Читать книгу Dunkle Rituale - Christoph Grimm - Страница 5
ОглавлениеAls ich an diesem Morgen meine Augen öffnete, war das erste, was ich wahrnahm, der Geruch nach geröstetem Kaffee. Langsam drehte ich mich auf den Rücken und starrte an die weiße Zimmerdecke. Es war schon spät, denn die Sonne strahlte mit so einer Kraft in den Raum, dass ich die Augen direkt wieder zukniff. Ein dumpfes Poltern drang durch die dünnen Wände, ehe meine Zimmertür abrupt aufgerissen wurde.
»Ximena! Aufsteeeheeen!«, schrie Nayeli, meine jüngere Schwester.
»Kannst du aufhören, hier so herumzubrüllen?«
Etwas unbeholfen ließ ich mich aus dem Bett gleiten und suchte nach meinen Hausschuhen, die ich eigentlich am Vorabend irgendwo vor dem Bett ausgezogen hatte.
»Du siehst echt zerknautscht aus, Xi, dabei ist heute doch dein großer Tag.«
Nayeli beobachtete mich bei jedem meiner unbeholfenen Schritte, während ich immer noch meine Pantoffeln suchte.
»Ja ja, und du bist wie immer das blühende Leben. Weißt du, wo ich meine Schuhe gestern ausgezogen habe?«
Sie zuckte nur mit ihren Schultern. Ich kniete mich vor das Bett, konnte sie aber auch darunter nicht entdecken.
»Was gibt’s denn heute zum Frühstück?«, fragte ich stattdessen. Ich schlurfte zu meinem winzigen Kleiderschrank, der direkt hinter der Zimmertür stand.
»Dir ist schon klar, was heute für ein Tag ist, oder? Du kannst nicht einfach eine Jeans anziehen und dein ekelhaft gesundes Biomüsli in dich reinschaufeln. Heute ist der Día de los Muertos – der Tag der Toten.«
Ich schniefte verächtlich. Als ob ich das nicht selbst nur zu gut wusste! Schweigend drehte ich ihr den Rücken zu und wühlte in meinem Schrank herum.
Das ganze Land freute sich auf den heutigen Tag. Auch die Bewohner unserer Insel Cozumel fieberten auf einen der größten Feiertage des Landes hin. Aber in unserem Dorf hatte der Día de los Muertos noch eine ganz andere Bedeutung.
»Tante Rosita hat dir dein Kleid über das Geländer im Flur gehangen. Aber du sollst es erst zur Zeremonie tragen, hat sie gesagt.«
Kurzerhand zog ich ein dunkelgrünes, knielanges Kleid aus dem Schrank und schob meine Schwester aus dem Zimmer.
»Ich warte unten auf dich«, rief sie mir durch die geschlossene Tür zu, während ich mich umzog.
Eine halbe Stunde und eine flüchtige Katzenwäsche später saß ich gemeinsam mit meiner Familie auf unserer riesigen Veranda. Tante Rosita hatte den großen, eckigen Tisch mit prächtigen Blumen geschmückt und es roch nach warmem Gebäck und starkem Kaffee. Sie war gerade dabei, eine weitere Ladung des duftenden Brotes auf den Tisch zu stellen, als sie mich begrüßte.
»Guten Morgen, Ximena. Du hast aber lange geschlafen. Bist du denn gar nicht aufgeregt wegen heute?«
Ich griff nach der Kaffeekanne, die direkt vor Onkel Pepe stand, und goss mir etwas ein. Das heiße Getränk dampfte und obwohl es jetzt schon ziemlich warm war, genoss ich das Gefühl, wie der heiße Kaffee meinen Hals hinunterrann.
»Nein, noch nicht«, antwortete ich nur.
Onkel Pepe warf Tante Rosita einen kurzen Blick zu, ehe auch er sich etwas von dem Kaffee eingoss.
Nayeli lud sich ihren Teller voll, während ich meinen Blick durch die Straße schweifen ließ und die prächtig geschmückten Häuser unserer Nachbarn betrachtete.
»Seid ihr euch denn wirklich sicher, dass Ximena diejenige ist, die dieses Jahr die Zeremonie vollführen soll? Sie hat doch im Grunde gar keine Lust auf all das«, nuschelte sie mit vollem Mund.
»Nayeli, es reicht!« Die tiefe Stimme von Onkel Pepe polterte völlig unvorbereitet über die Veranda und sofort verstummte das Plappern meiner Schwester. Ihre hellen blauen Augen wirkten verschreckt und zuckten nervös zwischen mir und meinem Onkel hin und her.
»Wir diskutieren nicht schon wieder darüber. Du weißt genau, dass die Göttinnen selbst entscheiden, wer der Zeremonie würdig ist. Sie haben deine Schwester erwählt, also freu dich gefälligst für sie. Mach ihr den heutigen Tag so angenehm wie möglich, genießt die Parade, aber wir erwarten euch beide pünktlich zur Zeremonie am Cenote.«
So verschreckt, wie Nayeli auf ihrem Stuhl kauerte, erinnerte sie mich an einen geprügelten Hund, der sich in der hintersten Ecke einer dreckigen Gasse versteckte. Für einen Moment erwartete ich, dass sie unserem Onkel widersprach. Nicht, weil sie der Typ Mensch war, der Widerworte gab, eher wegen des genauen Gegenteils. Nayeli war immer die Strebsamere von uns beiden. Diejenige, die man auswählte, um wichtige Botschaften zu überbringen, oder der man seine kleinen Kinder anvertraute. Mich hingegen betrachteten die meisten in unserem Dorf mit Argwohn. Wie einen ruhelosen Geist, den niemand so wirklich zu packen vermochte. Eine der Alten sagte immer, ich hätte dieses Chaos im Blick und irgendwie hatte sie damit nicht ganz Unrecht. Meine Schwester und mich trennten exakt dreizehn Minuten. Nicht mehr und nicht weniger. Dreizehn Minuten, die beinahe unser gesamtes Leben bestimmten. Denn anders als für die meisten unserer Landsleute war der Tag der Toten hier in unserem kleinen Dorf etwas Besonderes.
»Iss etwas, Ximena«, holte mich die Stimme meiner Tante wieder zurück an den Esstisch. »Bevor ihr zu der Parade geht, stattet ihr aber noch dem Altar einen Besuch ab und ehrt eure Vorfahren. Heute ist ein wichtiger Tag für die Familie und eure Ahnen wollen euch sicher noch einmal sehen.«
Tante Rosita biss in eines der Gebäckstücke und schmatzte zufrieden. Ihr Blick ruhte noch immer auf mir. Zögerlich griff ich nach einer der Conchas. Das süßliche Brot war noch warm, als ich den ersten Bissen kostete.
»Das schmeckt wirklich köstlich«, versuchte ich die angespannte Stimmung am Tisch etwas zu beruhigen.
Nachdem ich eines der kleinen Brote aufgegessen hatte, liefen Nayeli und ich gemeinsam zu dem kleinen Anbau, in dem der Ofrenda unserer Ahnen stand. Vor der Tür zum Gebäude hatte jemand bereits einen Korb mit vielen kleinen Blütenblättern abgestellt. Ich griff hinein, ehe ich die Tür öffnete.
Auch hier war alles mit prächtigen bunten Blumen geschmückt, die in den verschiedensten Gelb- und Orangetönen strahlten und einen süßlichen Duft in dem kleinen Raum versprühten. Vorsichtig ließ ich die Ringelblüten auf den Boden rieseln, bis ich am Altar angelangte. Auf dem alten Steinboden lagen bereits einige verstreute Blütenblätter herum, die leise unter meinen Schuhen raschelten. Angeblich sollten die Toten die Farben Gelb und Orange aus dem Jenseits besonders gut erkennen können.
