Читать книгу Dunkle Rituale - Christoph Grimm - Страница 8
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Dienstag, 24. Oktober, 07:30 p. m.
Bonnie hatte erwartet, den Pub ähnlich verwaist wie am vergangenen Wochenende vorzufinden, doch zur Überraschung der Sechzehnjährigen erwies er sich als gut besucht. Der Dienstag-Abend-Club, wie sie die stets gleiche Zusammensetzung der Gäste nach dem Ruhetag bezeichnete, war vollständig anwesend. Dennoch war es anders. Die meisten Besucher nahmen ihre Getränke schweigend zu sich und die wenigen Gespräche bestanden nur aus leisem Gemurmel. Eine angespannte Stimmung lag in der Luft. Drei Tage nach dem Auffinden der Leiche von Anthony O’Hara standen die Anwohner der kleinen Ortschaft außerhalb von Perth noch immer unter Schock.
Ellen wartete am Tresen auf sie. Gerade nach dem grauenhaften Fund am vergangenen Samstagmorgen freute sich Bonnie ganz besonders, sie zu sehen. Seit ihre zwei Jahre ältere Freundin arbeitsbedingt den Großteil der Woche in Perth verbrachte, sahen sie sich viel zu selten, doch die Dienstagabende während Bonnies Schicht im Pub bewahrten sie sich so gut es ging.
»Wie auf einer Beerdigung«, bemerkte Ellen zur Begrüßung.
Bonnie nickte, während sie hinter den Tresen Stellung bezog und sich eine Schürze anlegte.
»Es wundert mich, dass überhaupt jemand hier ist.«
»Macht der Gewohnheit«, antwortete Ellen schulterzuckend. »Vielleicht genau das, was jetzt alle brauchen.«
»Dasselbe hat Großvater heute Morgen auch gesagt, als Granny und ich überlegten, ob es Sinn macht, den Pub zu öffnen. Scheinbar hat er Recht behalten.«
»Colin ist ein kluger Mann«, sagte Ellen lächelnd, nippte an ihrem Whiskey und ließ ihren Blick ebenfalls durch den Raum wandern. »Es ist wirklich wie nach einer Beisetzung. Aber wer kann es ihnen schon verdenken?«
»Niemand. Wir alle wissen, zu was Menschen fähig sind, reden uns aber immer ein, dass es weit weg von uns geschieht. In London, Glasgow, aber sicher nicht in Perth. Und nun hat es das Biest nach Aberdalgie verschlagen.«
»Es ist ja nicht sicher, dass es sich um denselben-«
»Nicht sicher?«, stieß Bonnie lauter als beabsichtigt aus. Ihr Großvater, welcher der Pokerrunde Gesellschaft leistete, warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Sie lächelte verlegen, ehe sie mit gedämpfter Stimme an Ellen gerichtet fortfuhr: »Anthony war genauso zugerichtet wie die Leichen, die sie in der Stadt gefunden haben. Hältst du das für Zufall?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ellen schulterzuckend. »Nein, ja … warum glaubst du, dass es keiner ist?«
»Ich … keine Ahnung. Nur ein Gefühl.«
Bonnie senkte den Kopf und widmete sich dem Spülen der Gläser. Den Blick, mit dem ihre Freundin sie bedachte, spürte sie dennoch.
»Du hast davon geträumt, nicht wahr?«, fragte Ellen schließlich leise.
Verdammt, dachte Bonnie. Ellen wusste als Einzige von ihren Albträumen. Jenen Schreckensvisionen, die immer nach gleichem Muster abliefen und nur Änderung durch Personen und Umgebung erfuhren. Stets nur Fetzen, in denen sie, gleich einem Raubtier, Menschen jagte und zum Schluss mit unerbittlicher Grausamkeit erlegte. Seit die Bestie von Perth – wie die Zeitungen reißerisch den Täter der grausamen Mordserie bezeichneten – ihr Unwesen trieb, war es besonders schlimm.
Es hatte eine Weile gedauert, bis ihr auffiel, dass die Träume nur kamen, wenn es am Morgen darauf ein neues Opfer zu beklagen gab. Zunächst redete sie sich ein, dass es sich um einen Zufall handeln musste, dass ihre Fantasie die grauenhafte Mordserie in unmittelbarer Nähe im Schlaf verarbeitete. Als sie jedoch in den Zeitungsartikeln die fremden Personen aus ihren Träumen wiedererkannte, zog es ihr den Boden unter den Füßen weg.
»Nun?«, bohrte Ellen nach.
»Ja«, antwortete Bonnie widerstrebend.
»Erzähl mir davon!«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Der Ablauf des Traums unterschied sich nicht von den anderen. Nur einzelne Fetzen. Ich habe ihn gejagt. Angefallen. Und dann …« Sie fröstelte, als die grausamen Bilder erneut vor ihrem geistigen Auge aufblitzten. »Dieses Mal habe ich nur die Umgebung erkannt. Und natürlich Anthony.« Sie hielt inne und versuchte mühsam die Tränen zu unterdrücken. »Aber vielleicht sind es auch gar keine Träume.«
»Nicht?«, fragte Ellen und hob eine Augenbraue an. »Was dann?«
Bonnie krampfte ihre Hände zu Fäusten, ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die Ballen.
»Erinnerungen«, presste sie hervor.
Ellen schwieg einige Augenblicke, doch ihr Blick sprach Bände.
»Okay, Süße«, antwortete sie schließlich. »Habe ich das jetzt gerade richtig verstanden? Du glaubst, dass du das warst? Dass du die Bestie bist?«
Bonnie bedauerte augenblicklich das Gesagte. Es waren nur Vermutungen, die sie seit Wochen mit sich herumtrug. Dennoch nickte sie. Ellen klappte der Kiefer herab.
