehr nach Hause vom Zigarettenholen.«

Ich notierte mir dies. Plötzlich verlassen zu werden und mit einem kleinen Kind allein dazustehen musste sie überfordert haben.

»Das war ein Witz, Señor Delgado.«

Ich schaute auf von meinen Notizen. Pérez verzog jedoch keine Miene.

»Er hat mich verlassen, weil er mich für verrückt hält. Hat seine Sachen gepackt und ist zu seinen Eltern zurück.«

»Wieso hielt er Sie für verrückt?«

»Wegen dem Ding, das mich verfolgt.«

»Was ist das für ein Ding?«

Pérez schlug ein Bein über das andere.

»Wie geht es meinem Sohn?«, fragte sie mit einem fordernden Unterton. »Ist er bei seinem Vater?«

Ihr Drängeln war für mich nachvollziehbar. Trotzdem ärgerte es mich. Ich konfrontierte die Angeklagten immer erst am zweiten Termin mit ihrer Tat, um vorher Vertrauen aufzubauen und mehr Informationen über ihre Biografie zu bekommen. Doch zu lügen verstieß gegen meine Prinzipien.

»Frau Pérez, es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber ihr Sohn ist im Krankenhaus. Er hat schwere Gehirnschäden.«

Pérez blinzelte und starrte mich an. Ich sah zur Kamera an der Decke, in der Hoffnung, dass eine wachsame Krankenschwester schnell käme, sobald es eskalierte. Doch nichts geschah. Nach ein paar Minuten schien Pérez wieder in den Raum zurückzukehren. Sie schüttelte abschätzig den Kopf.

»Wieso habe ich eigentlich erwartet, dass Sie mir etwas erzählen?« Sie wischte sich über die Stirn und schien Tränen zu unterdrücken. »Es würde mir vollkommen reichen, zu hören, dass es ihm gut geht.«

Ich probierte einen anderen Weg.

»Frau Pérez, wieso denken Sie, dass Sie hier sind?«

Sie lachte bitter. »Weil die denken, ich wollte meinem Sohn etwas antun.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß, was sie in den Nachrichten über mich behaupten. Dass ich durchgedreht bin, weil mein Mann mich verlassen hat. Und dass ich Pedrito aus Rache versucht hab, umzubringen.«

»Wie war es denn wirklich?« Ich versuchte möglichst empathisch zu klingen, und die Provokation, die in meiner Frage steckte, zu verschleiern. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Angeklagten nutzte Pérez mein Angebot nicht, um sich zu rechtfertigen. Stattdessen legte sie die Handflächen auf den Tisch und schaute mich an. Ihre Stirn war in Sorgenfalten gelegt.

»Bitte reden Sie mit Pater Bernardo. Mir werden Sie ja nicht glauben.«

Sie neigte sich vor. »Und wenn Sie mit dem Pater reden, dann erzählen Sie ihm auch von Nicolás.«

Nicolás? Ich musste mich verhört haben. »Pedro«, korrigierte ich Sie.

Pérez schüttelte den Kopf, ihr Ausdruck voller Sorge.

»Sie haben schon richtig gehört.«

Ich rang um Professionalität. Diese Frau drohte mir. Meine Knöchel wurden weiß, als das Plastik des Kugelschreibers in meiner Hand knackte.

Das war nicht die erste Drohung, die ich erhalten hatte und es würde auch nicht die letzte sein.

Sie musste mitgehört haben, wie die Mitarbeiter sich über mich unterhalten hatten. Als ich dies realisierte, konnte ich den Druck in mir ein wenig reduzieren.

Ich schnaubte. Als ich mich wieder wie der professionelle Psychologe fühlte, der ich war, versuchte ich noch einen letzten Vorstoß.

»Sie haben mir nicht auf meine erste Frage geantwortet. Mich interessiert wirklich, wie Sie aufgewachsen sind.«

Pérez lehnte sich im Stuhl zurück und schaute aus dem Fenster.

»Fragen Sie Pater Bernardo.«

Da keine Reaktion mehr kam, nahm ich mein Schreibzeug und stand vom Tisch auf. Ich hielt ihr die Hand hin. Statt sie zu schütteln, starrte Pérez weiter aus dem Fenster.

