Читать книгу Teufelsgasse - Christoph Lindenmeyer - Страница 12

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Wenn sie durch die Gänge des Funkhauses eilte, schwänzelte ihre Handtasche, mit den kurzen Trageriemen über die linke Schulter gestreift, wie die Flosse eines Fisches, der einem feindlichen Verfolger entkommen will. Immer in Eile, immer dicht an den Wänden der Flure, nie gelassenen Schritts in der Mitte des Weges. Wie Radarwellen sandte sie, daran hatten sich alle gewöhnt, keckernde Laute vor sich her. Wolff erinnerte diese Keckertonfolge an die Warnlaute eines Schiffs vor einer Flussbiegung.

Sie war jeden Tag apart gekleidet, nicht ganz nach dem Geschmack Wolffs, aber dennoch überlegt. Ihre Sturmfrisur war hochtoupiert, die Farbe schillernd zwischen kastanienbraun und rostrot. Begegnete sie Kolleginnen oder Kollegen in den Gängen und Treppenhäusern, nickte sie ihnen flüchtig zu, als würde sie ein kurzes Hallo in unzumutbarer Weise festlegen.

Wolff wusste, dass seine Kollegin über eine polyglotte Begabung verfügte. Sie sprach fließend Italienisch, Englisch, Spanisch, Kroatisch, Russisch und konnte sich sogar in einer skandinavischen Sprache akzentfrei verständigen. Er hatte sie früher um ihre verbale Eleganz beneidet, mit der sie vor großen Liveübertragungen der Europäischen Rundfunkunion das Publikum vieler Sender begrüßte. Es galt für sie das Privileg, bei besonders schwierigen Moderationen die im Schichtdienst tätigen und weniger versierten Stationssprecherinnen und Stationssprecher zu ersetzen. Fest stand: Vor dem Mikrofon keckerte sie nie. Vorher, wenn sie das Studio betrat: Ja. Nachher, wenn sie das Studio verließ: Ja. Sie keckerte, wenn sie nicht vor dem Mikrofon saß. Live in der Sendung aber funktionierte sie als ausgebildete multilinguale Sprecherin.

Wolff hatte in einem Humanistischen Gymnasium das große Latinum und das Graecum erworben, im Englischunterricht wurde Shakespeare übersetzt. Der Teacher trug stets ein kariertes Sakko, aus dessen Seitentasche eine Ausgabe der »Times« hervorlugte. Später hatte die Klasse entdeckt, dass es sich immer um die identische, längst nicht mehr aktuelle Ausgabe handelte, die der Teacher wohl mehr als Accessoire verstand, ein Signal seines Livestyles. Leicht ausgefranst, das Papier schon angegilbt. Als Wolff mehr als eineinhalb Jahrzehnte später in Manhattan einen Rabbi angesprochen hatte, um ihn nach der richtigen Subway Richtung Long Island zu fragen, grammatikalisch korrekt im Shakespeare-Sound, blickte der Rabbi ihn über die Ränder seiner Brille an und antwortete kurz: »Mit mir können Sie auch Deutsch reden!« Wolff hatte das kurze Gespräch als Niederlage empfunden, auch wenn die inhaltliche Auskunft des schwarzgekleideten Mannes völlig korrekt und hilfreich gewesen war. Seitdem versuchte er, wo immer es möglich war, Gespräche in einer anderen Sprache zu umgehen. In seinem Studium hatte er im ersten Semester außerdem das Hebraicum gemacht. Nun besaß er Kenntnisse in drei alten Sprachen, tat sich aber schwer, sich in den USA nach Verkehrsverbindungen zu erkundigen.

Wolff las ein paar E-Mails aus dem Haus. Jemand hatte geschrieben: »Ich gebe zu, dass ich den Chefredakteur nicht besonders mochte. Das lag weniger an mir als an ihm und seiner gelegentlich saugroben Haltung uns gegenüber, durch die er uns wissen ließ, dass er eine andere Hierarchieposition einnahm. Ihr Nachruf aber hat mir gezeigt, dass Steiger offensichtlich doch noch andere Seiten hatte. Das hat mich sehr beeindruckt, und deshalb schreibe ich Ihnen. Vielen Dank und: Chapeau!«

Eine Kollegin meinte, ihm mitteilen zu müssen, dass er, Wolff, dafür bekannt gewesen sei, Steiger nicht besonders zu schätzen. Der Nachruf aber in beiden Programmen und im Intranet sei objektiv und dem Chefredakteur zugewandt geschrieben. Wolffs Text habe sie deshalb tief berührt.

Wolff löschte beide Nachrichten und noch zwölf andere, die sich auf seinen Nachruf bezogen. Er überlegte, ob er einer Kollegin, einem Kollegen geschrieben hätte, wenn der Nachruf von ihnen verfasst worden wäre. Er nickte kurz und wusste: Wahrscheinlich hätte er auch ein Feedback gegeben, so wie er das immer wieder tat, wenn er herausragende Produktionen gehört hatte. Der Tote hatte zwar nichts davon, aber Wolff tat die Anerkennung gut.