»Das ist doch verrückt!«, stieß sie hervor. »Keine Ahnung, warum du diese Albträume hast, aber das sind mit Sicherheit keine Erinnerungen!«
»Woher willst du das wissen? Du weißt, dass ich schlafwandle, und-«
»Stopp!«, fiel Ellen ihr ins Wort. »Ich fasse das jetzt mal zusammen: Du meinst, dass du nach Perth schlafwandelst und Menschen auf bestialische Art und Weise ermordest? Und anschließend, als wäre nichts geschehen, wieder zu Bett gehst? Weißt du eigentlich, wie bescheuert das klingt?«
Ja, weiß ich. »Mir kommt es gar nicht so bescheuert vor«, antwortete sie dennoch.
»Aber das ist es«, beharrte Ellen. »Man stelle sich vor: Gestandene Männer zur Strecke gebracht und zerstückelt von einem pennenden Teenager. Sag mir, dass das-«
»Zahlen, bitte!«, erklang eine männliche Stimme.
Ellen verstummte jäh und Bonnie lief es kalt den Rücken hinab, als ihr Blick auf den muskulösen, blonden Mann fiel, der unbemerkt zu ihnen an den Tresen getreten war.
Was er wohl mitbekommen hat?
»Bitte?«, fragte Bonnie verdattert.
»Ich möchte zahlen«, wiederholte der Blonde.
»Oh … Klar, einen Moment … Sie hatten …«
»Zwei Kaffee, ein Wasser.« Er hielt ihr eine Zehn-Pfund-Note entgegen. »Stimmt so.«
»Danke«, murmelte Bonnie, als sie den Schein entgegen nahm.
Noch ehe sie etwas erwidern konnte, wandte er sich grußlos ab. Ellen sah ihm nach, während er die Treppe zu den Gästezimmern hinaufschritt.
»Netter Arsch«, merkte sie an, als er außer Sichtweite war.
»Ellen, also bitte!«, sagte Bonnie in gespielt tadelndem Tonfall, konnte sich ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen.
»Was denn?«, antwortete ihre Freundin grinsend. »Ein hübscher Kerl. Wer ist er?«
»Sean Donovan. Ein Gast.« Bonnie zuckte mit den Schultern. »Er kam am Sonntag an und … oh.«
»Was ist?«
»Na ja, er ist urplötzlich hier aufgetaucht. Er fragte, ob wir noch Zimmer frei hätten. Klar, es ist ja komplett außerhalb der Saison. Zwei Tage nach der Ermordung von Anthony. Vermutlich nur ein Zufall, aber komisch ist es schon.«
Ellen rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf.
»Du bist unglaublich, weißt du das? Zuerst verdächtigst du dich selbst und anschließend eure Gäste. Hoffen wir mal, dass deine Großeltern noch so lange fit bleiben, bis die Polizei den wahren Täter schnappt.« Sie leerte ihr Glas in einem Zug und zwinkerte ihr zu. »Bei deinen wirren Theorien wäre der einzige Pub in Aberdalgie sonst dem Untergang geweiht.«
2
Freitag, 27. Oktober, 07:17 a. m.
Es war nur ein Traum! Nur ein blöder Traum!, sagte sich Bonnie erneut, während sie langsam die Treppe zum Pub hinabstieg.
Ihre Großeltern warteten sicher schon mit dem Frühstück auf sie. Sie aß morgens nur ungern und war sich sicher, nach den Schreckensvisionen der vergangenen Nacht keinen Bissen herunterzubringen, doch ihre Großeltern bestanden auf dem Ritual familiär eingenommener Mahlzeiten.
Ehe sie die Küche betrat, zog Bonnie ihr Smartphone aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf. Noch immer keine Antwort auf die Nachricht, die sie kurz nach dem Aufwachen losgeschickt hatte.
Nur ein Traum! Es war – nur – ein – Traum!
Beim Anblick ihrer kreidebleichen Großeltern schnürte sich ihre Kehle zu.
»Was … was ist?«, gelang es Bonnie mit erstickter Stimme zu fragen.
Bitte nicht Trevor, bitte nicht Trevor, bitte nicht Trevor, bitte-
»Trevor«, antwortete Großvater leise. Stockend fuhr er fort: »Shaws … sie …«
Hinterhof!
»… haben ihn … hinterm Haus gefunden …«
Zerfleischt!
»… verteilt über den gesamten Hof …«
Enthauptet!
»… den Kopf abgerissen, kaum noch-«
»Colin!«, rief Großmutter streng dazwischen. »Die blutigen Einzelheiten braucht es wirklich nicht.« Dann wandte sie sich ihr zu. »Du bleibst heute zuhause und … Bonnie!«
Bonnie stürzte aus der Küche. Sie hörte ihre Großmutter erneut ihren Namen rufen; Großvater, der müde »Lass sie« von sich gab. Bonnie dankte ihm insgeheim dafür, während sie die Tür aufriss und ins Freie stürmte. Jetzt wollte sie niemanden um sich haben.
Mörderin! Mörderin!, hämmerte es in ihrem Kopf, während sie die Straße entlang rannte. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Die Fetzen des Traums erschienen überdeutlich vor ihr. Sie rannte schneller, doch den Bildern in ihrem Kopf konnte sie nicht entkommen.