Als ich ins Schwesternzimmer kam, um meine Tasche zu holen, warteten Kekse auf dem Tisch.

»Möchtest du einen Kaffee, David?«, fragte Angela, eine kurvige, kleine Frau mit selbstbewusstem Gebaren.

»Nichts lieber als das. Sag, wie ging es Pérez seit gestern?«

»Puh«, Angela zog die Brauen hoch, während sie eine Tasse unter die Kaffeemaschine stellte. »Gestern hat sie uns noch ziemlich auf Zack gehalten. Aber seit sie heute Morgen aufgewacht ist, ist sie plötzlich wieder ruhig. Insgesamt ist es seit heute wieder ruhiger auf Station.«

Sie schaltete die Maschine an, die lautstark Bohnen zerstampfte. Als die dampfende Tasse vor mir stand, bat ich Angela, mir die Aufnahme auf DVD zu brennen.

»Ist schon gestartet. Ach ja, entschuldige bitte wegen der Störung vorhin, ich war nicht schnell genug.«

Ich stutzte. »Welche Störung?«

»Die Patientin, die einfach bei euch reingeplatzt ist?«

»Es ist niemand reingeplatzt.«

»Natürlich, ich bin doch nicht blind! Also wirklich!«

Empört zog sie mich an den PC, der mit der Kamera im Besprechungsraum verbunden war. Sie öffnete die Filmdatei und spulte vor. Der Ton war angeschaltet.

Man sah mich und Pérez am Tisch sitzen.

»Mir werden Sie ja nicht glauben«, tönte ihre Stimme etwas verrauscht aus dem Lautsprecher. Plötzlich erschien hinter mir eine Figur, von einem Bild auf das andere. Sie stand am Rande des Bildes und war nur halb sichtbar.

Nun lehnte sich Pérez vor.

»Und wenn Sie mit dem Pater reden, dann erzählen Sie ihm auch von Nicolás.«

Die Figur wurde deutlicher sichtbar. Es war eine Frau. Sie stand hinter mir und hielt etwas. Ich sah ein rotes Kleid. Sie hielt etwas an sich gedrückt.

Während mein Video-Ich sprach, erkannte ich das, was sie im Arm hielt. Es war ein Kind, regungslos, mit dunkelblonden Locken. Kaum hatte ich sie erkannt, war sie auch schon verschwunden.

Da ich unfähig war, zu sprechen, beendete Angela das Schweigen.

»Seltsam. Ich kenn sie gar nicht. Hat sich da eine von der anderen Station reingeschlichen?«

Angela ließ das Video vor- und zurücklaufen. Obwohl ich betete, dass diese Figur verschwinden würde, blieb sie dort, auf dem Bildschirm, in meinem Rücken.

»Also, das geht nicht«, echauffierte Angela sich. »Ich werde der Sache auf den Grund gehen und die Verantwortlichen zur Schnecke machen.« Sie nickte mir resolut zu, doch ihr Gesichtsausdruck änderte sich, sobald sie mich ansah.

»Du meine Güte, was ist denn mit dir passiert? Komm, ich mess dir den Blutdruck.«

Wie ein Kleinkind wehrte ich mich gegen Angelas Fürsorge und verließ das Gebäude so schnell ich konnte. Als ich im Auto saß, suchte ich in meinem Telefon nach der Nummer des Kindergartens und rief dort an. Eine junge Frau nahm ab. Ich ließ sie kaum zu Wort kommen, doch versuchte ich mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

»Guten Tag, hier ist David Delgado. Ich bin Nicos Vater. Ich wollte fragen ob es ihm gut geht weil … weil er heute Morgen ein bisschen über Bauchschmerzen geklagt hat.«

»Jaja, es geht ihm blendend. Er tobt gerade hier durchs Zimmer. Wollen Sie mit ihm reden?«

»Nein, nein ist gut. Ich glaube Ihnen.«

Am Nachmittag war ich für meine üblichen Patienten nicht zu gebrauchen. Ich arbeitete normalerweise in einer Gruppenpraxis und war neben meiner Gutachtertätigkeit ein hundsgewöhnlicher Psychotherapeut. Heute hatte ich das Gefühl, dass ich meine Klienten um ihr Geld betrog, weil ich kaum zuhören konnte. Pérez Drohung hallte in meinem Kopf nach wie ein Echo, das an den Wänden meines Schädels abprallte.