Der Ofrenda unserer Familie war mit vielen alten Fotos unserer verstorbenen Vorfahren übersät und vor jedem der Bilder stand bereits etwas, das sie zu ihren Lebzeiten geliebt hatten.
Vorsichtig lief ich zu dem Bild meiner Eltern. Danao und Tila Hernández. Vor dem Bild meiner Mutter lag eine einzelne Orchideenblüte. Ihr sattes, kräftiges Blau setzte sich über all die anderen bunten Farben hinweg und hielt mich für einen Moment gefangen.
»Ob es ihnen gut geht?«
Die Frage galt weniger meiner Schwester als vielmehr mir selbst. Trotzdem kam Nayeli langsam auf mich zu und legte mir ihre Hand auf die Schulter.
»Natürlich geht es ihnen gut.«
Sie holte etwas aus ihrer Hosentasche und schob es mir in die Hand. Als ich es näher betrachtete, stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Es waren zwei blanke, glänzende Kieselsteine.
»Du hast sie noch?«, fragte ich überrascht.
Es war schon unzählige Jahre her, dass ich die beiden Steine in einem seichten Flusslauf entdeckt hatte. Beim Fangen spielen war ich auf den nassen Steinen im Wasser ausgerutscht und hingefallen. Beide Knie hatten fürchterlich geblutet, doch dann waren mir die beiden Kieselsteine aufgefallen und ich fischte sie direkt aus dem klaren Wasser.. Da Nayeli wegen meiner blutenden Knie beinahe schlimmer geweint hatte als ich, schenkte ich ihr die schimmernden Steine– als Glücksbringer.
»Ich dachte mir, wenn jemand heute Glück gebrauchen kann, dann ja wohl du.«
Meine Hände schlossen sich um die glatten Kiesel und ich genoss den flüchtigen Moment der Vergangenheit, ehe er sich wieder in Luft auflöste.
»Sie fehlen mir«, flüsterte ich.
»Mir auch. Aber du wirst sie heute Abend sicherlich sehr stolz machen.«
Vorsichtig strich ich über das verblichene Foto. Tante Rosita hatte uns immer erzählt, dass unsere Familie am Días Los Muertos nur zu uns zurückkommen könne, wenn wir ihre Fotos auch gut sichtbar auf dem Ofrenda platzierten. Nayeli hatte einmal aus Versehen das Foto von Onkel Miguel umgestoßen. Daraufhin hatte Tante Rosita sie stundenlang angeschrien und zu den Göttern gebetet, dass sie Onkel Miguel trotzdem nachhause gehen lassen würden. Seit diesem Vorfall achtete meine kleine Schwester penibel darauf, dem Altar nicht mehr zu nahe zu kommen.
»Komm’, wir müssen uns langsam für die Parade fertig machen. Das Schminken wird Ewigkeiten dauern und Mateo wartet sicherlich nicht ewig auf dich.«
*
Zwei Stunden später waren Nayeli und ich beinahe fertig, um zum Umzug aufzubrechen. Die wohl größte Parade der Insel fand jedes Jahr in der Hauptstadt San Miguel de Cozumel statt. Dagegen war die in El Cedral eher übersichtlich. Dennoch umgab sie etwas Besonderes, denn am Ende der Parade feierten die Bewohner der umliegenden Dörfer in San Gervasio, den Maya-Ruinen von Cozumel, bevor sie sich zu den Friedhöfen aufmachten, um ihre Verstorbenen willkommen zu heißen. Unser Volk glaubte nämlich fest daran, dass wir in dieser Nacht Kontakt zu den Toten aufnehmen konnten.
»Halt still, Xi. Wenn du so wackelst, dann kann ich dich nicht richtig schminken.«
Am Tag der Toten verwandelten sich die lebenden Menschen in wandelnde Tote. Prächtige Kostüme, bunte Blumen und jede Menge Tanz und Musik erwarteten die Besucher der Festlichkeiten. Die Menschen feierten die Rückkehr ihrer geliebten Verstorbenen, indem sie sangen, tanzten und ihnen den Weg mit den bunten Blumen zurück ins Diesseits ermöglichten.
»So, ich glaube, ich bin fertig.«
Als Nayeli die Sicht auf den Spiegel freigab, blieb mir für einen kurzen Moment die Spucke weg.
Sie hatte meine hellbraunen Augen mit großen, schwarzen Kreisen umrundet, sodass sie nun wie Bernstein funkelten. Meine Stirn zierte ein feingliedriges Spinnennetz, das mit durchsichtigen Glitzersteinen versehen war. Unter meinem linken Auge klebte ein kleiner Tropfen, der aussah wie eine Träne.
»Wow, das sieht wunderschön aus, Nayeli.«
Meine Schwester seufzte zufrieden.
»Natürlich siehst du wunderschön aus. Immerhin ist das heute auch dein besonderer Tag.«
Vorsichtig stand ich auf und beugte mich näher an den Spiegel heran. Staunend betrachtete ich die vielen kleinen Details. Kein Wunder, dass diese Prozedur so lange gedauert hatte: Meine Schwester hatte aus meinem Gesicht ein wahres Kunstwerk gezaubert.
»Wenn du dich nochmal hinsetzt, kann ich dir schnell die Blumen ins Haar flechten«, ertönte ihre Stimme hinter meinem Rücken.
Schweigend ließ ich mich zurück auf den Stuhl gleiten und beobachtete Nayeli im Spiegel dabei, wie sie mit flinken Fingern begann, mein langes, dunkles Haar kunstvoll zusammenzubinden.
Zwanzig Minuten später stand ich fertig geschminkt und frisiert vor meinem Kleiderschrank. Als ich die Schranktür öffnete, betrat Tante Rosita den Raum.
»Du siehst wundervoll aus. So wirst du deinen Ahnen alle Ehre machen.«
Ein flüchtiges Lächeln schlich sich über meine Lippen. Doch ehe ich etwas erwidern konnte, verschwand sie wieder.
Während ich mir das nachtschwarze Kleid anzog und vorsichtig in die passenden Schuhe schlüpfte, fragte ich mich, was Rosita mit dieser Ansprache wohl bezwecken wollte. Irgendetwas an ihrem Tonfall war eigenartig gewesen.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, ehe ich zurück zu Nayeli ging, die bereits eifrig ihr eigenes Make-Up auftrug..
*
»Xi, da bist du ja endlich. Wir müssen reden.«
Ein großgewachsener, athletisch gebauter Mann in einem schwarzen Anzug lehnte lässig an einem alten Baumstumpf. Sein Gesicht war von weißer Farbe und dunklen Schatten durchzogen, die aus ihm ebenfalls einen lebenden Toten machten.
Nayeli berührte mich sanft an der Schulter, ehe sie mit ihrem feuerroten Kleid in der bunten Menge verschwand. Dieses Gespräch würde ich wohl oder übel allein hinter mich bringen müssen.
»Das ist ja mal wieder eine Begrüßung für die Götter«, entgegnete ich lächelnd. Ich schritt auf ihn zu und blieb unter dem großen Baum stehen, an den er sich lehnte.
»Ximena, das alles ist doch kein Spiel. Spätestens jetzt sollte dir doch bewusst sein, was du heute Abend tun wirst.«
Seine hellgrünen Augen leuchteten so intensiv, dass ich meinen Blick von ihm abwenden musste.