Trevor. Sie hatte gesehen, was ihr Großvater nur gehört hatte. Die Jagd am Haus der Shaws. Der Hinterhof. Todesangst im Gesicht des davonrennenden Jungen, der ihre erste Liebe gewesen war. Sein schmerzverzerrtes Gesicht, seinen zerfetzten Körper. Am meisten quälte sie jedoch das Bild seiner Augen. Jene wundervollen braunen Augen, die ihr im letzten Jahr ganze Nachmittage mit schöneren Träumen beschert hatte und in denen sie den Lebensfunken hatte vergehen sehen.
Bonnie wusste nicht, wie lange sie gerannt war, doch als sie nur noch Bäume um sich herum sah, blieb sie stehen. Keuchend sank sie auf den feuchten Waldboden und weinte hemmungslos.
Warum Trevor? Warum?
Es dauerte, bis der Tränenstrom versiegte und sie sich wieder beruhigte. Langsam erhob sie sich und sah sich um. Krass. Drei Meilen gerannt, ging es ihr durch den Kopf, als sie registrierte, in welchem Teil des Waldes sie sich befand.
Einige Augenblicke blieb sie unschlüssig stehen, dann schlug sie die Richtung ein, die tiefer in den Wald und weiter von Aberdalgie weg führte. Großmutter würde ihr für die Flucht aus dem Pub sicher eine Standpredigt vom Feinsten halten, doch das war ihr momentan egal. Gerade jetzt brauchte sie die kraftspendende Einsamkeit des Waldes mehr denn je. Sie bezweifelte, dass sie hier draußen Antworten finden würde, doch vielleicht würde sich der Sturm in ihrem Kopf etwas beruhigen.
Sie lächelte schwach, als sie die große Eiche am Waldrand erreichte. Der dahinter liegende Steinkreis war ihr Ziel. Dieser Ort aus vergangener Zeit war zwar kein Geheimnis, doch er lag so verborgen, dass ihn weder Touristen noch die Bewohner der umliegenden Ortschaften oft aufsuchten.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Trevor – dem einzigen Menschen, mit dem sie diesen Platz je aufgesucht hatte. Bonnie lächelte, als sie an diese Stunden dachte. Sowohl von den Shaws als auch von ihren Großeltern wären sie gelyncht worden, hätten diese geahnt, was sie in der schützenden Einsamkeit der Felsen gemacht hatten.
Als sie den Kreis betrat, riss sie die Anwesenheit von Donovan jäh aus ihren Gedanken. Sie stieß einen überraschten Schrei aus. Bonnie hatte nicht erwartet, hier draußen jemanden anzutreffen - am allerwenigsten ihn.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie erstaunt.
Donovan, offenbar ebenso verwirrt, starrte sie einige Augenblicke an. Dann hob er die Kamera an, die an einem Lederband vor seiner Brust hing.
»Ornto … Ornitlo … Vögel«, antwortete er knapp.
Bonnie runzelte die Stirn. Der Typ wurde ihr unheimlich. Fototouristen auf Urlaub stellten in der Gegend rund um Perth keine Seltenheit dar, aber dass sich jemand für die ganz und gar unspektakuläre Tierwelt interessierte, war ihr neu.
»Schon ein paar interessante Vögel gesehen?«, fragte sie dennoch höflich.
Donovan schüttelte den Kopf.
»Nein, leider nicht. Aber dafür diesen faszinierenden Ort. Ein vergangener Teil Geschichte, vergessen vom Rest der Welt.«
Bonnie nickte.
Genau. Einsam! Sei einfach still und hau ab!, fügte sie grimmig in Gedanken hinzu.
Donovan deutete auf den runden Sockel, der die Mitte des Steinkreises einnahm. Im Gegensatz zu den umgebenden Felsen, die es aufgegeben hatten, der Natur Einhalt zu gebieten, erwies er sich fast frei von Bewuchs.
»Ungewöhnlich, nicht wahr? Sieht fast aus wie ein Altar.«
»Nicht ganz.« Bonnie wiegte den Kopf. Als sie den fragenden Blick Donovans bemerkte, fuhr sie mit einer Erklärung fort: »Auch wenn er in den letzten Jahrhunderten sicher dafür genutzt wurde, ist dieser Ort nicht christlichen Ursprungs. Ebenso wenig wie der Sockel.«
Bonnie deutete auf die große Eiche hinter ihr, und nach einigen Sekunden verschwand die Verwirrung aus Donovans Gesicht. Offenbar wusste er um die heidnischen Brauchtümer, die in Schottland vor der Christianisierung geherrscht hatten.
»Verstehe«, antwortete er und schwieg einige Augenblicke, ehe er hinzufügte: »Nach dem Leichenfund heute Morgen ist es schon makaber, dass Sie ausgerechnet so einen Ort aufsuchen.«
»Wenn Sie es genau wissen wollen, ist der Tote jemand, der mir sehr viel bedeutet hat. Ich wollte einfach meine Ruhe haben.«
»Oh, tut mir leid«, antwortete Donovan, doch seinem Tonfall und Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien das Beileid nicht ernst gemeint zu sein. »Es überrascht mich dennoch, dass sie alleine unterwegs sind.«
»Dasselbe könnte ich Ihnen auch vorhalten«, entgegnete sie schnippisch.
»Ich kann auf mich aufpassen. Und Sie?«
»Das ist ja wohl meine Sache.« Arschloch. Bonnie verschränkte die Arme vor der Brust. »Zudem kenne ich mich hier draußen etwas besser aus als Sie.«
»Okay, ich habe es ja nur gut gemeint.«
»Ich frage mich, warum Sie überhaupt noch hier sind,
Mr. Donovan. Es gibt derzeit sicher angenehmere Orte, um Urlaub zu machen als Perth oder Aberdalgie.«
»Morde passieren überall, Miss Cunningham.« Er wandte den Blick von ihr ab und schritt langsam um den kreisrunden Sockel. Ohne sie anzusehen fragte er: »Ob der Mörder wohl aus Aberdalgie kommt?«
Bonnies Nackenhaare stellten sich auf.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
Weil du eine Mörderin bist und er es dir ansieht, darum!, schrie ihre innere Stimme.
