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DER CORONA-BRUCH
ОглавлениеPlötzlich war es da, unerwartet, unerkannt, unheimlich: das Coronavirus.
Es verursacht einen massiven, in seinen Auswirkungen nicht absehbaren Bruch. Es zieht die Welt in seinen Bann, fordert unsere Gesundheitssysteme, hinterlässt Verwüstungen in Wirtschaft und Arbeitswelt, bringt Verwerfungen in Schulen, Kultur und Sport und erschüttert unsere gesellschaftlichen Beziehungen. Es fordert unsere staatlichen Budgets und Sozialsysteme. Es bedroht wirtschaftliche Existenzen ebenso wie unsere mentale Verfassung. Experten, Virologen, Ärzte, Politiker und Zukunftsforscher: Allen gemeinsam ist, dass sie nicht wissen, was kommt, aber sicher sind, dass vieles nicht so bleiben wird, wie es war.
Ein skurriler Streit spielte sich zwischen China und den USA ab. Während Donald Trump vom »China-Virus« sprach, unterstellten die Chinesen den USA, die Pandemie verursacht zu haben. Europa als Hauptbetroffener war Zuschauer. Zuschauer? Leider nein. Rückfalltäter! Denn während andere in der Krise selbstverständlich zusammenstanden und versuchten, gemeinsam zu agieren, machte Europa wieder einmal das genaue Gegenteil: Nach dem Motto »Rette sich wer kann« wurden Grenzen geschlossen, als könnte man damit das Virus aufhalten. Kilometerlange Staus an den Grenzübergängen und Wartezeiten bis zu 40 Stunden waren die Folge, dringend benötigte Güter, insbesondere auch aus dem medizinischen Bereich, konnten nicht an ihren Bestimmungsort gelangen. Ebenso gelangten viele Mitarbeiter nicht zu ihren Arbeitsplätzen in den Betrieben jenseits der Grenze. Und noch viel erschreckender: Manche Länder führten Exportverbote für medizinische und sanitäre Hilfsmittel ein, hoben Zölle ein oder beschlagnahmten gar die Ware. Dies alles erinnerte frappant an das Verhalten von Raubrittern im Mittelalter.
Wieder einmal steht Europa als der große Versager da. In der Flüchtlingskrise kein gemeinsames Konzept, in der Ökologiekrise außer Zielerklärungen keine konkreten Masterpläne, uneins über die Möglichkeiten einer fairen Besteuerung, unfähig zu einer gemeinsamen Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten, vor den Erpressungsversuchen Trumps in die Knie gehend – und nun auch noch das unwürdige Schauspiel europäischer Uneinigkeit in der Coronakrise! Ist es ein Wunder, dass so viele Menschen an Europa zweifeln, manche sogar verzweifeln? Ist es ein Wunder, dass das autokratische, ja diktatorische China von manchen insgeheim bewundert wird, weil das Krisenmanagement dort effektiver erscheint? Und fühlen wir Europäer uns nicht erst recht verhöhnt, wenn eben dieses China, von dem die Krise ausgegangen ist, sich nun als Hilfslieferant anbietet und den betroffenen Ländern Europas zur Seite steht, was mangelnde europäische Solidarität nicht vermocht hatte?
War es nicht ungeheuer beschämend, dass Serbien nach verhängten Exportbeschränkungen europäischer Länder für medizinisches Material einen Hilferuf an China machen musste? Der serbische Präsident Vučić erklärte, die europäische Solidarität sei ein »Ammenmärchen« und China das einzige Land, das Serbien noch helfen könne. Was für ein Eingeständnis von Schwäche und Unfähigkeit!
Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Dekaden ist aus dem Reich der Mitte ein Lungenvirus ausgebrochen. Ähnlich wie die von den USA ausgegangene Finanzkrise hat sich diese Gesundheitskrise durch das globale Netzwerk rasant ausgebreitet und zur Pandemie entwickelt. Eine Pandemie, die ein Hauptopfer auserkoren hat – Europa – und die einen Sieger kennt: China. Beim Ausbruch und der Verbreitung des Virus haben die Chinesen blitzartig Spitäler gebaut, Beschränkungen verordnet und Kontrollen der Bevölkerung durchgeführt. Mit Erfolg, denn das Virus wurde eingedämmt und China kehrt zum Alltag zurück, während Europa noch weit davon entfernt ist. Für China wird ein nach wie vor positives Wirtschaftswachstum erwartet, für Europa hingegen eine Rezession. Chinas Wirtschaft ist wiederbelebt, in Europa liegt sie auf der Intensivstation. Weltweite Börseneinbrüche ermöglichen den Chinesen billige Unternehmenskäufe. Sie sind damit für die Zeit nach der Krise bestens aufgestellt. China wird damit noch stärker, der Niedergang der USA beschleunigt sich – und Europa? Bleibt es auf der Strecke? Das Eurobarometer steht auf Sturm!