Jetzt war es an der Zeit, sich einen frischen Kaffee aus dem Vorzimmer zu holen. Als für die Redaktionen von der Inventarverwaltung Thermoskannen angeboten worden waren, hatte Wolff seinem Team unmissverständlich gesagt, dass Kaffee aus der Thermoskanne in seinem Umfeld niemals erlaubt sei. Mit Schaudern erinnerte er sich, als ihm der Hörfunkdirektor einmal eine Tasse Kaffee angeboten hatte, die Wolff kaum ablehnen konnte. Ihm lag daran, mit Vorgesetzten auf Augenhöhe zu reden; er stand nicht vor dem Schreibtisch, hinter dem sich der Chef verschanzt hatte, sondern setzte sich auf die Sitzgruppe. Der andere würde sich dann schon dazusetzen. So war es immer. Der Kaffee, aufgehellt mit fetter Sahne aus der Dose, war ungenießbar. Wolff schmeckte das Blech, die Rückstände eines Reinigungsmittels und die gelbe Sahne. Als sein Gesprächspartner kurz sein Büro verließ, um im Vorzimmer einen Auslandskorrespondenten zu begrüßen, der auf Verdacht kurz in der Direktion hereingeschaut hatte, kippte Wolff den Inhalt seiner Tasse in einen Blumentopf. Auch deshalb legte er Wert auf stets frisch gefilterten Kaffee, der nicht länger als eine halbe Stunde auf der Wärmeplatte stehen durfte. Statt Kaffeesahne wurde in seinem Büro frische Milch angeboten. Hin und wieder brachte Wolff von einer Kaffeerösterei auf dem Land ein Pfund Kaffeebohnen mit, viel länger als in den Kaffee-Großfabriken bei niedrigeren Temperaturen geröstet, sodass sich anders als bei den großen Markenproduzenten niemals ein bitterer Geschmack einstellte.

Es klopfte an der Tür des Sekretariats, als Wolff gerade seine Tasse gefüllt hatte. Die keckernde Tonfolge warnte ihn vor. Unter der Tür stand sie: die Kollegin mit der Handtasche, dieser Schwanzflosse am kurzen Trageriemen. Die Frisur wie immer hoch toupiert. Das Gesicht dick mit Makeup belegt.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

»Für Sie immer!«

Wolff bot ihr eine Tasse Kaffee und einen Platz in seiner Sitzecke an. Hellrote Ledersessel und ein Glastisch auf einem Chromgestell, Modell Mies van der Rohe. Diesen Tisch hatte Wolff vor Jahren im Lager der Inventarverwaltung entdeckt und darauf bestanden, ihn für sein Büro zu bekommen, anstatt sich neue Möbel aus dem Katalog auszusuchen. In seiner Position stand es ihm zu, sein Büro komplett neu auszustatten. Er hatte das Angebot abgelehnt. Man könne nicht am Programm sparen und dann eine neue Büroausstattung bestellen. Die vier alten Sessel hatte er mit rotem Leder beziehen lassen. Ihre Aufarbeitung war nicht teuer gewesen, es war sogar die billigste aller denkbaren Lösungen.

»Schrecklich, das mit Steiger!« sagte sie.

»Ja, das sehe ich auch so«, erwiderte Wolff und blickte aus dem Fenster.

Dann musterte er seine Besucherin, deren Redaktion in einem anderen Teil des Gebäudes untergebracht war. Wolff war dafür dankbar. Er hatte Vorbehalte ihr gegenüber. Er hätte ihr niemals ihre Professionalität abgesprochen, aber er mochte sie einfach nicht. In den Redaktionskonferenzen war sie unter den Redaktionsleitern immer die erste, die sich zu Wort meldete, um der Runde mitzuteilen, welchen Publikumserfolg ihr Redaktionsteam gestern mit seinen Sendungen gehabt habe. Dann ließ sie ihre Keckertonkaskade los, obwohl es keinen Grund zur Heiterkeit gab. Wenn für Sonderprogrammwochen Themenschwerpunkte erwogen und diskutiert wurden, war sie immer sofort bereit, das Thema mit ihrer Redaktion umzusetzen. Wolff kam das so vor, als bewerbe sie sich um ein Fleißbildchen, wie es in seiner Volksschule immer wieder ausgeteilt worden war: ein Hauchbildchen, rot oder blau oder grün, das sich einrollte, sobald es von warmem Atem gestreift wurde. Die dünnen Bildchen wurden gesammelt, geglättet und in den Pausen getauscht.

Von einer Sekunde auf die andere verstand Wolff zum ersten Mal, weshalb seine Besucherin so viel Makeup aufgelegt hatte. In ihrem Gesicht entdeckte er unter der Schicht Spuren von Neurodermitis. Ihre Hände waren feuerrot. Ständig in Bewegung wie Wasserpflanzen in der Dünung, als würden sie gleich das beinahe sichtbare Jucken der Haut wegzukratzen versuchen. Aber die Hände stoppten, bevor es dazu kam, und das Spiel begann von vorne. Es war seltsam und eigentlich traurig, dachte Wolff, dass es in diesem Sender so viele Menschen mit physischen und psychischen Problemen gab. Von seiner Gesprächspartnerin wusste er, dass sie jeden Morgen ein eigenes Kaffeegeschirr in ihre Redaktion mitbrachte, weil sie Angst hatte, von ihrem Team vergiftet zu werden. Übrigens keckerte sie in ihrer Redaktion, wie ihm berichtet wurde, grundsätzlich niemals.