»Mateo, kannst du daraus bitte nicht so ein Drama machen? Es ist doch nur eine harmlose Stammeszeremonie unserer Vorfahren.«
Er griff nach meiner Hand und strich behutsam über meinen Handrücken. Seine Haut war rau von der Arbeit in der Werkstatt. Dennoch beruhigte mich die Wärme, die von ihr ausging und meinen Körper durchflutete. Er ging einen Schritt auf mich zu und neigte leicht den Kopf.
»Wenn du wirklich glaubst, dass das alles ist, was heute Abend geschehen wird, dann bist du nicht das kluge Mädchen, für das ich dich immer gehalten habe.«
Sein Griff verstärkte sich, ehe er mich mit sich zog. Wir liefen weg von der Parade, weg von den vielen Menschen, die wir kannten. Mateo führte mich in die Wildnis und ließ meine Hand erst wieder los, als das Tosen der Menschen und das Dröhnen der Trommeln nicht mehr war als eine vage Einbildung.
»Was soll das denn? Die Parade fängt doch gleich an!«
Ich starrte ihn an und hoffte in seinem Blick irgendetwas lesen zu können. Aber durch unsere geschminkten Gesichter drang keinerlei Mimik. Wir wirkten lediglich wie Tote, unfähig zu fühlen, kalt und emotionslos.
»Setz dich. Du wirst nicht eher zur Parade gehen, bis ich sicher sein kann, dass du wirklich weißt, worauf du dich da einlassen willst.«
Irritiert sah ich mich um. Aber ich kannte Mateo schon beinahe mein ganzes Leben. Wenn er in dieser Zeit eines bewiesen hatte, dann, dass er seine Androhungen immer wahr machte. Also entschied ich mich auf einem der größeren, flacheren Felsbrocken Platz zu nehmen, die am Waldrand herumlagen.
»Zufrieden?«, fragte ich mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme.
Mateo verschränkte seine Arme vor der Brust und ging direkt vor mir in die Hocke.
»Du kennst doch sicherlich die Überlieferungen von Ix Chel, oder?«
Ich nickte. Ix Chel war die Mondgöttin der Maya und die Schutzherrin des Wassers. Sie verkörperte Fruchtbarkeit und die Einheit mit der Erde. Bla bla bla. Jedes Kind kannte die wichtigsten Gottheiten unserer Kultur. Was wollte er mir damit sagen?
»Bist du sicher, dass du die ganze Saga kennst?«
Mateo nahm mein Gesicht in seine Hände und ich schloss überrascht die Augen. Ihm so nah zu sein fühlte sich ungewohnt an.
»Was willst du damit sagen?«, flüsterte ich. Plötzlich fühlte ich mich unwissend, beinahe dumm. Wovon zum Teufel sprach er und was noch viel wichtiger war – was verschwieg er mir? Unsere Bräuche und Zeremonien hatte unser Volk selbst durch die vielen Jahrhunderte hinweg nie völlig aufgegeben. Wir waren Maya, wir blieben Maya. Egal, was passierte. Die Umstände veränderten sich, aber der Glaube blieb. Ich hatte dieselben Legenden gehört wie er. Zumindest hatte ich das immer geglaubt.
»Dass dir deine Familie vielleicht nicht alles gesagt hat.«
Er nahm seine Hände von meinem Gesicht und sah mir in die Augen. Mateo war mein bester Freund, mein Bruder im Geiste, mein Vertrauter. Es gab keinen Grund für ihn mich zu belügen.
»Und was haben sie mir verschwiegen?«, hörte ich mich selbst fragen. Aber meine Stimme klang fremd und abgehackt.
»Dass du heute Nacht geopfert werden sollst, Ximena.«
Mateos Stimme rauschte in meinem Kopf wie ein Fluss. Seine Worte fegten über mich hinweg, schlugen wie wilde Wellen gegen meine Schädeldecke, doch alles was ich hörte, war ein lautes Rauschen.
»Das …«, begann ich einen Satz, ohne zu wissen wie ich ihn beenden sollte. »… kann nicht sein«, schob ich nach einer Pause nach.
»Deine Familie ist eine der ältesten auf der Insel. Deine Vorfahren waren mächtige Priester und tapfere Krieger, aber es ändert nichts an deiner Bestimmung. Selbst wenn deine Eltern noch hier wären, würden sie dich nicht vor diesem Schicksal bewahren können. Deshalb versuche ich dich zu retten.«
Wut stieg in mir auf und drohte, mich wie eine Welle mit sich zu reißen.
»Wage es ja nicht, meine Eltern in diese lächerliche Geschichte mit hineinzuziehen. Ich habe keine Ahnung, was dein Problem ist, aber falls du neidisch bist, dass ich für die Zeremonie ausgewählt wurde und nicht du, dann«
Ehe ich den Satz beenden konnte, fiel er mir ins Wort: »Dann was? Glaubst du denn wirklich, dass du heute nur ein paar lächerliche Kerzen entzündest und ein Gebet mit den Ältesten sprichst? Warst du nicht auch bei der letzten Opferung dabei, so wie ich? Erinnerst du dich nicht daran, was passiert ist? Irgendetwas musst du doch noch wissen!!«
Seine tiefe Stimme vibrierte und auf seiner geschminkten Stirn konnte ich kleine Schweißperlen erkennen. Sie wirkten wie die Glitzersteine, die Nayeli mir ins Gesicht geklebt hatte.
»Nein, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du überhaupt sprichst. «
Angestrengt durchforstete ich mein Gedächtnis, aber die letzte Zeremonie war vollkommen harmlos gewesen. Wovon redete Mateo da bloß?
»2005 wütete der Hurrikan Wilma über Cozumel. Erinnerst du dich wenigstens daran?«
Wie könnte ich jemals den Sturm vergessen, der meine Eltern getötet hatte!
»Ix Chel war wütend darüber, dass wir ihr so lange kein Opfer mehr gebracht hatten. Also entschied sie sich ihre Schwester Chac Chel zu entfesseln, damit diese unsere Insel heimsuchte. Als Strafe für die Menschen.«
Mateo räusperte sich kurz, ehe er weitersprach.
»Unsere Ahnen gingen vor Tausenden von Jahren einen Pakt mit Ix Chel ein. Einen Pakt, der besagte, dass wir ihr Menschenopfer darbieten, damit sie unsere schöne Insel vor der blinden Zerstörungswut ihrer Schwester Chac Chel beschützt. Doch in dem Jahr, als Wilma kam, gab es kein Opfer, Xi. Deine Eltern hielten diese Opferungen für grausam und falsch. Als einflussreichste und mächtigste Mayafamilie stimmten sie die Bewohner um, dass es nicht der wahre Wille der Ix Chel sein konnte, Menschenleben zu opfern. Exakt drei Monate später suchte unsere Insel einer der verheerendsten Hurrikans der Geschichte heim. Hältst du das für einen Zufall?«
Jedes Wort, das seinen Mund verließ, war wie ein in Gift getränkter Pfeil, der meinen Körper traf und ihn langsam aber sicher betäubte. Die Worte fraßen sich ihren schädlichen Weg durch mein Bewusstsein und machten vor nichts Halt. Sein Körper bebte und in ihm tobte ein Sturm, größer und machtvoller als jeder Hurrikan. Nervös rieb ich den Saum meines Kleides zwischen den Fingern.
Das konnte er unmöglich ernst meinen.