So wie das Coronavirus vor allem für ältere und geschwächte Menschen gefährlich ist, so ist es auch für das alte und geschwächte Modell Europas lebensgefährlich. Schlagartig wird uns bewusst, was wir ohnedies immer geahnt haben: dass Europa in wichtigen, entscheidenden und dringenden Fällen nicht handlungsfähig ist.
Das Gesundheitswesen ist nationale Kompetenz. Dementsprechend hat die Europäische Union bei den ersten Coronafällen in Italien, später in Spanien, nicht reagieren können, weil die betroffenen Staaten die angebotene EU-Unterstützung abgelehnt haben! Erst die Erklärung zur Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation und die Einsicht vieler Länder, dass man mit nationalen Maßnahmen allein der Krise doch nicht Herr werden kann, ließ den Ruf nach Brüssel erschallen. Wie in jeder Krise, bei der Nationalstaaten mit ihrem Latein am Ende waren, erinnerte man sich an Europa.
Es war Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin, die sich hinstellte und sagte, dass die Europäische Union mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln die Gesundheit der Menschen wiederherstellen und den durch die Krise betroffenen Betrieben sowie den darin beschäftigten Menschen helfen werde. Sie vernetzte Maßnahmen der Europäischen Kommission mit denen der Europäischen Zentralbank, die für entsprechende Liquidität zu sorgen hat, und der Europäischen Investitionsbank, die Unternehmenshilfen sicherstellen soll. Regeln für Schuldenbegrenzungen und Beschränkungen für staatliche Beihilfen wurden außer Kraft gesetzt – ein bislang einzigartiger Schritt der Union. Die Kommission setzte Prioritäten im EU-Budget, in den Kohäsionsfonds, im Europäischen Sozialfonds und im Europäischen Katastrophenfonds. Sie tat alles, was man in dieser Situation auf der europäischen Ebene tun konnte. So wie Mario Draghi als Chef der Europäischen Zentralbank den Euro dadurch rettete, dass er sagte, ihn mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen zu wollen, so könnte auch Ursula von der Leyen mit einer gleichartigen Haltung und Ansage in dieser Krise erfolgreich sein.
Könnte. Wenn die Nationalstaaten auch mitziehen. Wenn sie europäische Solidarität nicht nur für ihre eigenen nationalen Interessen fordern. Wenn sie ihre Egoismen hintanstellen und den Aufrufen der Europäischen Kommission zur Zusammenarbeit Folge leisten. Diese hat sofort eine Koordinationsstelle eingerichtet, die alle europäischen Maßnahmen mit der nationalen Ebene abstimmen und in Einklang bringen soll. Sie hat die geschlossenen Grenzen für wichtige Güter wieder geöffnet und damit einen Versorgungsinfarkt verhindert. Das ist viel und doch zu wenig. Denn hätte die Europäische Kommission jetzt dieselben Möglichkeiten wie die amerikanische oder die chinesische Regierung und ihre Zentralbanken, könnten wir alle unbesorgter in die Zukunft schauen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Europa leidet an einigen Konstruktionsfehlern, die gerade in einer Zeit der Krise besonders offensichtlich und auch schlagend werden. Diese Konstruktionsfehler zu beseitigen – und einige von ihnen sollen in diesem Buch aufgezeigt werden – sollte bei einigermaßen normalen Verhältnissen umgehend angegangen werden. Damit es nicht ein weiteres Mal vorkommt, dass Europa hilflos in den Seilen hängt, jegliche innere Solidarität vermissen lässt und national abgeschottet auf die Hilfe von anderen angewiesen ist. Wenn Jack Ma, einer der erfolgreichsten chinesischen Geschäftsleute, Gründer von Alibaba und damit auch einer der reichsten Menschen der Welt, zwei Millionen Schutzmasken spendiert, ist das einerseits ein Zeichen humanitärer Anteilnahme, andererseits aber auch ein Symbol politischer Überlegenheit. Solche Beispiele sollten uns die Augen öffnen für das, was sich auf der Welt abspielt!