Als der letzte Patient endlich gegangen war, klingelte mein Telefon. Es war Staatsanwalt Mendoza. Ich hatte ihm berichtet, dass ich den Termin mit Pérez hatte verschieben müssen.

»Waren Sie bei Pérez?«

»Ja. Sie hat sich geweigert, mit mir zu reden.«

»Versteht sie, dass es zu ihrem Vorteil sein könnte, mit Ihnen zu reden?«

»Ja. Sie ist nicht dumm. Und heute zumindest schien sie mir durchaus einwilligungsfähig zu sein.«

»Hm. Werden Sie sie noch einmal sehen?«

»Ja, ich werde es in ein paar Tagen noch einmal bei ihr versuchen.«

»Ok, ok, alles klar.« Ich war mir nicht sicher, ob er gerade mit mir redete.

»Hören Sie, Señor Delgado, ich wollte Ihnen noch mitteilen, dass Pedro Pérez letzte Nacht im Krankenhaus gestorben ist. Das heißt, wir ermitteln jetzt wegen Mordes.«

In der Leitung herrschte einige Sekunden lang nichts als Rauschen. Dann begann Mendoza wieder zu reden.

»Schlimm, nicht?«

»Ja.«

»Sie haben auch einen Jungen in dem Alter.«

»Ja.«

»Meine Tochter ist schon älter.«

»Hm.«

»Gut, das wollte ich Sie wissen lassen. Bitte geben Sie mir Bescheid wenn …«

»Warten Sie noch, ich…«, unterbrach ich ihn, »ich würde gerne mit jemandem Kontakt aufnehmen, der die Beschuldigte gut kennt.«

»Wer wäre das?« Ich hörte das Rascheln von Papier.

»Der Priester Bernardo Fortunas.«

»Wer ist das?«

»Pérez bestand heute darauf, dass ich mit ihm rede. Wir haben sogar eine Unterschrift von ihr. Er scheint sie von klein auf zu kennen. Biographische Daten von einer Drittperson könnten mir bei meinem Gutachten helfen.«

Mendoza schien kurz zu überlegen. »Nun, das ist etwas ungewöhnlich, aber wenn Sie meinen es hilft, dann tun Sie das.«

Ich wartete keine Sekunde. Die Adresse des Priesters kannte ich aus den Briefkopien, sodass ich mich über die Telefonauskunft verbinden ließ.

In der Stille, die nach dem letzten Wort der Auskunftsangestellten herrschte, kamen mir Zweifel. Vielleicht existierte Fortunas gar nicht und war nur eine Wahnidee. Als ich gerade zum Schluss gekommen war, dass ich wahrscheinlich selbst irre wurde, begann es in der Leitung zu tuten. Ich hielt den Atem an.

Tut. Tut.

»Fortunas?«

Statt zu reden, schnappte ich lautstark nach Luft.

»Hallo?«

»Bin ich da richtig bei Pater Fortunas?«

Der Mann am Telefon zögerte kurz. »Wer spricht bitte?«

»Mein Name ist Delgado. Ich bin vom Gericht beauftragt worden, Sie zu befragen wegen des Falles Pérez.«

»Der Fall aus dem Fernsehen? Was habe ich damit zu tun?«

»Kannten Sie Alba Pérez?«

Er räusperte sich. Es raschelte.

»Das ist mehr als ein Jahrzehnt her. Ich weiß nicht wie das mit dem, was da passiert ist, zusammenhängt.«

»Im Sinne der Beschuldigten müssen Informationen zu ihrer Biografie gesammelt werden. Es geht hier um die Zurechnungsfähigkeit.«

»Sind Sie ihr Anwalt?«

»Nein.«

»Dann werde ich nicht mit Ihnen reden.« Er würde auflegen.

»Schweigepflicht!«, rief ich in die Leitung.

Wahrscheinlich hatte er den Telefonhörer bereits vom Ohr entfernt, weshalb er fragte: »Bitte?«

»Ich bin Psychologe und stehe unter Schweigepflicht«, log ich.