»Wieso erzählst du mir all das ausgerechnet jetzt? Wieso heute? Du hattest unzählige Jahre Zeit. Selbst wenn diese absurde Geschichte tatsächlich wahr ist, dann solltest du doch umso mehr daran interessiert sein, dass ich mich opfere, um unsere Insel vor einer weiteren Katastrophe zu schützen, oder nicht?«
Mateo ließ sich auf den blätterbedeckten Waldboden fallen und vergrub den Kopf zwischen seinen Knien. Sein Körper bebte noch immer, doch ich wagte es nicht ihn zu berühren.
»Weil ich es nicht ertragen könnte, dich zu verlieren. Du hast ein Recht darauf zu wissen, was für ein grausames Schicksal dich erwartet. Deine Familie lockt dich mit falschen Versprechungen zum Cenote. Du solltest selbst entscheiden können, ob du in den Abgrund springst oder nicht.«
Vorsichtig beugte ich mich zu ihm herunter und strich sanft über seine Schultern. Der Stoff seines dunklen Anzugs fühlte sich weich unter meinen Fingern an. Ein leichter Windzug wehte mir eine lose Haarsträhne ins Gesicht und mit einer kurzen Handbewegung strich ich sie hinter mein Ohr.
Als Mateo seinen Kopf wieder hob, sah er mir direkt in die Augen.
»Woher weißt du das alles überhaupt? Und woher willst du wissen, dass es wirklich so ist? Naturkatastrophen geschehen doch beinahe jeden Tag. Der Klimawandel macht eben auch vor Mexico nicht halt«, sprach ich leise.
»Im Gegensatz zu deiner Familie hat meine mir die Geschichte unserer Insel nicht vorenthalten. Der Rat der Schwalben hat dich nicht ohne Grund für das diesjährige Ritual ausgewählt. Sie sind der Meinung, dass nur Hernández‘ Blut die Schuld begleichen kann. Du sollst bluten, für all die Menschen, die wegen der Fehlentscheidung deiner Eltern sterben mussten. Die Göttinnen wollen Vergeltung und du sollst sie ihnen verschaffen.«
Sofort spürte ich die Leere, die sich in meinem Körper ausbreitete. Dieses flaue, ungute Gefühl in der Magengegend, das ich mit aller Macht versuchte, zu bekämpfen. Der Tod meiner Eltern war für mich noch immer etwas, über dass ich nicht sprechen konnte. Nicht sprechen wollte. Ich versuchte die Erinnerung an sie krampfhaft zu bewahren, aber ich hatte mir bereits vor Jahren eingestehen müssen, dass ich mich nur noch an sie entsinnen konnte, weil mir andere von ihnen erzählt hatten. Begegnungen und Schilderungen anderer waren es, die das Bild meiner Eltern in meinem Inneren lebendig hielten. Dass Mateo mir jetzt erzählen wollte, das verheerende Unglück vor über vierzehn Jahren sei ihr Werk gewesen, riss mir förmlich den Boden unter den Füßen weg.
»Hörst du überhaupt, was du da sagst?«, schrie ich Mateo an. »Meine Eltern sind bei der Katastrophe selbst ums Leben gekommen. Ihr Blut wurde bereits vergossen. Meine Tante und mein Onkel würden mir so etwas niemals antun! Also wenn du nur hier bist, um mir den Nachmittag zu versauen, dann verschwinde einfach.«
Ehe Mateo etwas antworten konnte, machte ich kehrt und ging. Ich konnte seinen Anblick nicht länger ertragen. Auf dem Weg zurück zur Parade hielt ich Ausschau nach Nayeli. Sollte ich ihr von Mateos eigenartiger Theorie erzählen? Ich wusste, dass sie selbst nur zu gerne Teil der Zeremonie gewesen wäre und ein kleiner Teil von mir fürchtete, dass sie glauben könnte, ich hätte mir diese absurde Geschichte nur ausgedacht, um sie etwas zu trösten.
Um mich herum tanzten und feierten währenddessen hunderte von Menschen. Die dumpfen Trommeln, die die Parade begleiteten, versetzten mich wie in eine Art Trance. Ich wollte nicht länger über all das nachdenken. Mich nicht fragen, ob Mateo recht hatte oder nicht. Mir keine Sorgen darüber machen, ob ich den nächsten Morgen noch erleben würde oder nicht.
Die Parade zog langsam zum Friedhof unseres Dorfes und irgendwie schaffte ich es, diese absurde Geschichte auszublenden. All die Kostüme, die Musik und die vielen schillernden Farben um mich herum betäubten meine wirren Gedanken. Ich war wie in einem Rausch, der mich von der Realität abschottete.
Doch als die Sonne langsam unterging und wir den Friedhof erreichten, wurde mir bewusst, dass es bald Zeit wurde, zum Cenote aufzubrechen.
Der Takt der Trommeln wurde fordernder und einige Gitarrenspieler stiegen mit ein. Gemeinsam stimmten sie eine wilde Melodie an und ich beobachtete ein junges Pärchen, wie es miteinander tanzte. Ihre Körper wirbelten umher wie zwei Flammen eines lodernden Feuers. Die Frau lachte und schlang ihre Arme enger um ihren Tanzpartner.
»Xi! Hey, da bist du ja. Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich dachte wir sehen uns die Parade gemeinsam an.«
Nayelis enttäuschte Stimme mischte sich unter die Trommeln, während sie händefuchtelnd auf mich zulief.
»Wo ist Mateo?«, fragte sie mich aufgebracht, als sie sich ihren Weg durch die tanzenden Menschen gebahnt hatte. Sie packte mich am Arm und zog mich zur Seite. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Was hat denn so lange gedauert?«
Betreten sah ich zu Boden. Ich wollte nicht darüber reden, was passiert war und versuchte, mir meine Sorgen nicht anmerken zu lassen.
»Tut mir leid. Ich habe dich zwischen all den Menschen einfach nicht gefunden und dann bin ich einfach allein losgelaufen.«
Nayeli musterte mich mit diesem ganz bestimmten Blick. Meine Schwester wusste genau, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Ihre linke Augenbraue zuckte kurz, ehe sie die Arme vor der Brust verschränkte.
»Und Mateo hat dich einfach so allein loslaufen lassen? Habt ihr euch vorhin gestritten?«, hakte sie neugierig nach.
Für einen Moment überlegte ich, ihr die Wahrheit zu sagen. Wirklich. Sie kitzelte auf meiner Zunge, versuchte sich ihren Weg hinaus zu bahnen, doch ich konnte nicht. Meine Lippen blieben versiegelt.
»Na gut, wenn du nicht drüber reden möchtest, akzeptiere ich das. Ich möchte noch kurz zu Raphaela und Gabriel, um mich zu verabschieden. Wartest du hier auf mich, damit wir gemeinsam zum Cenote aufbrechen können?«
Ich nickte und Nayeli schenkte mir ein kurzes Lächeln, ehe sie wieder in der Menge verschwand.
Aber ich wartete nicht auf meine Schwester.
*
Der Friedhof lag nicht weit von den Ruinen entfernt und die Musik drang durch die Wipfel bis an seine hinterste Ecke. Die hochgewachsenen Bäume, die den Friedhof umgaben, waren mit bunt leuchtenden Lichterketten geschmückt worden. Sie wiesen mir den Weg zu den Gräbern. Meine Füße trugen mich wie von selbst den kleinen, geschotterten Weg entlang.
Anders als auf der Parade feierten die Menschen hier nicht. Sie standen dicht beisammen, knieten vor den Gräbern ihrer Liebsten und zündeten Kerzen an. Die Menschen hier waren in Gedanken bei ihren Verstorbenen, vereint mit den Menschen, die ihnen entrissen worden waren.