»Zwei Morde, keine Woche auseinander. In so einer kleinen Ortschaft. Fremde wären sicher aufgefallen.«
Mörderin!
»Fremde wie Sie?«, gelang es ihr dennoch zu fragen.
»Gut kombiniert, Miss Holmes. Ebenso wie die Polizei. Doch glücklicherweise habe ich für die Zeiträume der beiden Morde bezeugte Alibis. Es wundert mich nicht, dass ich einer der Ersten war, die der Polizei Rede und Antwort stehen durften. Andererseits …«, seine stahlblauen Augen fixierten sie, »…sind die Mörder oftmals nicht diejenigen, von denen man es am wenigsten erwartet hätte?«
Er weiß es!
Bonnie zitterte. Nur mit Mühe gelang ihr ein Nicken. Donovan ließ seinen Blick noch einige Sekunden wortlos auf ihr ruhen.
»Nun«, sagte er schließlich, »Sie sind ja nicht hierhergekommen, weil sie Gesellschaft wünschen. Noch einen angenehmen Tag, Miss Cunningham … und nochmals mein Beileid für ihren Verlust.«
In Donovans Gesicht erschien etwas, das wohl ein gut gemeintes Lächeln sein sollte. Dann wandte er sich ab. Bonnie ballte die Hände zu Fäusten und versuchte das Zittern zu unterdrücken. Sie fuhr zusammen, als Donovans Stimme erneut hinter ihr erklang: »Bleiben Sie nicht zu lange hier. Nicht, dass Ihre Großeltern noch die Polizei nach Ihnen suchen lässt.«
Dann verschwand er hinter dem gewaltigen Baum.
Er weiß es! Kein Entkommen, Bonnie! Kein-
»Halt die Klappe!«, schrie sie. »Halt endlich die Klappe!«
Sie wartete einen Augenblick, ehe sie zufrieden feststellte, dass sich ihre innere Stimme zurückgezogen hatte. Tief atmete sie ein, sah unsicher zur großen Eiche hinüber und hoffte, dass Donovan ihren Aufschrei nicht mitbekommen hatte. Zu ihrer Erleichterung kehrte er nicht zurück.
Erschöpft ließ sie sich auf dem Sockel nieder und starrte auf die Hügellandschaft, die sich scheinbar endlos hinter dem Steinkreis erstreckte. Ihre Gedanken rasten.
Ellen hat sich geirrt, dachte sie düster. Es konnte kein Zufall sein. Weder ihre Träume, noch das Auftauchen von Sean Donovan. Beides stand in irgendeinem Zusammenhang mit den Morden. Nur in welchem?
3
Sonntag, 29. Oktober, 09:32 a. m.
Bonnie blinzelte. Dann stöhnte sie auf. Hustete. Sie fühlte sich elend.
»Sie kommt zu sich, Aggie«, hörte sie eine vertraute Stimme neben sich.
Großvater?
»Gott sei Dank«, hörte sie ihre Großmutter antworten.
Was … Mit Mühe öffnete sie die Augen. Nur langsam klärte sich ihr Blick. Sie befand sich in ihrem Bett. Colin und Agnes Cunningham standen daneben und blickten besorgt zu ihr herab.
»Ach, Kind, was machst du denn für Sachen?«, fragte Großmutter.
»Was ist passiert?«, murmelte sie verwirrt, doch Agnes Cunningham ignorierte sie.
»Wir müssen wohl in Zukunft alle Türen doppelt und dreifach verriegeln«, sagte ihre Großmutter an ihren Mann gewandt, ohne Bonnie zu antworten.
Eine dritte, vertraute Stimme erklang: »Gibt es einen Arzt in Aberdalgie?«
Donovan. Hastig drehte sie den Kopf und erblickte mit schreckgeweiteten Augen den mysteriösen Gast auf der anderen Seite ihres Bettes. Und … Ellen?
»Ja«, antwortete Colin, »es ist nur fraglich, ob Dr. Hinchcliffe gerade kann, nachdem, was heute Nacht passiert ist.«
»Probieren Sie es«, meinte Donovan. »Ihre Enkelin scheint unversehrt, aber sie sollte besser ordentlich untersucht werden.«
»Wir lassen den Doktor sobald als möglich kommen«, antwortete Colin. »Nochmals vielen Dank, Mr. Donovan.«
»Nichts zu danken.« Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Die stahlblauen Augen fixierten sie nur für einen Moment, doch es genügte, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. »Wir sollten nur-«
»Was-«, rief Bonnie krächzend, »ist … passiert? Warum … ist-« Der Rest des Satzes ging in Husten über. Die vier Menschen in ihrem Zimmer warteten schweigend, bis der Anfall verebbte.
»Kannst du dich an gar nichts erinnern, Kind?«, fragte Großmutter.
Fieberhaft dachte sie nach, doch sie wusste nur noch, dass sie ins Bett gegangen war. Sie schüttelte den Kopf. Einige Augenblicke blieb es still, ehe Ellen das Wort ergriff: »Wir haben dich auf dem Friedhof angetroffen. Schlafwandelnd um das Grab deiner Eltern.«
»Was?«
»Ich war auf dem Weg zu dir. Wir wollten uns heute treffen, das war doch so abgemacht, nicht wahr?«
Bonnie nickte schwach.