»Was heißt das?«

»Das heißt, ich darf nur die Informationen herausgeben, die Sie mir erlauben, herauszugeben.«

Als gerichtlicher Gutachter war ich verpflichtet, dem ermittelnden Staatsanwalt sämtliche Informationen zukommen zu lassen, die ich im Zusammenhang mit diesem Fall erfuhr. Ich belog den Priester nach Strich und Faden.

»So. Und was wollen Sie wissen?«

»Woher kannten Sie Frau Pérez?«

»Wissen Sie, Herr…«

»Delgado.«

»Ja. Wissen Sie, vielleicht sollten wir uns persönlich verabreden. Ich bin alt und kann nicht mehr so lange reisen. Wann könnten Sie hierher kommen?«

Die Kleinstadt, in der Fortunas lebte, war vier Autostunden von mir entfernt.

»Unmöglich. Das lässt mein Zeitplan nicht zu. Kann ich Ihnen stattdessen jetzt ein paar Fragen stellen?«

»Was müssen Sie denn so dringend wissen?«

»Woher kannten Sie Pérez?«

»Dann muss ich mich wohl wiederholen, Herr Delgado. Das möchte ich nicht am Telefon besprechen.«

Ich schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Was ist das für ein DING, das sie verfolgt?«, schrie ich durch den Hörer.

Fortunas antwortete nicht, und ich dachte, ich hätte ihn nun verjagt mit meinem Ausbruch. Doch als ich die Fassung wiedererlangt hatte, sprach der Priester.

»Sie haben sie gesehen? Die Frau mit dem roten Kleid?«

»Ja.«

Stille. Fortunas schlug nun einen sanfteren Tonfall an.

»Wie alt ist Ihr Kind?«

»Drei. Nicolás.«

Fortunas dachte eine Weile nach, bevor er seinen Vorschlag machte.

»Ich denke, ich könnte morgen am späten Abend bei Ihnen sein. Haben Sie ein Gästezimmer?«

»Ja, aber…«

Er unterbrach mich.

»Das ist gut. Geben Sie mir Ihre Adresse.«

Ich stockte. »Warum können Sie mir nicht einfach sagen, was hier vor sich geht?«

Er seufzte. »Sie alleine können gar nichts ausrichten. Und der nächste Priester, den sie auftreiben, oder ein selbsternanntes Medium auch nicht, falls Sie das im Sinn hatten.«

»Das hatte ich bestimmt nicht, Pater. Und Sie werden nicht einfach in mein Haus kommen und hier alles beweihräuchern.«

Der alte Mann lachte rau und krächzend.

»Mein Sohn, ich wünschte das wäre das einzige, was nötig ist!« Er fing sich wieder.

»Es tut mir leid. Diese Situation ist wahrlich nicht zum Lachen.«

»Sie jagen mir keine Angst ein. Und überlegen Sie sich, ob Sie Alba Pérez im Stich lassen wollen.«

»Ich habe ihre Briefe bekommen. Es gibt nichts, was ich noch für dieses arme Mädchen tun kann. Ich kannte Albas Mutter, wissen Sie. Auch sie hat sich gegen meine Hilfsangebote gewehrt. Machen Sie nicht den gleichen Fehler.«

»Soll das eine Drohung sein?«

»Im Gegenteil. Ich rate Ihnen jedoch: behalten Sie Ihre Frau im Auge. Falls Sie sich umentscheiden, ich bin da.«

Mit diesen Worten legte er auf.

Zu behaupten, ich hätte in dieser Nacht wachgelegen, wäre eine Lüge. Liegen konnte ich keine Sekunde. Ich erklärte Inés, dass mir der Staatsanwalt im Nacken säße wegen eines Gutachtens, das ich vor mir hergeschoben hatte. Sie akzeptierte meine, nicht ganz abwegige, Lüge und ging ins Bett. Ich hatte schon den ganzen Abend über Ausreden gesucht, um an Nicos Schlafzimmer vorbeizuschleichen. Hinzuhören, nach seinen Atemzügen. Hinzusehen, ob das blaue Nachtlicht etwas enttarnte, was nicht real sein konnte. Die Wohnungstür war verschlossen. Dessen hatte ich mich gründlich versichert. Ebenso die Fenster.