Immerhin ließ sie jetzt die von Wolff servierte Tasse nicht unberührt stehen. »Sehr gut, der Kaffee«, sagte sie.

Ein anderer Kollege aus der Wissenschaftsredaktion hatte nächtelang seinen Vorgesetzten telefonisch aus dem Schlaf gerissen, weil vor seinem Haus andauernd schwarze Fahrzeuge mit Überwachungskameras stünden. In der Bildungsredaktion kollabierte ein Redakteur regelmäßig kurz vor Beginn öffentlicher Livesendungen, sodass sein geradezu väterlich besorgter Chef sich jedes Mal darauf vorbereitete, als Moderator einzuspringen.

Macht unser Sender die Menschen krank? Das fragte sich Wolff seit vielen Jahren. Oder zieht das Medium psychisch labile Menschen an? Suchen sie vielleicht in der Öffentlichkeit der Sendungen ein Selbstbewusstsein, das sie ohne Funktion in ihrer privaten Welt nicht haben? In den frühen Jahren konnten in der Kantine, die damals »Casino« genannt wurde, noch Schnäpse bestellt werden, Einzelgläser oder auch Flaschen, man konnte gleich trinken oder eine Flasche in die Redaktion mitnehmen. Später wurden harte Alkoholika nicht mehr angeboten. Dafür wurden Beauftragte für Alkoholkrankheiten benannt. Die Geschäftsleitung, der Personalchef, der Gesamtpersonalrat und die örtlichen Personalräte ließen sich regelmäßig Bericht erstatten.

Ist es doch das System, das uns hier alle krank macht? Wolff fand keine schlüssige Antwort auf seine Frage. Es gab mehr Krankenstände als in anderen Unternehmen. Das könnte am Termindruck, dem Stress der Livesendungen mit ihren täglichen Unwägbarkeiten und Überraschungen, der überall zunehmenden Bürokratie und den vielen Hindernissen liegen. Wolff beobachtete seit Jahren an sich selbst keine Krankheits- oder Stress-Symptome. Die Arbeit für das Medium Radio war seine Leidenschaft.

Da sitzt sie nun, dachte Wolff, und hier drinnen keckert sie nicht mehr. Welch ein Glück!

Von seiner Kollegin wusste er, dass sie, die fast täglich die Nähe zur »Obrigkeit« suchte, meist glänzend und vor allen anderen über Entwicklungen im Haus informiert war. Gelegentlich verbreitete sie Verschwörungstheorien, die sich aber bis auf einen einzigen Fall nicht erhärteten, wie sich Wolff erinnerte. Immer aber wusste sie vorab, wenn sich auf den obersten Etagen eine Lage zusammenbraute, die erst sehr viel später die Basis der Redaktionen erreichte. Eine Seherin! Das war sie wohl.

»Wie denken Sie über Steigers Tod?«, fragte sie unvermittelt.

Ihre Hände wanderten die Arme entlang bis zur Schulter, dann wieder zurück.

»Ich weiß nicht«, sagte Wolff. »Steiger hat in seinem Leben wohl mehr getrunken als er sollte, aber er wirkte immer vital, kerngesund, eher ein Kraftbursch als ein Pykniker.«

»Er ist ermordet worden!«, sagte seine Gesprächspartnerin sehr leise, aber mit Nachdruck.

»Wie bitte?«

Wolff war wie elektrisiert.

»Was sagen Sie da?«

»Ich sagte: Steiger ist ermordet worden. Aber fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß!« Sie fügte an: »Lassen Sie mich aus dem Spiel. Aber ich dachte, Sie sollten das wissen!«

Sie stand auf. »Schauen Sie doch mal auf einen Kaffee bei mir vorbei«, sagte sie in der offenen Tür. »Am besten nachmittags. Da sind meine Freelancer alle unterwegs.«

Wolff bedankte sich mit versteinerter Miene.

Plötzlich sah er, wie der Wasserspiegel seines Aquariums schwankte. Er hatte das Abschiedsgeschenk seiner alten Redaktion nie geliebt, aber gepflegt. Er hasste es, an den freien Wochenenden das Aquarium zu reinigen, aber die Fische waren nun einmal da, und es widerte ihn an, immer wieder mit einem Netz tote Fische von der Wasseroberfläche abzuschöpfen und sie in die Toilette zu kippen.

Jetzt aber schwankte der Wasserspiegel deutlich sichtbar.

Im 13. Stock des Hochhauses.

Wolff sah genau hin.

Von Westen her zog eine Wetterfront auf. Ihre Kontur war scharf gezeichnet. Es würde stürmisch werden.

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