»Unterwegs habe ich Mr. Donovan getroffen«, fuhr ihre Freundin fort. »Er befand sich ebenfalls auf dem Weg zum Pub. Ich wollte den Weg abkürzen, daher sind wir über den Friedhof gelaufen. Tja, und dort …«
Ellen ließ den Satz unvollendet und sah sie besorgt an. Bonnie schüttelte den Kopf.
Das darf doch nicht wahr sein.
Ihre Großmutter beugte sich zu ihr herunter. »Die Polizei wird später noch ein paar Fragen haben. Ich habe ihnen bereits gesagt, dass du schlafwandelst, aber nach letzter Nacht befragen sie ausnahmslos jeden.«
Bonnies Kehle zog sich schmerzhaft zusammen.
»Die Polizei?«, fragte sie leise.
Agnes Cunningham zögerte, ehe sie mit der Sprache herausrückte: »Es hat ein weiteres Opfer gegeben. Stew Colson. Sie haben ihn heute früh im Wald gefunden.«
Bonnie erbleichte. Ihre Träume blieben immer lückenhaft, doch bei dem letzten Traum vor zwei Tagen hatte kaum etwas den Sprung in den wachen Zustand geschafft. Sie erinnerte sich nur an eine Szene, ein Bild. Stewart Colson. Vor ihrem geistigen Auge erschien das sonst so gutmütige Gesicht des massigen Försters, verzerrt zu einer angsterfüllten Grimasse. Die Erleichterung, die sie verspürte, als der schwere Mann am Tag nach ihrem Traum den Pub aufsucht hatte, zerbrach mit einem Schlag.
»Oh Gott.« Mehr brachte sie nicht hervor.
Donovan meldete sich zu Wort: »Wir sollten Ihrer Enkelin Ruhe gönnen.«
»Ich bleibe noch ein paar Minuten bei Bonnie«, ließ Ellen vernehmen. »Nicht lange, versprochen.«
Colin und Agnes blickten sich einige Sekunden schweigend an, ehe Bonnies Großvater nickte.
»Meinetwegen«, antwortete Agnes. »Aber wirklich nur ein paar Minuten.«
Ellen warf ihr ein dankbares Lächeln zu. Kaum, dass Donovan und ihre Großeltern den Raum verlassen hatten, erstarb es.
»Bonnie …«, begann Ellen zaghaft, als sie sich ihrer Freundin zuwandte. »Hast du von Stewart Colson geträumt?«
Bonnie nickte langsam. Dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen.
»Also doch!«, rief sie und schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich war es. Ich hab ihn im Schlaf ermordet!«
»Bonnie, verdammt, jetzt hör mit dieser wirren Scheiße auf, okay?«
»Ist ja nicht so, als hätte ich es mir ausgesucht«, fauchte Bonnie. »Meinst du, ich habe diese Träume gerne? Hältst du es ernsthaft für Zufall, dass ich von jedem verdammten Opfer träume?«
Ellen bedeutete ihr mit einer Geste, still zu sein. Sie stand auf und schloss sachte die noch immer offene Zimmertür.
»Nein, halte ich nicht«, fuhr sie ruhig fort. »Ich habe keine Ahnung, was es mit deinen Träumen auf sich hat. Das … ist einfach zu verrückt. Vielleicht bist du so was wie ein Medium. Alles, aber keine Mörderin.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Logik, Bonnie, reine Logik.« Ellen sah ihr fest in die Augen. »Ich hab dich schon in schlafwandelndem Zustand gesehen. Da bringst du gar nichts fertig, am allerwenigsten das Jagen und Auseinandernehmen von einem Menschen.«
»Trotzdem …«
»Nein!«, fuhr Ellen entschieden dazwischen. »Hör zu, es passt überhaupt nichts zusammen. Stew wog locker das Dreifache von dir. Selbst wenn du wach gewesen wärst, hättest du diesem Bär von einem Mann nichts anhaben können.«
»Aber …«, begann Bonnie, doch ihre Freundin unterbrach sie erneut.
»Hast du Blut an dir? Spuren eines Kampfes? Verletzungen?«
Bonnie schwieg. Ellens Ausführungen ergaben Sinn. Wie immer. Sie konnte es einfach nicht gewesen sein. Dennoch musste es einen Grund für all das geben.
Bin ich ein Medium? Gibt es so etwas wirklich?
Mehr zu sich als zu Ellen sagte sie: »Ob ich der Polizei davon erzählen soll?«
Ellen sah sie entgeistert an. »Was noch Dümmeres fällt dir nicht ein?«
»Soll ich die Träume einfach ignorieren?«
»Die bringen dich in die Klapse! Oder sie nehmen deine Ich-bin-eine-schlafwandelnde-Mörderin-Spinnerei tatsächlich ernst und buchten dich ein. Schon mal darüber nachgedacht?«
»Irgendetwas muss ich doch tun.«
»Ja, Ruhe bewahren!«, entschied ihre Freundin. »Okay?«
Bonnie nickte, auch wenn sie sich gerade dazu nicht im Geringsten imstande fühlte. Nervös trommelten ihre Finger auf der Bettdecke.
»Donovan«, sagte sie. »Irgendetwas ist mit Donovan. Das spüre ich. Sein Auftauchen kann genauso wenig Zufall sein wie meine Träume.«
»Es ist sicher kein Zufall«, antwortete Ellen zögernd. »Allerdings wohl anders, als du denkst.«
»Okay …«, antwortete Bonnie gedehnt und wartete auf die Erklärung, doch Ellen schwieg.
Was verheimlicht sie mir?
»Raus mit der Sprache, Ellen! Warum?«
Ihre Freundin seufzte.
