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Salzburg erwacht.

Der Mönchsberg und der Kapuzinerberg sind noch verhüllt vom kühlen Morgennebel, der einst weiße Verputz der Mauern auf der Festung sieht leicht angeschimmelt aus, wahrscheinlich dunkel vermoost, noch hat sich über der Altstadt der Dunst aus Feinstaub und Lichtreflexionen nicht verzogen; tagsüber ist er fast unsichtbar, obwohl er auf den Dächern und dem Kopfsteinpflaster lastet, aber man gewöhnt sich daran. Man sieht nicht mehr, was man nicht sehen will. Tagsüber ist das Licht nicht so fahl wie jetzt am Morgen.

Der Mann ist vor einer Stunde aufgestanden. Nach einem kurzen Frühstück hat er seinen Kleinwagen beladen. Heute will er Pflanzen, Grassamen, Erde und den etwas brüchigen Picknickkorb zu seinem Garten bringen. Der Tag ist frisch und neu und dunstig, und es gibt viel zu tun.

Vom Parkplatz aus, der für die Kleingarten-Vereinsmitglieder von Amicitia Salzburg e.V. reserviert ist, trägt er in zwei voluminösen IKEA-Tragetaschen seine Sachen in Richtung seines Schrebergartens. Er geht vorbei an dem kleinen Wertstoffhof, in dem Gartenabfälle deponiert werden dürfen. Dort kann jeder Kleingärtner gelbe Säcke mit dem »Bodenhilfsstoff« Rindenmulch aus reiner Nadelholzrinde erwerben – abgepackte Füllmenge: 130 Liter. Verwendung: Abdecken von Beeten, Pflanzflächen aller Art sowie als Wegbelag. Wirkung: Verringert Unkrautwuchs, schützt vor Austrocknung, ist humusbildend, speichert Wärme, mildert und schützt vor Erosion. Rindenmulch soll in einer Stärke von zehn Zentimetern auf die Flächen aufgetragen und gleichmäßig verteilt werden. Dass sich die Schritte darauf, anders als auf den Kieswegen, akustisch bis zur Geräuschlosigkeit verlieren, steht nicht auf der Packung, aber dem Mann ist auch diese Eigenschaft des Beet- und Bodenbelags wichtig. Lärm zerstört das Vogelgezwitscher. Manche Kleingärtner haben handtellergroße, vogelhausähnliche Schachteln erworben – sogenannte Zwitscherboxen –, die Frontseite in Holz oder aluminiumverkleidet, die jede Bewegung im Umkreis registrieren. Dann zwitschern die gespeicherten Vogelstimmen los. Die Apparate kosten fast 50 Euro. Es ist schwer, die auf einem Chip gespeicherten Vogelstimmen von dem lebendigen Zwitschern zu unterscheiden.

Der Mann geht durch die Watzmanngasse, die Edelweißgasse, die Rosengasse.

Einige Amicitia-Nachbarn haben Miniatur-Biotope angelegt. Beschützt von der Kunststoff-Folie am Teichgrund wächst Schilf, wachsen Gräser und Wasserpflanzen, sogar Seerosen. Im Sommer schwirren Libellen dicht über diesem See-Ersatz, hier und dort haben sich Molche, Frösche und Kröten niedergelassen, auch wenn der schlammige Grund viel zu dünn ist, um in ihm eingegraben den Winter zu überstehen.

Andere haben sich Brunnenattrappen hingestellt: aus Stein, Holz oder Metallbottiche. Einige haben sich für uralte Brunnenpumpen mit langen Hebelarmen entschieden, die aber kein Wasser mehr heraufpumpen, weil das Wasser nun aus der Leitung fließt. Wie Kaskaden hängen Blumentöpfe übereinander, oft mit Fuchsien bepflanzt, deren Blüten es nach unten drängt, sodass in der Fantasie rot-weiße Wasserfälle vorstellbar werden, und ihr Geplätscher, das an Hans Carossas Brunnen im Hof erinnert. Das immer wache Geplätscher nur vom alten Brunnen tönt.