Vorsichtig schob ich mich durch die engen Gassen, darauf bedacht, niemanden in diesem intimen Moment zu stören. Die Wege zwischen den Gräbern waren mit brennenden Kerzen gesäumt und auf dem sandigen Boden erstreckte sich ein buntes Meer aus Blumen. Fast an jedem Grab standen Vasen mit frischen roten, gelben oder orangefarbenen Ringelblüten und ein süßlicher Duft lag in der lauern Nachtluft.
In diesem Augenblick war ich unfassbar froh, noch immer geschminkt zu sein. Viele dieser Menschen wussten von der heutigen Zeremonie und nicht wenigen von ihnen würde ich später ebenfalls am Cenote begegnen. Doch jetzt wollte ich einfach allein sein.
Ich schritt weiter durch die Gräberreihen und sog diese ganz besondere Atmosphäre in mich auf. Die Menschen lagen sich in den Armen, saßen dicht an die Gräber gedrängt beisammen und beteten. Sie erzählten den Verstorbenen alte Geschichten und hielten die Erinnerung an ihre Liebsten so lebendig wie nur irgend möglich.
Viele der Gräber waren Wilma geschuldet. Viele dieser Familien saßen nur hier beisammen, weil ihnen der Hurrikan alles genommen hatte.
Als ich schließlich die Ruhestätte meiner Eltern erreichte, entdeckte ich Mateo. Er saß etwas abseits vom Grab auf einer kleinen Mauer und hielt offensichtlich nach mir Ausschau. Kurz überlegte ich, wieder zu gehen. Doch ich wollte jetzt nirgendwo anders sein als an diesem Ort. Also ließ ich mich auf den weichen Boden vor dem Grab nieder und beobachtete die flackernden Kerzen.
»Es tut mir leid«, sagte Mateo plötzlich. Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Raunen, als er sich neben mich auf den Boden setzte. Seine wachsamen Augen musterten den Grabstein meiner Eltern. »Ich wollte dich nicht verletzten. Aber wenn du heute zum Cenote gehst, dann wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Und davor habe ich schreckliche Angst.«
Vorsichtig lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter und genoss die Wärme, die Mateos Körper abgab.
»Das hast du aber bereits. Du hattest kein Recht, all das so lange für dich zu behalten, wenn du wirklich die Wahrheit sagst.«
»Ich weiß.«
Es verging einige Zeit, bis wir erneut ein Wort sprachen, doch diese Stille, die sich wie eine Mauer zwischen uns auftürmte, hatte etwas Tröstliches.
»Wieso eigentlich mein Blut und nicht das von Nayeli?«, fragte ich nach einer Weile.
Die Frage klang absurd, aber wenn es der Göttin nur um das Blut unserer Familie ging, dann war ihres doch genauso gut wie meins.
Mateos Brust hob und senkte sich etwas unruhig, ehe er zu seiner Antwort ansetzte.
»Xi, ich will dir nicht zu nahetreten, aber ein Schwein, das freiwillig die Schlachtbank betritt, ist kein halb so gutes Opfer, wie eines, dass sich wehren wird, aber schlussendlich doch verliert. Ix Chel wird vielleicht in den Überlieferungen als glückbringende Fruchtbarkeitsgöttin beschrieben, aber sie war, genau wie ihre Schwester Chak Chel, für ihre Grausamkeit bekannt. Deine Schwester lässt keine Gelegenheit aus, um allen die es wissen wollen zu berichten, wie sehr sie an den Festlichkeiten teilnehmen würde. Du hingegen bist bei deiner Ernennung von dem Priester aufgesprungen und hast wild herumgeflucht und wolltest, dass er jemand anderen wählt. Du und Nayeli habt vermutlich mehr mit den beiden Göttinnen gemein als ihr zugeben wollt. Ihr könnt nicht mit, aber auch nicht ohne einander. Genau das ist es, was Ix Chel dazu bewogen hat, dich zu wählen. Sie wollte Neid und Missgunst zwischen euch säen und das ist ihr ja auch gelungen.«
Langsam hob ich meinen Kopf von Mateos Schulter und blickte in sein ernstes Gesicht. »Und was soll ich deiner Meinung jetzt tun? Weglaufen? Cozumel verlassen, nur weil du mir diese Schauergeschichten erzählst? Es gibt doch nicht einen Beweis für all das.«
Mateo strich mir mit seiner Hand behutsam über meinen rechten Arm.
»Bisher hast du nie einen für meine Worte benötigt. Ich dachte, die Warnung eines Freundes bedürfe keines Beweises.«
Als ich mich erhob, stand mein Entschluss fest. Mateo hatte zwar recht mit dem was er über meine Erwählung gesagt hatte, aber ich würde mich meinem Schicksal nicht verwehren. Ich schuldete es meinen Eltern, mir selbst und meinem Volk.
»Ich werde trotzdem gehen.«
*
Anders als geplant ging ich nicht nach Hause, um mich umzuziehen, sondern machte mich direkt auf den Weg zur heiligen Quelle. Als wir noch Kinder gewesen waren, hatte Tante Rosita uns immer erzählt, dass die vielen Cenotes, die sich über die gesamte Insel verteilten, Eingänge in die Unterwelt seien.
Die tiefen, mit Wasser gefüllten Erdkrater sahen von oben betrachtet aus wie weit aufgerissene, tiefblaue Augen.
Augen, die einem direkt in die Seele blickten.
Augen, die mehr in einem sahen als man selbst.
Der Himmel über mir war mittlerweile gänzlich von der Nacht verschluckt worden und ein kalter Wind peitschte über meine Schultern. Ich beschleunigte meine Schritte und wenige Minuten später sah ich bereits die ersten brennenden Fackeln. Sicherlich hatten sich die Priester bereits am Cenote versammelt, ebenso wie die anderen Oberhäupter der ältesten Familien unseres Dorfes. Je weiter ich lief, desto kälter wurde mir. Ich war mir nicht sicher, ob es an dem auffrischenden Wind lag, oder an Mateos Worten, die noch immer an mir hafteten wie ein Kaugummi an der Schuhsohle.
Als ich mein Ziel beinahe erreicht hatte, ertönten dumpfe, schwere Trommelschläge. Der gleichmäßige Rhythmus und die tiefen Töne beruhigten mich irgendwie.
Kurze Zeit später sah ich die ersten wartenden Menschen. Sie trugen zum Teil ähnlich ausgefallene Kleider wie ich. Dunkle Rottöne vermischten sich mit sattem Schwarz und nicht wenige von ihnen hatten sich ebenfalls geschminkt. Doch unter den wartenden Menschen entdeckte ich auch bekannte Gesichter. Ihre Blicke ruhten auf mir, musterten mich argwöhnisch und einige von ihnen tuschelten hinter vorgehaltenen Händen. Doch davon ließ ich mich nicht stören, im Gegenteil. Es war mir egal, dass ich nicht das festliche Kleid trug, das für die Zeremonie vorgesehen worden war. Als mein Blick auf den von Tante Rosita und Onkel Pepe traf, versetzte es mir doch einen kleinen Stich. Die beiden musterten mich so, als seien wir nicht miteinander verwandt. Tante Rosita presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und Onkel Pepes Körperhaltung wirkte angespannt. Die beiden waren wütend und vermutlich schon jetzt enttäuscht von meiner Verspätung und meinem Auftreten vor dem Priester. Aber ich war hier.
Für sie. Für Nayeli. Und für unser Volk. Alles andere war mir egal.
Ich lief den schmalen Pfad weiter, bis ich zu der kleinen Erhöhung unmittelbar vor dem Cenote kam.