»Bevor wir dich gefunden haben, hab ich ihn bei einem der Polizisten gesehen. Als ich zu ihnen ging, hatte er sich schon von ihm abgewandt. Wahrscheinlich nahm er an, ich hätte es nicht bemerkt.«
Bonnie sah ihre Freundin verwirrt an.
»Ich kann dir nicht folgen …«, begann sie zaghaft.
»Verdammt, Bonnie, kapierst du es denn nicht?« Ellens Stimme bebte. »Sean Donovan ist wahrscheinlich ein Zivilbulle!«
4
Dienstag, 31. Oktober, 11:38 p. m. – Samhain
Bonnie sog erschrocken die Luft ein, als der Waldboden unter ihr nachgab und sie nach vorne in die nächtliche Dunkelheit stürzte. Es gelang ihr gerade noch, sich mit den Händen aufzufangen. Der Lauf des geschulterten Gewehrs stieß unangenehm gegen ihren Hinterkopf.
»Verdammt«, grummelte sie und hieb mit der Faust wütend auf den Erdboden, als könnte sie damit die Schmerzen vertreiben.
Selbst schuld, meldete sich ihre innere Stimme höhnisch zu Wort. Was rennst du auch mitten in der Nacht durch den Wald? Nur weil du mal wieder schlecht geträumt hast?
»Ach, fick dich«, murmelte Bonnie. Einen Augenblick später schüttelte sie den Kopf.
Na toll, jetzt beleidige ich mich schon selbst.
Langsam richtete sie sich auf. Um sie herum war es stockfinster. Zwar kannte Bonnie den Pfad zur Lichtung des Steinkreises in- und auswendig, doch in der erdrückenden Schwärze konnte sie nicht einmal die Silhouetten der Bäume erkennen, die sich in unmittelbarer Nähe am Wegesrand befanden. Die Baumkronen leuchteten im Licht des Mondes, doch dessen Schein reichte nicht weit; erst recht nicht, um den Waldboden zu erhellen.
Erneut zog sie ihr Smartphone hervor und betätigte die Wahlwiederholung. Wie bei den letzten Dutzend Anrufen erklang nach mehrfachem Läuten wieder nur die Ansage, dass der angerufene Teilnehmer derzeit nicht erreichbar sei. Bonnie seufzte und legte auf. Dann leuchtete sie mit dem Display die nähere Umgebung ab, prägte sich den Verlauf des Weges gut ein, ehe sie ihr Mobiltelefon wieder ausschaltete. Vorsichtig setzte sie ihren Marsch fort.
Vermutlich befand sich Ellen in ihrer Wohnung und hatte lediglich vergessen, ihr Smartphone zu laden. Oder sie trieb sich auf einer Halloween-Party herum und hatte Besseres zu tun, als auf ihre Anrufe zu achten. Wie oft hatte sie es in den letzten Stunden versucht? Zehnmal? Zwanzigmal?
Vierzigmal, ließ ihre innere Stimme vernehmen.
Sie stellte sich Ellen vor, wie sie irgendwann verwirrt vierzig Anrufe in Abwesenheit registrierte und sie vermutlich sofort zurückrief. Das würde ein lustiges Telefonat werden.
Ja, Ellen, stell dir vor, was ich geträumt habe. Es war anders als sonst. Du und Sean Donovan. Er hat dich gefesselt. Da lagst du, wie ein gut verschnürtes Päckchen, mitten auf dem Sockel im Steinkreis. Weißt schon, die heidnische Stätte oben im Wald. Tja, und nachdem ich dich nicht erreicht hab, schnappte ich mir eben Großvaters Jagdgewehr, hab es irgendwie an den Polizeistreifen vorbei geschafft und bin mitten in der Nacht nach oben gelaufen. Natürlich ohne Taschenlampe. Nicht, dass mich noch jemand gesehen hätte.
Sie sah Ellens Augenrollen bildlich vor sich. Doch jede Reaktion von ihrer Seite wäre ihr jetzt recht gewesen, hätte es nur eine gegeben. Sie stoppte. Reagierte sie über? Momentan war es Wahnsinn, mitten in der Nacht unterwegs zu sein. Noch dazu mit einem Gewehr.
Vielleicht sollte ich einfach umkehren.
Schlaues Mädchen!, lobte ihre innere Stimme höhnisch. Läuft schwerbewaffnet fast bis zum Steinkreis und dreht kurz vorm Ziel wieder um.
Widerstrebend gab Bonnie ihrer inneren Stimme recht. Sie wusste, dass sie die ganze Nacht nicht würde schlafen können, wenn sie sich nicht vergewisserte, dass alles in Ordnung war. Dass Ellen sonst wo, aber nicht am Steinkreis als Opfer weilte. Den Gedanken verdrängend, dass sie verrückt sein musste, derart intensiv Zwiegespräch mit sich selbst zu halten, lief sie weiter.
Erleichtert erblickte sie die alte Eiche, deren Kontur sich im Licht des Mondes aus der nächtlichen Schwärze schälte. Doch kaum hatte sie deren breiten Stamm passiert, blieb sie wie angewurzelt stehen. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Schrei, der sich nach oben bahnte. Direkt neben dem Steinkreis parkte ein Auto, ein Geländewagen, dessen Scheinwerfer in die Stätte schienen. Eine menschliche Silhouette bewegte sich in gespenstischem Schattenspiel an den Felsen im Innern des Kreises.
Weg hier!
Ungelenk hastete Bonnie hinter die Eiche. Schwer atmend presste sie sich gegen den Stamm. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
Lauf weg!