Der Untersberg – obwohl im Dunst noch unsichtbar – ist ganz sicher auch in dieser frühen Morgenstunde da und steht wie seit Jahrtausenden herum, durchlöchert von Höhlensystemen, gefährlich für Bergsteiger, Hausberg der Salzburger. Vom Salzkammergut her weht inzwischen regelmäßig ein wärmerer Wind über der Salzach in die Stadt hinein. Etwas Fön wird den meisten Menschen guttun, jetzt ist es noch etwas klamm hier draußen. Es riecht nach frischem Gras und feuchter Erde. Der Mann hat gelesen, dass die Zitronenfalter mit einem Frostschutzsystem ausgestattet sind, das sie sogar leichten Nachtfrost ertragen lässt, aber noch sind sie nicht für ihren ersten Flug bereit.

Vor wenigen Tagen hat ein leichter Nachtfrost die blauen Hortensien mit ihren frischen Trieben welken lassen, inzwischen haben sich einige Blätter schwarz gefärbt. Der Mann stellt seine schweren Säcke ab, öffnet das hölzerne Gartentor und schneidet die angefrorenen Blätter ab, er beobachtet die winzigen grünen Pickel in den Hortensienstengeln. Vielleicht entstehen neue Triebe. Man braucht viel Geduld, denkt er, Gartenarbeit ist das Warten auf Entwicklung. Ich habe das inzwischen gelernt, denkt er.

Manche Kleingärtner umgrenzen ihren umhegten Boden mit höheren Drahtzäunen. Maschendraht, Jägerzaun und grüne Kunststoffzäune sind beliebt. Von seinem Gartennachbarn grenzt ihn nur ein kniehoher Holzzaun mit großen Abständen ab. Wegen der Igel, sagte der Nachbar.

Angeblich fressen die Igel die Population der Nacktschnecken. Die meisten sind rot-braun gefärbt, gelegentlich finden sich auch schwarze. Die Gartenfreunde haben sich sehr unterschiedliche Methoden angeeignet, um der Schneckenplage Herr zu werden. Ein Bekannter im Alpenrosenweg zerschneidet sie mit einem scharfen Messer. Ein anderer schwört darauf, die Nacktschnecken in Blechdosen zu sammeln und ordentlich Salz auf sie zu streuen. Am nächsten Morgen, wenn er den Deckel öffnet, existiert nur noch eine modrige Flüssigkeit, die er dann auf seinem Komposthaufen entsorgt. Es gibt noch andere Rezepte, mit der alljährlichen Schneckenplage umzugehen. Die Anpflanzung besonderer Kräuter, das Übergießen der Schnecken mit Bier, chemische Spezialmittel. Der Mann aber mag dies alles nicht. Auch Schnecken sind Natur, denkt er. Was können sie dafür, dass sie existieren? Mit einer kleinen Blechschaufel, die ein Kind in der Kleingartenanlage verloren hat, sammelt er die Nacktschnecken ein, schüttelt sie in eine Frischhaltebox, sucht nach Weinbergschnecken, groß und fett und markanter als die Nacktschnecken, füllt sie in eine andere Box und trägt sie zu einer kleinen Wiese, die außerhalb der Anlage liegt und seltsamerweise noch nicht als Baugrund ausgewiesen wurde. Sie werden wieder zurückfinden, die Schnecken, aber dafür brauchen sie viel Zeit. Das ist der ewige Kreislauf. So lange sie auf dem Weg mit ihrer Schleimspur sind, fressen sie seine Pflanzen nicht an. Und wenn sie doch früher zurückgefunden haben sollten, als er es berechnet hat, dann wird er sie wieder einsammeln und auf die Wiese zurücktragen. Den Weg in seinen Garten kennen sie dann schon. Und einige werden von den Igeln gefressen werden. Alles ist gut so.

Viele Nachbarn haben Insektenhotels aufgestellt, Bretterquadrate mit Bohrlöchern und Höhlen – die Wildbienen mögen das angeblich und auch die Holz- und Schlupfwespen. Ganz anders verhalten sich die Honigbienen, die von Blüte zu Blüte fliegen. Schwerarbeiter sind sie, und können oft kaum noch in ihren Bienenstock heimfinden, so sehr torkeln sie abends, wenn es kühl wird, mit ihrer Pollenlast nach Hause. Aber der Mann hat diese vermeintlich insektenfreundlichen Installationen aufmerksam untersucht. Sie alle schienen ihm unberührt von den Insekten zu sein. Sie haben ihre eigene Ordnung, denkt er, weshalb sollten sie diese Miniaturarchitekturen der Menschen annehmen? Jeder unregelmäßig aufgeschichtete Holzstoß ist ihnen lieber, er duftet nach Harz und Fichtenblüten, in den Rinden ist Platz, sich gegen Regen, Kälte und zu starke Sonneneinstrahlung zu schützen. Das hindert die Gartenfreunde im Kleingarten-Verein Amicitia Salzburg aber nicht daran, unter den Insekten-Hotels kleine Holzschilder anzubringen, die sie als nachhaltig und biologisch wertvoll ausweisen.