Europa ist aber nicht nur in der Krise gefordert. Die ganz große Herausforderung steht erst bevor. Die Folgen des Virus verursachen exorbitante Schäden. Schäden, die unsere Wirtschaft massiv beeinträchtigen, die Arbeitslosigkeit exorbitant steigen lassen und die öffentlichen Haushalte gewaltig überdehnen werden. Manchen Ländern der Europäischen Union, wie beispielsweise Italien, droht ein Finanzkollaps. Dies abzuwenden ist nicht nur Sache der Italiener, hier ist europäisches Zusammenwirken und gemeinsames Handeln gefordert, um solche Gefahren abzuwenden und damit insgesamt von Europa und uns allen Schaden fernzuhalten. Europa wird sich von der Krise langsamer als andere erholen. Die Amerikaner haben den Vorteil einer starken Binnenkonjunktur und sind von den weltweiten Warenströmen weniger abhängig. Die Chinesen haben den Vorteil, in einer Radikalität Maßnahmen umsetzen zu können, die bei uns nicht denkbar wären.
Damit jedoch noch nicht genug, denn jedem Desaster folgt ein Wiederaufbau. Aber auch der muss finanziert werden. Klar: Vorerst ist es notwendig, die Lecks am Schiff Europa zu stopfen und den Untergang zu vermeiden. Dann aber müssen wir dieses Schiff wieder flott und seetüchtig machen! Wie bewältigen wir die Umstrukturierungskosten von traditionellen industriellen Bereichen, deren Bedeutung abnehmen wird, hin zu neuen Sektoren mit Wachstumspotential? Und was machen wir mit den riesigen Schuldenbergen, die sich jetzt als Folge der Krise vor uns auftürmen?
Vieles wird sich ändern. Die Digitalisierung wird verstärkt Videokonferenzen, Teleworking und E-Learning ermöglichen. Eine ausreichende digitale Infrastruktur wird imstande sein, die Landflucht nicht nur zu stoppen, sondern Arbeiten und Leben im ländlichen Bereich wieder attraktiver machen. Regionales Denken, Handeln und Kooperieren wird im Vordergrund stehen. Die Zeit des immer mehr, immer schneller und immer egozentrischer wird abgelöst werden durch ein einfacheres, nachhaltigeres und ökologisch orientierteres Denken. Hier verknüpfen sich die Megathemen der Europäischen Union, Gesundheit und Ökologie, und vielleicht war das Virus auch ein wichtiger Anstoß zu einer Bewusstseins- und Verhaltensänderung der Menschen in diese Richtung.
Auch das Wertesystem wird sich ändern: Menschliche Begegnungen, größere Anteilnahme am Geschehen in der nahen Umgebung und mehr Denken in Gemeinsamkeiten könnte die Folge sein.
Auch ihre Industriestrategie wird die Europäische Union einer Revision unterziehen müssen. Zu den Schwächen, die diese Krise deutlich gemacht hat, gehört beispielsweise auch die Abhängigkeit Europas von Medikamenten. Die pharmazeutische Industrie ist zu 80 Prozent in Asien angesiedelt. Gesundheitsvorsorge wird in Zukunft zu den strategisch ganz wichtigen Themen zählen.
Wir erleben derzeit aber auch, welch enorme Auswirkungen Unterbrechungen von globalen Lieferketten haben und wie ganze Industriezweige davon getroffen werden. Europa muss also eine gemeinsame Antwort auf diese Bedrohungen finden.
Das zu tun erfordert die ganze Kraft einer europäischen Gemeinschaft. Nationalstaaten sind dabei heillos überfordert. Sie haben das auch am Beginn dieser Krise wieder einmal in besorgniserregender Art und Weise unter Beweis gestellt.
Nur wenn es Europa gelingt, sein gesamtes Arsenal an wirtschaftlichen Waffen einzusetzen und so wie in der Finanz- und Eurokrise notwendige Maßnahmen rasch zu setzen, nur wenn es gelingt, seinen Binnenmarkt nicht zu unterbinden, sondern zu stärken, kann Europa auch diese Krise überwinden. Europa hat leider immer Krisen gebraucht, um vernünftige Schritte nach vorwärts zu machen. So wäre auch diesmal ein entschlossenes und vor allem solidarisches Handeln angesagt.
Als 68er-Student habe ich in den Chor miteingestimmt: »This world has lost its glory, let´s start a brand new story!« Heute würde ich, wesentlich pragmatischer geworden, sagen: »We can work it out!«.
Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Ist kein Wille da, dann hat Corona unseren europäischen Abstieg besiegelt. Wenn doch, dann hat auch Corona als Auslöser eines neuen europäischen Aufstiegs seinen Sinn gehabt. Dann hätte uns die Krise stärker gemacht.
Corona can make or break the Union!
»Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!« hat die Band Geier Sturzflug getextet. Ich variiere: »Gestalten wir Europa, solange das noch geht!«.