Bonnie widerstand dem Drang, so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und dem Steinkreis zu bringen. Sie wartete, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigte und ließ langsam das Gewehr von ihrer Schulter gleiten. Bonnie zuckte zusammen, als der Schaft sachte gegen den Stamm stieß und ein dumpfes Klopfgeräusch erzeugte. Vorsichtig ließ sie den Lauf der Flinte aufklappen, griff in ihre Hosentasche, zog die Patronen heraus und ließ sie in die vorgesehenen Öffnungen gleiten.
Geladen.
Ein Schauer glitt über ihren Rücken. Sie konnte sich nicht vorstellen, das Gewehr gegen einen anderen Menschen zu richten und war sich nicht sicher, ob sie selbst im Angesicht des Todes würde schießen können. Dennoch vermittelte es ihr das Gefühl, nicht vollkommen wehrlos zu sein.
Hausarrest für den Rest deines Lebens, kommentierte ihre innere Stimme.
Wenn es sonst nichts ist …, dachte sie bissig.
Die Flinte fest in Händen und den Atem anhaltend, schob sie sich an der Eiche entlang vorsichtig in Richtung des Steinkreises. Doch außer der verharrenden Silhouette, welche die Scheinwerfer des Autos noch immer gegen die Felsen warf, konnte sie nichts erkennen.
Zwecklos! Du bist zu weit weg. Und du solltest noch viel weiter weg sein!
Bonnie zitterte. Auch wenn sie nur zu gerne die Flucht ergriffen hätte, schlich sie langsam aus dem Wald heraus. Sie sah sich in alle Richtungen um – so gut es die nächtliche Dunkelheit eben zuließ – und näherte sich achtsam dem Steinkreis. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie den größten der äußeren Felsen erreicht. Vorsichtig sah sie in den Steinkreis hinein und erkannte den Ursprung der schattenhaften Silhouette: Donovan!
Ich wusste es!
Ihr Herz schlug bis zum Hals, dennoch spähte sie weiter am Felsen vorbei, tiefer in das Innere des Kreises.
Sie konnte die ganze Szenerie nur fassungslos betrachten.
Wie in meinem Traum!
Donovan war nicht alleine. Auf dem Sockel in der Mitte des Kreises lag Ellen – gefesselt. Eine junge Frau, kaum älter als Ellen, befand sich ebenfalls im Steinkreis. Regungslos wie eine Statue stand sie mit geschlossenen Augen zwischen Donovan und Ellen. Sie schien weder das Flehen der Gefesselten noch Donovans nervöses Herumtigern wahrzunehmen.
»Worauf wartest du noch, Larrio?«, fragte Donovan schließlich ungeduldig. »Warum beginnst du nicht?«
Ärger durchzog das Gesicht der Frau, als sie ihre Augen aufschlug und sich dem Mann zuwandte.
»Noch ist es nicht Mitternacht, oder?«, gab sie gereizt von sich.
»Macht das einen Unterschied?«, knurrte Donovan. »Es sind keine zwei Minuten mehr. Bringen wir die Sache hinter uns.«
»Es macht einen Unterschied«, bekam er kühl zur Antwort. Die Frau schloss erneut die Augen und kehrte zurück in ihre Reglosigkeit. Donovans Gesichtsausdruck sprach Bände, doch er verkniff sich eine weitere Bemerkung.
Bonnie beobachtete die Szenerie, die ihr aus dem vergangenen Traum nur zu bekannt war. Sie verfluchte den Umstand, nur Fetzen behalten zu haben.
Was haben die beiden vor?
Donovan warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Mitternacht«, sagte er schließlich. »Zeit für das Ritual.«
Larrio antwortete ihm nicht. Stattdessen breitete sie ihre Arme aus und begann in einem monotonen Singsang Worte in einer Sprache zu murmeln, die Bonnie nicht zuordnen konnte.
Wie eine dunkle Priesterin aus einem schlechten Horrorfilm.
Sie erschauerte, als Ellen gepeinigt aufschrie.
Larrio fuhr mit ihrem Gemurmel fort und ignorierte die Schreie. Ihre Miene blieb ruhig und konzentriert, zeigte nicht das geringste Anzeichen von Mitleid. Schließlich verstummte sie, senkte ihre Arme und öffnete die Handflächen. Donovan trat näher und reichte ihr etwas. Bonnie riss die Augen auf, als sie erkannte, um was es sich handelte: Ein Messer!
»Nein!«, entfuhr es ihr.
Donovan und die Frau fuhren zu ihr herum, ihre Blicke durchbohrten Bonnie.
Blöde Kuh!, keifte ihre innere Stimme panisch.
»Scheiße«, entfuhr es Donovan.
»Wie kommt Bonnie denn hierher?«, fragte Larrio verwirrt.
Woher kennt sie meinen Namen?
»Keine Ahnung«, stieß Donovan hervor und setzte sich in Bewegung. Panisch riss Bonnie das Gewehr nach oben und zog den Spannhebel nach hinten.
»Stehenbleiben!«, schrie sie.
Donovan hielt überrascht inne. Im gleichen Moment stöhnte Ellen auf.
»Scheiße«, fluchte Larrio. »Es beginnt!«
Donovan wechselte einen kurzen Blick mit der jungen Frau, ehe er sich wieder Bonnie zuwandte und beschwichtigend die Hände hob.
»Hör zu, Bonnie, es ist nicht das, wonach es aussieht. Nimm das Gewehr runter!«
Bonnie war verwirrt, dennoch ließ sie weder das Gewehr noch die Frau und den Hotelgast aus den Augen. Ellens Stöhnen wurde heftiger. Ihr Leib krümmte sich.