In diesem Jahr, so sieht es der Mann, haben sich die Primeln außerhalb seines Kleingartens, direkt am Zaun zur Teufelsgasse, weiter ausgebreitet. Auch die unterirdischen Netzwerke der Maiglöckchen haben ihn überlistet. Sie tragen die Farben des Gartens nach außen an den Wegrand. Eigentlich ist das nicht erlaubt. Vor wenigen Jahren wurde dies von der Aufsicht beanstandet; was draußen in den Kiesweg hineinwuchs, musste entfernt werden. Wo kämen wir denn hin, wenn das alle zulassen würden? Die Wege, die Gassen und Straßen der Gartenanlage glichen pflanzen- und keimfreien Zugängen zu den Parzellen. Selbst Zigarettenkippen, die in der Nähe eines Gartens gefunden wurden, musste der Kleingärtner einsammeln und in die Mülltonnen werfen. Bisher aber hatte sich niemand an den Primeln und den Maiglöckchen-Blättern gestoßen, die Zeiten waren anders und mit ihnen wurden die Regeln großzügiger als früher und weniger beachtet. Jede Blüte galt, wenn es sich nicht gerade um Geranien handelte, die für Nektar suchende Insekten nichts anboten, als besonders wertvoll. Mit dem Insektensterben durfte es ja nicht wie bisher weitergehen. In Bayern drüben hatte es die Initiative »Rettet die Bienen« sogar geschafft, dass ihre Forderungen in einen Gesetzentwurf der Staatsregierung aufgenommen worden waren: die Politik überholte das Bürgerengagement, adaptierte die Forderungen, setzte noch eins drauf und der Landtag stimmte dem Gesetzentwurf der Regierung zu. Man wusste dort sehr genau, woher der Wind bläst und wie er steht.

Der Mann weiß, dass zum Gießen das Wasser aus der Leitung zu hart ist. Mehrfach hat er die Werte gemessen und notiert. Eines Tages kaufte er einen Kunststofftank für Regenwasser, der einen Hektoliter fasste, montierte ihn hinter seiner Holzhütte, und legte von der Dachrinne der Hütte einen Ablauf direkt in den Tank. Seine Pflanzen gießt er seitdem mit dem weichen Regenwasser, das vor allem seinen Kakteen guttut. Einen Steingarten wie manche seiner Nachbarn hat er für seine Sukkulenten im Garten nicht angelegt. Im Humus Steine dafür aufzuhäufen und Kies aufzuschütten erscheint ihm pervers. Aber sollen die Nachbarn doch machen, was ihnen gefällt. Ihn stört das bis heute nicht.

Er schneidet überlange Triebe in der Hecke zurück, lüftet die Wurzelstöcke der Sommerfliederbüsche, die später ganze Heerscharen von Schmetterlingen anziehen, darunter Tagpfauenaugen und Admirale, Bläulinge und Kohlweißlinge, dann auch die Zitronenfalter und – wenn die Dämmerung kommt – die Flügelwesen der Nachtfalter: behaarte große und mottenähnliche kleine Insekten, die die Saugplätze der Tagesschmetterlinge einnehmen. Der Mann schaut dem Wechsel gerne zu. Bald ist es wieder so weit, denkt er, aber noch ist der Mai zu kühl.

Der Mann atmet die Morgenluft tief ein, es wird spürbar wärmer. Er hört das metallische Schleifen der O-Busse, die mit ihren Stromabnehmern die Zwischenräume der Oberleitungen an Kreuzungen überspringen müssen, ohne dass die Energiezufuhr unterbrochen wird. Vom Hauptbahnhof her weht das Quietschen von Eisenbahn-Waggons herüber, abgehackt sind – wie der Mann glaubt – Zwischentöne der Lautsprecheransagen von dort drüben zu hören. Die Stadt ist aufgewacht, sie lebt. Und nachher schieben sich wieder die Massen durch die Getreidegasse. Der Glockenschlag der Andräkirche bleibt verlässlich, nicht in seiner Gänze, aber im Stakkato einzelner Schläge dringt er bis in die Kleingartenanlage hinein. Es zieht ihn nicht in die Altstadt. Nicht mehr. Er fühlt sich als Fremder in den Gruppen der Touristen, die nichts sehen, aber alles fotografieren, um sich später zu Hause darüber zu wundern, was sie nicht in Wirklichkeit gesehen, sondern nur auf dem Screen festgehalten haben.