Links und rechts von dem Trampelpfad standen vier junge Mädchen. Die Zwei auf der linken Seite trugen blütenweiße, knielange Kleider, als Symbol für die Mondgöttin. Die auf der rechten Seite hingegen waren vollkommen in schwarz gehüllt. Sie sollten die Chaosgöttin verkörpern. Ihre Haare waren kunstvoll geflochten und ihr Blick starr nach vorn gerichtet.
Der Priester wartete bereits auf mich und breitete seine Arme zum Gruß aus, als er mich sah. Er wirkte ruhig und die Nervosität, die sich in mir zusammenbraute, flaute bei seinem Anblick ein wenig ab.
»Ximena, mein Kind. Du kommt spät«, sprach er mit tiefer Stimme. Der alte Mann wirkte im Gegensatz zu allen übrigen Anwesenden nicht enttäuscht oder wütend. Seinen Kopf schmückte eine ausgefallene, aus Obsidian gefertigte Maske, die das Abbild von Itzli, dem Ritualgott der Maya, darstellen sollte und sein mit Federn geschmücktes Gewand reichte bis auf den sandigen Boden.
Zögerlich schenkte ich dem Alten ein Lächeln. Er legte seine faltige Hand auf meine Schulter, ehe er in eine hölzerne Schatulle griff. Kurz darauf setzte er auch mir eine der rituellen Masken auf. Mit einer knappen Geste bedeutete mir der Alte, ihm zu folgen. Ich warf noch einen letzten Blick zu den wartenden Menschen, ehe ich mit ihm zum Rand des Cenotes schritt.
Ein kalter Windzug wehte uns entgegen und die Flammen der Fackeln zitterten aufgeregt hin und her.
»Stell dich hier herüber, Ximena«, wies mich der Priester an. Im Schein der Flammen wirkte die Maske, die sein Gesicht verbarg, befremdlich. Wie ein lebendig gewordener Schatten.
Schweigend befolgte ich seine Anweisung und bewegte mich an den Rand des Abgrunds. Direkt unter mir klaffte ein dunkles Loch wie das Maul eines hungrigen Seeungeheuers.
Der Priester griff nach einem alten Ledereinband und begann zu blättern.
»Ximena wir werden nun mit der Cxibalba beginnen. Bist du bereit?«
Ich nickte, doch ich fühlte mich ganz und gar nicht bereit. Mein aufgeregtes Herz hämmerte wie wild gegen meine Brust. Vorsichtig drehte ich mich um. Mein Blick wanderte durch die Reihen, doch ich konnte weder Nayeli noch Mateo entdecken.
Als ich mich wieder zum Priester drehte, murmelte dieser bereits seine unverständlichen Worte. Ein tiefer Singsang erklang, in einer Sprache, die angeblich nur die alten Mayagötter verstehen konnten. Der Priester rief mit seinen eigenartigen Beschwörungsformeln die Göttin Ix Chel an. Immer und immer wieder drangen dieselben Laute aus seinem Mund. Leises Trommeln begleitete seine Worte und trug seine Rufe in die dunkle Nacht hinaus. Die dumpfen Schläge schwollen an, wurden immer drängender und lauter. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag an den Rhythmus der Trommeln anpasste. Wir wurden eins und schlugen im selben Takt.
Als ich meine Augen wieder öffnete, verstummte der Ton. Der Priester griff erneut in die Holztruhe und holte ein Messer heraus. Ein leises Raunen ging durch die Reihen und ich schnappte nach Luft.
»Wir haben uns heute hier versammelt, um der Göttin des Mondes unseren Tribut zu zollen.«
Das Heulen des Windes fegte über den Abgrund hinweg und ließ mich frösteln.
»Ximena, bist du Willens, deine Pflicht zu tun, um die Göttin zu besänftigen? Bist du bereit, ihnen Tribut zu zollen, sie zu ehren und ihnen zu folgen wie es seit jeher die Tradition unseres Volkes ist?«
Die Frage des Priesters hallte in meinen Kopf wider. Die Menge tuschelte aufgeregt und ein kleines Kind fing an zu weinen.
»Ja«, antwortete ich leise.
Tante Rosita und ich hatten diese Stelle schon dutzende Male besprochen. Das Ritualmesser war ein altes Relikt unserer Urahnen und wurde in einem der ältesten Tempel von Cozumel aufbewahrt. Doch anders als früher würde man mich nicht qualvoll ausbluten lassen, sondern nur einen winzigen Tropfen für das Opfer nutzen. Es sollte ein Symbol sein. Nicht mehr und nicht weniger.
Der Alte blickte mich erwartungsvoll an. Zögerlich hob ich meinen rechten Arm und streckte ihn ihm entgegen. Grob umgriff er mein Handgelenk und drückte zu.
Plötzlich stieg Panik in mir auf. Doch ehe ich meine Hand zurückziehen konnte, schnitt er mir mit dem Messer tief ins Fleisch. Was zur Hölle passierte hier? Hektisch blickte ich von meinem verletzten Arm zu dem Priester und wieder zurück. Der stechende Schmerz, der meinen Körper durchfuhr, versetzte mich in einen Schock. Was war, wenn Mateo recht hatte? Wenn man mich belogen und dieses ganze Ritual viel mehr als ein kleines Schauspiel war? Mit aller Kraft entriss ich dem Priester meinen Arm und taumelte zurück. Warmes Blut lief über meine Haut und ich presste meine Hand auf den tiefen Schnitt. Der pulsierende Schmerz breitete sich sofort aus, füllte meinen Körper zum Rand aus. Schwindel überkam mich und der metallische Geruch meines Blutes ließ mich würgen.
»Möge dein Opfer die Schuld reinwaschen.«
Dann stieß er mich brutal über den Rand. In meinem Kopf herrschte sofort Leere. Ich wollte schreien. Laut und schrill, doch aus meinem Mund kam nicht ein Laut. Der freie Fall in die Tiefen der Wassergrotte dauerte nur wenige Sekunden, doch er fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Als ich die Wasseroberfläche durchbrach, presste der Aufprall all meine Luft aus den Lungen. Angsterfüllt riss ich meine Augen auf. Mein Herz hämmerte hart gegen meine Brust und der stumme Schrei in meinem Inneren ließ mich erbeben. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Angst verspürt wie in diesem Moment. Mein Volk, nein, meine Familie hatte mich verraten und ich hatte es nicht kommen sehen. Mateo hatte mich hiervor gewarnt. Doch ich hatte ihm nicht geglaubt. Ich würde sterben. So wie er es vorausgesagt hatte. Die Dunkelheit des Abgrundes umspülte mich, füllte mich vollkommen aus und riss mich gewaltsam mit sich in die Tiefe.
*
Als ich meine Augen wieder öffnete, konnte ich kaum glauben, was ich sah. Alles um mich herum waberte in einem hellen Blau. Ich lag auf sandigem Grund und meine Glieder schmerzten, als hätte mich ein Bus überrollt. Umständlich versuchte ich mich auf die Beine zu hieven, doch die Schmerzen waren kaum aushaltbar.
»Langsam, Ximena.«
Sofort drehte ich den Kopf und blickte in das Gesicht einer großgewachsenen, dunkelhaarigen Frau. Ihre Züge wirkten streng und ihre dunklen Augen blickten mir misstrauisch entgegen. Ihr schlanker Körper war über und über mit filigranen Linien überzogen, die unter ihrer dunklen, majestätischen Robe hervorstachen.
»Was zur Hölle ist passiert?«, fragte ich benommen.
Mein Blick fiel auf meinen verletzten Arm, an dem ich einen tiefen, blutigen Schnitt erkannte.
Das Ritual!