»Was ist mit ihr?«, schrie Bonnie panisch. »Geht weg von ihr, oder ich schieße.«
Larrio warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Für diese Scheiße haben wir keine Zeit«, knurrte sie und noch ehe Bonnie reagieren konnte, stieß die junge Frau schwungvoll einen Arm von sich. Eine unsichtbare Kraft riss Bonnie das Gewehr aus der Hand. Mit einem lauten Geräusch schlug es an einem der Felsen auf.
Was zum Teufel …
Noch während sie fassungslos auf ihre leeren Hände starrte, hörte sie den Schrei. Sie fuhr zusammen.
Ellen!
Mit einem Ruck wandte sie sich wieder dem Sockel zu. Der Körper ihrer Freundin bäumte sich auf. Larrio beugte sich zu ihr hinab, doch im selben Moment barsten die Fesseln und Ellens rechter Arm schnellte nach oben. Ihre Faust traf das Gesicht der jungen Frau so hart, dass diese zu Boden geworfen wurde.
»Larrio!«, rief Donovan.
Panisch sah er auf die regungslos liegende Frau. Bonnie hingegen hatte nur Augen für die Gestalt, die sich langsam vom Steinsockel aufrichtete. Sie konnte nicht glauben, was sie vor sich sah.
»Ellen?«, wisperte Bonnie erstickt.
Würde sie nicht Ellens Kleidung tragen, wäre es Bonnie niemals in den Sinn gekommen, dass es sich um ihre Freundin handeln könnte. Die Haut war faltig und unnatürlich bleich; klauenartige Hände ragten aus den Jackenärmeln hervor. Ellens sonst so kraftvolles, blondes Haar hing in ausgebleichten Strähnen herab.
»Ellen?«, wiederholte Bonnie zaghaft. »Ellen, ist alles-«
Ruckartig wandte sich die Gestalt ihr zu. Erschrocken wich Bonnie zurück. Das Gesicht, das ihr entgegen blickte, war eine Abscheulichkeit. Blutunterlaufene, rotglühende Augen funkelten sie an.
Weg hier!, schrie ihre innere Stimme, doch Bonnie fühlte sich unfähig, den Blick von der Kreatur abzuwenden.
»Ellen!«, schrie Bonnie verzweifelt, »was ist mit dir pa-«
Urplötzlich setzte sich die Kreatur in Bewegung und rannte auf sie zu.
»Nein!«, stieß Bonnie hervor, als das Biest sprang und sie zu Boden riss. Der Leib des grausigen Wesens presste sich gegen den ihren. Die unmenschlichen Augen funkelten gierig. Fauliger Atem schlug Bonnie entgegen, als die Bestie ihre scharfen Zähne entblößte.
Bonnie schrie.
Mit einem aufheulenden Laut ließ die Bestie von ihr ab und zuckte zurück. Knurrend kauerte das Wesen vor ihr und blickte sie hasserfüllt an. Dann setzte es wieder zum Sprung an. Ein erneuter Schrei entwich Bonnies Kehle, ohne dass sie ihren Stimmbändern einen Befehl dazu gegeben hatte. Abermals wich das Biest heulend zurück.
Was …
Bonnie verstand nicht, was mit ihr passierte. Ein schrilles, durchgängiges Heulen bahnte sich den Weg aus ihrem Rachen, bis ihre Stimmbänder schmerzten. Sie versuchte dagegen anzukämpfen, doch es drang weiter aus ihr heraus.
Das Ellen-Biest vor ihr heulte auf, seine Fratze schmerzverzerrt. Es wand sich in wilden Bewegungen, warf sich die Klauen auf die Ohren, doch schien dem Gekreische nicht entrinnen zu können.
Bonnie schrie weiter.
Aufhören!
Sie wollte das schrille Geheul unterdrücken, versuchte die Lippen aufeinander zu pressen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Unaufhaltsam bahnten sich die gellenden Laute aus ihr heraus. Die Kreatur zuckte noch einige Male, ehe sie erschlaffte und sich nicht mehr regte. Bonnies Schrei hielt noch einige Augenblicke an, bevor er langsam verebbte.
Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr Herz pochte wild, Schweiß rann ihr von der Stirn. Schnappend sog sie Luft ein und spürte diese schmerzhaft schneidend in ihrem geschundenen Rachen. Es dauerte einige Sekunden, bis Bonnie registrierte, dass sie wieder die Kontrolle über ihren Körper hatte. Sie versuchte mit aller Kraft, die Atemstöße zu verlangsamen. Mühsam richtete sie sich auf, während sie ungläubig auf das regungslose Wesen vor sich starrte. Ihr Blick wanderte weiter und sie schrak zurück. Donovan und Larrio beobachteten sie, Fassungslosigkeit lag in den Gesichtern der beiden unheimlichen Fremden. Sekunden des Schweigens vergingen. Lediglich Bonnies keuchendes Atmen füllte die Stille.
Hau ab!, meldete sich ihre innere Stimme plötzlich panisch.
Bonnie nickte schwach. Doch kaum hatte sie den ersten Schritt gemacht, begann sich die Welt um sie zu drehen. Sterne explodierten vor ihren Augen. Mühsam hielt sie sich auf den Beinen und brachte torkelnd einige Meter hinter sich.
Was ist los mit mir?
»Bonnie, warte!«, rief Donovan hinter ihr.
Dann knickte sie ein und fiel zu Boden. Sie hörte dumpf, wie sich Schritte näherten.
Sie wollte sich wieder aufrichten, doch ihr fehlte jegliche Kraft. Das drückende Pochen in ihrem Kopf wurde stärker, bleierne Schwere legte sich auf ihre Lider.
»Was war das eben?«, erklang die Stimme von Larrio verwundert.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, kam Donovans Antwort.
»Was … ist sie?«, hörte sie Larrio gedämpft fragen.
Dann hüllte sie die Dunkelheit ein.