Es ist gut so, denkt der Mann. Lange genug bin ich dort drüben gesessen, und ich bin jeden Morgen dorthin gegangen, und jeden Abend von dort nach Hause. Tag für Tag. Immer wieder.

Er hat seinen Beruf geliebt. In vielen Jahren hatte er sich ein Selbstbewusstsein erarbeitet, das ihn vor den üblichen Ärgernissen am Arbeitsplatz schützte, ohne seine Freude zu mindern, jeden Morgen gern sein Amt zu betreten und es abends entspannt zu verlassen.

In seiner Jugend hat er sich eine merkwürdige Eigenschaft angewöhnt, sie ließe sich vielleicht sogar als Tick bezeichnen, der sich seit damals intensiviert hatte. Würde er danach gefragt, würde er dies wahrscheinlich sogar zugeben. Er hat sich an seine Eigenart gewöhnt und empfindet sie keineswegs als beunruhigend: Als Jugendlicher besuchte er sonntags den Gottesdienst, nicht weil er es wollte, aber der Kirchgang entsprach der Familientradition. Nicht jeden Sonntag, beileibe nicht, aber immer wieder sonntags, wenn sein Onkel Prediger in der evangelisch-lutherischen Kirche Augsburger Bekenntnisses war. Ihm zuliebe wurde dorthin gegangen, in die kleine Kirche in der Innenstadt, deren Fassade mit der rot-weiß-roten Plakette »Evang.-luth. Kirche A.B.« gekennzeichnet ist, damit jeder weiß, dass hier keine Messen zelebriert werden.

Mit den Predigten seines Onkels, der ganz sicher intellektuell wie seelsorgerlich über große und allgemein von seiner Gemeinde hoch geschätzte Talente verfügte, zudem ein sympathisch-liberaler Theologe war, hatte er als junger Mann wenig anfangen können. Sie waren zu lang. Sie betrafen ihn nicht. Gestik und Mimik des Predigers waren ihm vertraut. Er mochte ja seinen Onkel. Er fühlte sich zu ihm hingezogen, diskutierte auch gerne nach dem Gottesdienst im Pfarrhaus mit ihm, trank seinen ersten Cognac bei einem solchen Gespräch, rauchte auch einmal eine Zigarette dort, als er sechzehn Jahre alt war. Das darfst du jetzt, wenn du nicht süchtig wirst, hatte sein Onkel ihm gesagt. Aber mit den Predigten – das war eine ganz andere Sache.

So hatte der Mann angefangen, in seinem Kopf leere Flächen typografisch zu gestalten, die Umrisse der Fenster nachzuzeichnen und die Fenster zu zählen. Sah er im Fernsehen später die Buchstaben einer Bauchbinde, also die Texteinblendungen mit den Namen und Funktionen der jeweils auf dem Bildschirm gerade präsenten Personen, stichelte er die Zeichen wie bei einer Radierung nach. Leere Felder musste er mit seinen Linien bebildern. Niemand merkte dies, aber ihm wurde das Zuhören der Predigt und der Liturgie leichter, weil er in andere Linien- und Formstrukturen auswich. So war in ihm die Begabung gewachsen, die Choreografie jeder Bewegung im Raum vorzuzeichnen und darüber zu staunen, dass es so viele Menschen gab, die sich in den Räumen auf falschen Linien bewegten: uninspiriert, bar jeder Eleganz, unempfänglich für jede Harmonie beim Betreten von Plätzen, Straßen und Räumen.