Sofort wurde mir flau im Magen. Mein Herz raste und alles drehte sich. Doch irgendwie kämpfte ich mich zurück auf meine wackeligen Beine.
»Ruhig. Atme ein und wieder aus. Du bist hier in Sicherheit.« Die Stimme der fremden Frau klang ruhig und beherrscht. Sie sprach so selbstsicher und überzeugend, dass ich gar keine andere Wahl hatte, als ihrem Rat zu folgen. Langsam sog ich die Luft ein, zählte bis drei und atmete wieder aus. Ich wiederholte dieses Prozedere, bis der Druck in meinem Körper nachließ. Doch das unwohle Gefühl in meiner Magengegend blieb bestehen.
»Wo bin ich hier?«
»Du bist im Cxibalba.« Die Fremde fuhr sich mit ihren langen Fingern durch das lockige, dunkle Haar und warf mir ein flüchtiges Lächeln zu. Erst jetzt erkannte ich, dass die Linien auf ihrer Haut ein gigantisches Bild ergaben. Als hätte man ihr eine Geschichte auf die Haut gepinselt.
»Sieh nach oben, Ximena. Du hast die Oberfläche der Welten durchbrochen.«
Langsam hob ich meinen Kopf und erschrak. Die Decke über uns waberte. Sie schwankte hin und her, brach das Licht und tauchte diesen Ort in eine besondere, magische Atmosphäre.
»Ist das…«, meine Stimme stockte.
»Wasser? Ja. Als du gesprungen bist, hast du durch den Cenote mein Reich betreten.«
»Ich bin nicht gesprungen! Man hat mich gestoßen.«
»Das Ergebnis ist dennoch dasselbe – du bist hier im Cxibalba, dem Ort der Angst und Verzweiflung.«
In meinem Kopf herrschte pures Chaos. Der Cxibalba war nicht mehr als eine Erzählung aus längst vergessenen Zeiten. Ein Relikt der alten Mayakultur, ein Hirngespinst. Und diese Frau, wer war sie?
Vielleicht hatte ich mir durch den Sturz den Kopf angeschlagen und bildete mir diese göttergleiche Frau bloß ein? Oder war ich bereits gestorben und vermoderte auf dem Grund des Cenotes? Das alles hier konnte unmöglich real sein.
»Ich bin Ix Chel, Göttin des Mondes und Schutzherrin des Wassers. Und du wirst heute endlich die Schulden deines Volkes bei mir begleichen.«
Die Göttin schenkte mir ein unterkühltes Lächeln. Doch ich war absolut unfähig auch nur ein klares Wort über die Lippen zu bekommen.
»Es ist schon etwas her, seit ihr mir ein richtiges Opfer dargebracht habt. Es kommt keine Sekunde zu spät«, sprach sie weiter.
»Wie ist das alles nur möglich? Was mache ich denn hier? Ich dachte, alles, was der Priester braucht, ist ein Tropfen Blut. Ich… Ich verstehe das alles nicht.«
»Ein Tropfen Blut wird meine Schwester kaum davon abhalten, die Welt ins Chaos zu stürzen. Ihr Menschen seid so töricht! So vergesslich. Habt ihr denn eure vielen Toten und die Zerstörung eurer Welt schon wieder vergessen? All das Leid, über das ihr ständig klagt? Was ist ein einziges Opfer, wenn ihr damit Tausende retten könnt?«
Ihre Stimme klang verärgert und ihre Worte schnitten mir tiefer ins Fleisch als die Klinge des Priesters.
»Also …« flüsterte ich. »… bin ich tot?«
»So einfach ist das nicht. Du wandelst momentan zwischen den Welten. Gewissermaßen bist du nicht mehr am Leben, aber auch nicht tot. Die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und Toten ist am Tag der Toten verwischt. Als dein Blut bei Vollmond gemeinsam mit deinem Körper in den Cenote eintauchte, hast du das Tor in mein Reich aufgestoßen. Aber ich herrsche hier nicht allein. Während ich für das Leben auf der Erde stehe, die Fruchtbarkeit der Erde, das Wasser, welches die Welt zu einem lebendigen Ort macht, herrscht meine Schwester über den Tod. Sie ist das Chaos, die Fäulnis, die Dunkelheit. Chac Chel stellt das natürliche Gleichgewicht der Welten her, wenn es nötig ist. Doch sie wird geleitet von unbändiger Gier und dem Hass auf die Menschenwelt. Sie tötet nicht mehr nur, um das Gleichgewicht zu erhalten, sondern weil es ihr gefällt. Ich passe seit Urzeiten auf, dass sie ihre unbändige Macht nicht missbraucht. Doch meine Kraft ist begrenzt und mit jedem Tag, der vergeht, schwindet meine Macht.«
»Aber was hat das alles mit mir zu tun?«
Die Göttin schob den dunklen, glänzenden Stoff ihres Kleides zur Seite und wies mit der linken Hand auf die feinen Linien. »Mein Körper erzählt die qualvolle Geschichte einer Jahrtausende alten Fehde zwischen Licht und Dunkelheit. Ich bin das Licht und meine Schwester ist die Dunkelheit. Einst verfluchte sie mich und knüpfte meine Macht an ein Menschenopfer. Um ihr weiterhin Einhalt gebieten zu können, musst du meinen Platz einnehmen, indem du deine Existenz auf Erden aufgibst, um mir deinen Körper zu überlassen. Nur so kann ich über den Cxibalba, den Ort der Angst, wachen. Durch meine Wiedergeburt kann die Welt vor ihrer unbändigen Wut und der Zerstörung gerettet werden.«
Ix Chel strich mit ihren feingliedrigen Fingern über ihre Haut und erst jetzt sah ich, dass es keine Linien waren, die sich fein über ihre Haut zogen, sondern Schnitte. Sie schienen sich zu bewegen und über ihren Körper zu wandern, wie Schatten. Erschrocken stolperte ich ein paar Schritte zurück. Das alles konnte unglaublich real sein, oder?
»Aber wie soll ich das bitte anstellen? Ich weiß überhaupt nicht, was das alles hier soll. Ich will wieder zurück. Zurück zu meiner Schwester und meiner Familie. Nayeli braucht mich!«, schrie ich sie an. Doch die Göttin senkte nur den Kopf und zeigte mit ihrer Hand an die wabernde Decke.
»Du kannst nicht zurück. Kein Mensch betritt diesen Ort und verlässt ihn unbeschadet wieder. Entweder du stirbst sinnlos, oder du rettest die Menschen, die du liebst. Entscheide dich!«
Ihre aufgebrachte Stimme erfüllte die Grotte und plötzlich fiel die wabernde Decke auf uns hinab. Wasser flutete meine Lungen und ich begann zu husten. Konnte sie mich töten, wenn ich wirklich in einer Art Zwischenwelt gefangen war? Meinem Körper waren diese Gedanken vollends gleichgültig, denn er kämpfte reflexartig gegen das Ertrinken an. Ich ruderte mit den Armen, um an die Wasseroberfläche zu gelangen. Ich musste fliehen! Mit letzter Kraft versuchte ich mich ins Leben zurück zu kämpfen, doch die Wellen rissen mich mit und hielten mich mit ihrer gewaltigen Kraft unter Wasser.
»Ich will nicht sterben!«, schrie ich in Gedanken.
»Also trittst du mein Erbe an?«, hallte die Stimme der Göttin durch meinen Kopf. Sie klang seltsam verzerrt, irgendwie unmenschlich.