Die letzten Worte des Priesters hallten mir nach. Sie sollten keine Wurzeln in meinen Gedanken schlagen. Ich verabscheute die Irrationalität von Glauben wie Aber-glauben.

Obwohl es gegen meine Prinzipien verstieß, setzte ich mich vor den Computer und überflog die Berichterstattung über Pérez. Anscheinend hatte man der Presse noch nicht mitgeteilt, dass das Kind gestorben war. Ich hoffte, dass ein fleißiger Journalist irgendeinen Verwandten von Pérez ausfindig gemacht hatte. Eine alte Tante, die ein paar betroffene Worte abgegeben hatte. Jeder noch so kleine Fetzen Information würde mir helfen, dieses Puzzle zusammenzusetzen.

Da fast alle voneinander abschrieben hatte ich schon keinen Überblick mehr. Als ich vom Bildschirm aufblickte, wurde ich von einer zerzausten Gestalt beobachtet.

»David,«, flüsterte Inés, »du scharrst ja mit den Hufen.«

Sofort versuchte ich, mich zu entspannen, doch das ließ sie mir nicht durchgehen.

»Erzähl. Na los.« Sie setzte sich auf die Recamière und beobachtete mich.

Ich seufzte, ließ mich auf den Bürostuhl sinken und gab ihr nach.

»Du kannst dir sicher denken, dass ich gerade Alba Pérez begutachte.«

Sie nickte. »Die, die versucht hat, ihren Sohn zu ertränken.«

»Sie hat es geschafft«, korrigierte ich sie, »er ist heute gestorben. Jetzt ist es ein Mordfall.«

Inés schluckte und schaute auf den Boden.

»Sie behauptet, ein Geist hätte sie dazu getrieben. Eigentlich ist der Fall klar, sie ist vollkommen neben der Spur. Sie war als Kind dem römischen Ritual ausgesetzt.« Ich schüttelte den Kopf.

»Die Arme.« Inés stand auf und setzte sich auf meinen Schoß. Der Bürostuhl sackte ein Stück nach unten.

»Ich verstehe schon. Sie hat einen Exorzismus erlebt und jetzt tötet sie ihren Sohn, der genauso alt ist wie Nico.«

Ich nickte. Sie strich mir durchs Haar.

»Weckt es Erinnerungen?«

Ich schüttelte den Kopf, doch Inés konterte.

»Das sieht doch ein Blinder.«

»Du bist doch auch betroffen.«

»Natürlich, wegen dem Jungen. Aber mir wurde keine weiße Frau ausgetrieben.«

Ich schob sie grob von mir herunter, sodass sie sich an der Tischkante festhalten musste.

»Hey!«

Sie schaute mich entrüstet an. Unter der Ärmelöffnung ihres Schlafanzuges ballte sie die Fäuste. »Findest du, ich habe Unrecht?«

»Ich bin Profi.«

»Du bist ein Mensch mit einer Geschichte.« Sie verschränkte die Arme unter der Brust.

Ich massierte meine Stirn. »Dass in Südamerika damals Exorzismen an Kindern durchgeführt wurden ist keine Seltenheit.«

»Du weichst mir aus.«

»Was willst du denn von mir hören? Hm?«

»Ich will, dass du endlich ins Bett kommst.« Sie schaute mich noch eine Sekunde lang an, als wollte sie sagen Und tu nicht so auf starken Mann.

Daraufhin stapfte sie in den Gang hinaus und ließ mich allein im kalten Büro.

Ich starrte auf das Bücherregal vor mir. Scham stieg mir heiß den Hinterkopf hinauf. Diese Frau kannte mich besser als ich selbst.

Die Bilder meiner Kindheit spielten leise vor meinem inneren Auge. Mein kleiner Bruder auf einem Dreirad. Meine Tante Rosalia, die schreiend in meinem Zimmer steht und behauptet, eine weiße Frau gesehen zu haben. Meine Schwester Diana, die meiner Mutter erzählt, ich würde mit jemanden reden, der nicht da ist. Und der Priester, der mich an einen Stuhl binden lässt und mir Marienfiguren in den Mund steckt.