Weil er immer die gleichen Gassen und Straßen gegangen war, morgens und abends, weil ihn die Geschäfte mit ihren Schaufenstern voller Mode und Verzweiflung abstießen (einmal hatte er sich in ein Sakko eines italienischen Markenherstellers verguckt, er hatte den Laden betreten und im ersten Stock das Sakko sofort gefunden, aber im Neonlicht des Ladens war die Schönheit der Jacke verschwunden), begann er, bestimmte Autotypen auf seinem Weg zu zählen. Heute Range Rover, 4 Stück. Morgen Fiat 500. 16 Stück. Volkswagen aller Wagentypen: 35. BMW: 12. Mercedes: 8. Als ihn das zu langweilen begann, zählte er Motorroller. Rote. Violette. Schwarze. Weiße. Metallisch-blaue. Da kam er auch auf stattliche Zahlen. Als ihn diese Zählerei nervte, leitete er seine akribische Beobachtungslust aufTrachtenhüte um. Die hohe Dichte an Trachtenhüten in der Innenstadt überanstrengte ihn fast. Grüne Hutbänder, rote Borten, Abzeichen, Edelweiß, Gamsbart, Pfauenfeder (nicht nur bei den Damen), Veteranenauszeichnungen, Jagdverbandsinsignien, Hirschhornovale, Bergführer-Embleme, Silbernadeln mit den Namen von Berggipfeln, Almhütten-Souvenirs. Als merkwürdig hatte es der Mann damals empfunden, dass der Salzburg-Verächter und an Salzburg leidende Thomas Bernhard in seinem Ohlsdorfer Vierseithof auch über solche rustikalen Kopfbedeckungen verfügte. Breite Krempen, vorne oft hochgerollt, hinten den Hals bedeckend, Schlapphüte filzschwer, als stammten sie aus dem Nachlass von Luis Trenker. Der Mann sah alles. Und er versuchte, die Trachtenhutdichte in der Innenstadt pro zehn Quadratmeter zu errechnen.

Später, und das war nicht so anstrengend, zählte der Mann die Autos nach Farben. Er wusste mehr über die Vorlieben potenzieller Autokäufer als so mancher Marktforscher, aber er behielt sein Wissen für sich, andere ging das nichts an. Seit Neuestem zählte er bei den Passanten schwarze Schuhpaare, echte Lederschuhe, weil er braune Schuhe nicht ausstehen konnte. Dunkler Anzug, braune Schuhe. Dunkelblaues Kostüm. Braune Slipper. Es war schrecklich. Aber der Schrecken war zählbar und dadurch zähmbar, und so addierte der Mann, was er sah.

»Guten Morgen! Alles okay?«

Zwei Zäune weiter taucht ein Nachbar auf, der wie der Mann seinen Vormittag im Garten verbringt.

»Bestens!«, sagt der Mann.

Der Nachbar hat einen roten Kopf, ganz ungewöhnlich am Morgen. Das fällt dem Mann sofort auf. Der Nachbar ist aufgeregt.

»Haben Sie gesehen, da ist ein Vermessungstrupp unterwegs! Was wollen die?«

»Ich habe die Orangemänner auch schon gesehen«, sagt der Mann. »Die stehen da schon seit einer Stunde in der Gegend herum. Der eine hält Stangen. Der andere schaut in ein Fernglas auf seinem Stativ. Der Dritte macht sich Notizen auf einem Klemmbrett mit vielen Formularen.«

»Ein ruhiger Job. Und immer an der frischen Luft.«

»Wir sind es auch!«, sagt der Mann.

»Was die da bei uns wollen?«

»Ich glaube, dass sie die Kanalisation neu vermessen. Die ist doch marode. Da werden vielleicht im nächsten Jahr neue Rohre verlegt.«

»Oder der Ausbau des Glasfasernetzes …«, sagte der Nachbar. »Die waren schon bei uns in der Straße.«

»Wir werden sehen«, sagt der Mann.

»Es ist kein gutes Zeichen, wenn die auftauchen!«

»Es wird nicht so heiß gegessen wie gekocht«, sagt der Mann.

»Haben Sie auch so viele Schnecken?«

»Na ja!«, antwortet der Mann. »Es ist wie es ist.«

Der Mönchsberg und der Kapuzinerberg leuchten jetzt frei von Dunst und Nebel im Morgenlicht, ein schmaler goldener Streifen. Es ist wärmer geworden. Die Konturen der Silhouetten von Häusern und Bergen zeichnen sich messerscharf unter dem Himmel ab, wie mit einer Graviernadel in den Horizont geritzt. Nichts lenkt das Morgenlicht ab. Der Himmel sieht ganz frisch aus, der Dunst hat sich verzogen.


Am nächsten Morgen steht der Kleintransporter mit dem gelben Blinklicht wieder vor der Kleingartenanlage des Vereins Amicitia Salzburg. Diesmal vermessen die drei Männer die Seitenlänge des Geländes, später die Rückseite. Wie ein Schwarm von Spatzen verbreitet sich die Nachricht von der Vermessung ihrer kleinen Welten unter den Kleingärtnern. Sie stehen in Gruppen zusammen, manche gestikulieren heftig, andere fassen sich an die Stirn. Einige schweigen.