Ich nickte heftig und schlagartig zog sich das Wasser zurück. Ich fiel hart auf den kalten Felsboden und schnappte sofort nach Luft. Mein Blick war verschwommen und jeder Atemzug war eine Qual. Wieso quälte sie mich so? Ich hatte dieser Göttin doch nichts getan.
»Jetzt wo wir das geklärt hätten, können wir ja endlich mit dem wichtigen Teil beginnen. Komm mit, wir haben nicht viel Zeit. Die Nacht der Toten neigt sich bereits ihrem Ende entgegen. Du hast nur diese eine Chance, um es richtig zu machen.«
Ix Chel schritt durch die Felshöhle und ich rappelte mich mit letzter Kraft zurück auf die Beine und folgte ihr in einigem Abstand. Während meine Klamotten noch immer nass waren und eng an meinem Körper klebten, sah sie aus wie zuvor. Keinerlei Anzeichen dafür, dass sie ebenfalls mit Wasser in Berührung gekommen war. Sie schritt anmutig durch die Grotte und drehte sich nicht einmal zu mir um. Wir durchquerten eine Art Halle, in deren Mitte sich ein riesiger Brunnen befand.
»Das ist meine Schwester – Chac Chel«.
Die Göttin wies auf eine steinerne Statue, die eine Frau zeigte, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. Einzig die vielen Schnitte auf ihrer Haut fehlten der Figur.
»Das ist eine Steinstatue?«, fragte ich verwirrt.
Mein Blick schweifte durch die riesige Halle und blieb an dem mächtigen, beinahe leeren Brunnen hängen, in dessen Mitte die Statue stand. Ich trat vorsichtig näher und erschrak.
War das etwa…? »Der Blutbrunnen existiert wirklich?«, fragte ich ungläubig.
»Der Tag, an dem dieser Brunnen versiegt, ist der Tag, an dem die Erde erneut ins Chaos gestürzt wird. Du musst verhindern, dass das jemals passiert. Durch die göttliche Reinkarnation wirst du an meiner Stelle sein und die Ängste der Menschen an diesem Ort bündeln. Aber du zahlst nicht nur den Preis deines Lebens für diese Aufgabe.«
»Was soll das heißen?«
»Du musst meine alte Hülle töten, um meinen Platz einzunehmen, Ximena. Ein Leben für ein anderes. Du musst Schuld auf dich laden und dich so für den Rest deiner Existenz an mich binden. Das ist der Preis, den du zahlen musst.«
Ix Chel schloss die Augen und kurze Zeit später bebten die Wände der Halle. Ein heller Schein umgab die Göttin und mit ihren Händen formte sie etwas, dass aussah wie ein Messer.
»Wieso ausgerechnet ich? Der Priester hat gesagt, du hast mich erwählt. Ich will das alles nicht. Lass mich gehen, bitte.«
Die Göttin baute sich vor mir auf und auch wenn sie äußerlich aussah wie ein Mensch, so spürte ich die ungeheure Macht, die sie umgab wie eine zweite Haut. Sie war gleichzeitig das Schönste und Grauenvollste, das ich jemals gesehen hatte. Denn ihre Hülle wirkte wunderschön und menschlich, doch ihr Innerstes glich einem dunklen Monstrum. Wie konnte etwas so Abartiges bloß in etwas so Schönem existieren?
»Deine Familie ist schuld, dass der Blutbrunnen beinahe versiegt ist. Nur ihretwegen bist du hier. Hättet ihr weiter eure Opfer erbracht, dann wäre nie ein so gigantisches Ungleichgewicht entstanden! Du wirst meine neue Hülle und verschaffst meiner Schwester dadurch wieder etwas Zeit.«
»Wieso tötest du sie nicht einfach? Dann kann sie kein Unheil mehr stiften?«, versuchte ich sie zu überzeugen. Allein bei dem Gedanken, meine eigene Schwester zu töten, wurde mir übel.
Ix Chel reichte mir die Waffe und richtete ihren Blick erneut zu der Statue ihrer Schwester.
»Die Welt braucht beides. Ordnung und Chaos, Licht und Schatten. Töte ich Chac Chel, töte ich auch mich selbst.«
»Also kann man deine Schwester nicht töten, ohne dass man auch dich tötet?« Langsam näherte ich mich dem Brunnen, in dessen Zentrum die Statue stand. Vorsichtig strich ich mit meiner Hand über die glatte Oberfläche der kalten Statue. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass es die Mayagottheiten wirklich gab.
»Man kann eine Gottheit nicht töten. Wir sind die Luft, die euch Menschen umgibt, euer Himmel und eure Gezeiten. Cozumel ist meine Insel. Sterbe ich, reiße ich sie mit mir ins Verderben und jeden einzelnen Menschen, der sie bewohnt.«
Unweigerlich musste ich an Nayeli denken. War das wirklich alles, was ich tun konnte, um ihr das Leben zu ermöglichen, dass sie verdiente? Konnte ich dieser Gottheit wirklich vertrauen? Eine grausame, kaltblütige Gottheit, die die Existenz ihrer Schwester über die Existenz der Menschheit stellte? Hatte ich überhaupt eine andere Wahl? Ich musste mich ihrem Willen beugen und das Beste hoffen. Meine Eltern hatten nur das Richtige tun wollen. Sie hatten so viele Unschuldige gerettet, indem sie sich gegen die Opferungen ausgesprochen hatten. Ich war stolz auf ihren Mut und ich schuldete es ihnen, mutig für Nayeli zu sein.
»Was muss ich tun, um das göttliche Gleichgewicht zu wahren?«
Mein Blick fiel auf das Messer in meiner Hand.
»Du musst mich von meiner weltlichen Hülle lösen, Ximena.«
»Du meinst, ich soll…?«
Der Boden begann zu vibrieren und das helle, bläuliche Licht der Wasseroberfläche verdunkelte sich.
»Beeil dich! Nimm das Messer und trenne dich von deinem alten Leben. Nur so kannst du das Ritual vollenden!«
Ix Chels Stimme schrillte durch meinen Kopf und meine Hände umklammerten panisch den glatten Griff des Messers.
Wenn ich die Schuld meiner Eltern so reinwaschen konnte, dann würde ich es tun. Für Nayeli. Für Mateo. Für all diejenigen, die mein Opfer rettete.
Mit einem kräftigen Ruck rammte ich der Göttin das Messer in Brust. Sie stöhnte auf, ehe sie mir ein letztes, entwaffnendes Lächeln schenkte. Sie hatte ihren Willen bekommen. Götter bekamen immer, was sie wollten. Sie standen über allem, spielten mit den Menschen und egal, wie sehr wir uns wehrten, wir kamen gegen ihre Macht einfach nicht an.
Ich spürte plötzlich unglaublichen Druck in meinem Körper und kurzzeitig war der Schmerz so groß, als würde mich etwas von innen heraus zerreißen.
Fühlte es sich so an, wenn man sich selbst verlor und eine Gottheit von einem Besitz ergriff? Meine Erinnerungen verflüchtigten sich und panisch versuchte ich mich an ihnen festzukrallen. Ich wollte mich nicht verlieren. Doch die Göttin zehrte mich auf, verschluckte alles, was mich je ausgemacht hatte und ließ nichts zurück außer meiner menschlichen Hülle. Ihrer menschlichen Hülle.
»Lass sie los«, hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf.
Doch ich war nicht bereit, sie alle gehen zu lassen. Meine Eltern, meine Freunde, meine Schwester. Wie hieß sie noch gleich?
»Wehre dich nicht.«
Der Nebel lichtete sich und der letzte Gedanke, das letzte Wort, an dem ich mich versuchte festzuklammern lautete:
Nayeli …