An all das habe ich mich lange nicht mehr erinnert. Die Psyche ist nicht mathematisch logisch. Zeit existiert für sie nicht.

Ich löschte das Licht hinter mir und tastete mich ins Schlafzimmer vor. Das Babyfon schwieg. Inés hatte sich in die Bettdecke eingewickelt. Ich legte mich still daneben. Die Wärme der Laken, der vertraute Geruch.

Ich spürte die schmerzhafte Spannung in meinem Kiefer. Meine Hände klammerten, zu Fäusten geballt, die Decke fest. Die Äste vor dem Fenster warfen ein Schattenspiel an die Decke. Autos fuhren vorbei, das schwarze Muster verschwamm und kehrte wieder. Das wiederholte Verschwimmen und Wiederkehren, zusammen mit dem leisen Rauschen der Wagen, klang harmonisch zum regelmäßigen Atem neben mir.

Das Licht war grau, als das Knarzen des Babyfons mich weckte. Die Leuchtanzeige flackerte rot. Neben mir war das Bett leer. Ich zog die Decke über die Brust und schloss die Augen. Einem erschöpften Seufzer folgte die Erinnerung an die Worte des Priesters.

Die Erkenntnis katapultierte mich von der Matratze. Über mehrere Schritte hinweg sah ich schwarzes Flimmern und stieß mit der Hüfte gegen die Kommode. Ich zog mich durch den Türrahmen und sprintete über den Flur zum Kinderzimmer.

Über dem Gitterbett lehnte eine Frau. Ihr Haar reflektierte das grüne Nachtlicht.

Ich stieß sie mit all meiner Kraft weg und landete mit dem Bauch auf dem Gitterrand. Das Kissen fiel von Nicos Gesicht als ich ihn mit einem Ruck aus dem Bettchen hob. Zwar war er warm, doch er lag in meinen Armen wie eine leblose Stoffpuppe.

»Nico!«, schrie ich, »wach auf!«

Er regte sich nicht und ich begann, das Kind zu schütteln. »Nico!«

Immer noch keine Regung. Ich drückte ihn an mich und drehte mich zur Tür, doch mein Weg war verstellt.

»Was, was zum…« stammelte Inés. Sie hielt etwas in der Hand.

»Geh weg!« Mit Nico über meiner Schulter hielt ich den Arm vor mich gestreckt. Ich rannte sie um. Sie stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Dabei fiel etwas zu Boden und zerbrach. Eine weiße, lauwarme Flüssigkeit spritze über meine nackten Füße. Milch.

Inés starrte mich an, die dunklen Augen weit aufgerissen.

»Was hast du getan?« Ihre Stimme war brüchig.

Ich schüttelte den Kopf. Nico hing immer noch schwer und reglos von meiner Schulter.

»Ruf den Notarzt«, presste ich heraus.

Sie blieb reglos, ihr Mund stand offen. Sie ballte die Fäuste.

»Was hast du getan!« kreischte sie.

»Ruf-den-Notarzt!«, brüllte ich zurück.

Ich ging in die Knie und legte Nico sanft auf den Boden zwischen uns. Seine Augen waren geschlossen und seine Lippen waren grau. Ich beugte mich zu ihm hinab, öffnete seinen Mund und blies Luft in ihn hinein. Sein Brustkorb hob sich. Neben mir hörte ich, wie Inés aufstand und wegging.

Ich beatmete ihn weiter. Meine Hand lag auf seinem Bauch, spürte das Heben und Senken. Seinen weichen Pyjama. Dazwischen rüttelte ich an ihm, rief nach ihm.

Irgendwann wurde es laut. Stimmen und Schritte kamen näher, blieben hinter mir stehen. Ein Mann in einer orangenen Jacke und mit einem Gerät in der Hand schob mich zur Seite, dann kam eine Frau. Beide kauerten sie neben Nico. Jemand zog mich am Arm von ihm weg und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Kräftige Hände griffen mich und drehten mich um.

Zwei Männer in dunkelblauer Uniform, Funkgerät und Springerstiefeln.

»Herr Delgado«, sagte einer. Er senkte nach jeder Aussage die Stimme. »Kommen Sie freiwillig mit?«

Das war keine Frage.

Dunkle Rituale

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