Der Mann sucht keinen Blickkontakt. Er hält wenig vom Geschnatter der Nachbarn, die ihn an die Gänse auf dem Kapitol in Rom erinnern: Alarm! Alarm! Es ist doch gut möglich, dass der Grundstückseigentümer, die Stadt Salzburg, ihr an den Kleingartenverein verpachtetes Gelände in seinem Umfang neu berechnen lässt. Es gibt ja für Grund und Boden neue Berechnungsmodelle, das trifft jeden Eigentümer, das ist nichts Besonderes.

Zwei Kleingärtner prosten sich mit ihren Flaschen Stiegl-Bier zu. Ihm fällt auf, dass sie so früh am Morgen schon trinken. Bisher hat er das noch nicht beobachtet. Der eine wird laut. Er ballt seine Faust. Der andere klopft ihm auf die Schulter. Abwarten!, kann das bedeuten. Oder: Beruhige Dich! Der Mann versteht die Worte nicht. Draußen blinkt das Gelblicht auf dem Kleintransporter. Der Mann wird jetzt erst einmal die Schnecken einsammeln.

Früher hat es für die Bepflanzung der Gärten strenge Regeln gegeben. Es ist festgelegt gewesen, wie viele Quadratmeter für Blumen und Ziersträucher zu reservieren waren, wie viele für Gemüse und Gewürze und für die Rasenfläche, auf der Kinder spielen konnten, Vogeltränken standen oder Gartenzwerge, hin und wieder auch ein Bambi, eine Gämse oder ein Steinadler, aus einem Kunststoffmaterial gegossen und mit dunklen Farben bemalt. Über allem flatterten die rot-weiß-rote Fahne oder die Flagge Salzburgs. Der Mann bedarf solcher Identitätszeichen nicht. Er weiß doch, wo er lebt und was er liebt. Er braucht keine Fahnen, um Halt zu finden, ein Bekenntnis abzulegen oder einem Feind zu signalisieren, dass hier ein fremdes Territorium beginnt.

Seine Nachbarn weiteten die Rasenflächen aus. Jahr für Jahr vergrößerten sich die kurz geschnittenen grünen Areale, die Nutzflächen wurden immer kleiner. Aber auf dem blütenfreien Rasen stehen jetzt neue Hochbeete, günstig im Baumarkt erhältlich. Schneckensicher. Igelsicher. Schädlingssicher. Von wegen. Der Mann pflückt die ersten Schnecken von den Außenwänden des Hochbeets ab, das er sich schließlich auch, später als die anderen, angeschafft hat. Sie sind nicht zu überlisten. Nach zwei, drei Jahren haben sie oder ihre Nachkommen entdeckt, wie sie die lackierten Holzflächen erklimmen können, ganz langsam, beharrlich. Die getrockneten Schleimspuren glänzen im Morgenlicht. Der Salat ist nicht befallen. Die Kräuter lassen sie in Ruhe. 17 Schnecken zählt der Mann.

Unter den Efeublättern kleben sehr kleine Schnecken mit gelben Häusern. Auch sie können hier nicht bleiben. »Tut mir leid!«, sagt der Mann. Schneckenhaus nach Schneckenhaus löst er aus seiner Verklebung unter dem Efeu. Es sind 43 Stück. Auch heute trägt er die Schnecken in den Frischhalteboxen aus der Kleingartenanlage hinaus. Diese winzigen, knallgelben Schnecken kannte er früher nur als Fundstücke am Strand von Saint Simon im Finistére der Bretagne, am Ende der alten Welt. Stunde um Stunde hatten sie damals die kleinen leeren Schneckenhäuser gesammelt, sie in Glasbehälter eingefüllt, die heute noch in seinem Badezimmer stehen. Souvenirs? Vielleicht. Eher die Materialisierung von glücklichen Augenblicken an den Stränden, das Wasser war kalt, es war Ebbe, und die Zeit verlor sich im Suchen zwischen den Wasserlachen in der steifen Brise vom Atlantik her. Die kleinen und mittleren Steine lassen sich gut umdrehen, und unter ihnen sind Wunderwelten zu entdecken.

Draußen flackert das gelbe Blinklicht. Vielleicht ist für die Fernwärme eine neue Rohrverlegung geplant. So könnte es sein. Das wäre möglich.

Teufelsgasse

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