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Es ist seltsam, wie selektiv die Wahrnehmungen der Menschen sind. Es gibt Leute, die noch nie auf das Getschilpe der Mauersegler geachtet haben, auf ihre rasanten Flugmanöver hoch über der Stadt. Auf ihre in die Wolken gezeichneten Schleifen, ihre Sturzflüge und ihr Sirren voller Lebensfreude. Ihn berührte es, wenn er in den ersten Maitagen noch vereinzelte Mauersegler entdeckte, die aus dem Süden über die Alpen gekommen waren. Jetzt war der Mai wirklich da, und Wolffs Seele spürte Freiheit und grenzenloses Glück. Bald würde sich der Himmel füllen mit den Vögeln, die während des Fluges schlafen können. Aber viele seiner Bekannten hatten sie noch nie wahrgenommen, bevor sie Wolff auf das Getümmel über den Dächern aufmerksam machte. Vielleicht können ältere Menschen die Frequenz der Glücksrufe auch nicht mehr hören.

Es war der 12. Mai, sein Handy zeigte die Uhrzeit an: 8.30 Uhr. München leuchtete an diesem Tag. So blau war der Himmel der nördlichsten Stadt Italiens nur an Föhntagen. Vor dem einstigen Krankenhaus an der Ecke zur Blutenburgstraße blühte der Baum: die linke Hälfte weiß, die rechte Hälfte rosa. Da waren wohl irgendwann Zweige aufgepfropft worden. Ein Baum, zwei Existenzformen. Jedes Jahr wartete Wolff auf dieses kleine Wunder.

Er hatte es nicht eilig, in seine Redaktion zu kommen. Sein Tagesprogramm stand fest: Besprechung mit den Programmassistentinnen, Redaktionskonferenz, Programmplanung mit den Kolleginnen und Kollegen in seiner Redaktion, Honorare für die gestrige Sendung festsetzen und veranlassen, Briefe unterschreiben, die er gestern verfasst und in das Redaktionssekretariat gelegt hatte, damit Kopien für die Ablage gemacht und in den Korrespondenzordnern intern oder extern abgelegt werden konnten. Drüben auf dem Gelände des Augustinerkellers warfen die Kastanienbäume erste Schatten auf Bänke und Tische. Wie so viele aus seinem Sender zur Mittagszeit würde auch er bald in diesem Biergarten sitzen. Für den Nachmittag hatte er, nach der täglichen kurzen Pause in der Kantine, einige Autorengespräche eingeplant. Und wenn sich die Dämmerung von Osten her heranschliche, wollte er sich an sein Manuskript für eine Moderation und einen Kommentar setzen. In dieser blauen Stunde, wenn das Licht heruntergedimmt und ganz weich wurde, während sich das Abendrot in den Westen zurückzog und dem Dunkelblau mit seinen dunstigen Grauschattierungen Platz machte, wenn sich die ersten Leuchtpunkte in der Silhouette der Stadt entzündeten, war Wolff besonders kreativ. Im Hochhaus wurde es stiller, die Telefonanrufe hörten auf. Er hätte aber auch nicht abgehoben, denn Wichtiges erreichte ihn ohnehin über eine im Haus verdeckte und nur seinen Vorgesetzten bekannte Nebenstellennummer. So also hatte Wolff seinen Tag geplant.

Stadteinwärts vor dem Hauptbahnhof leuchteten die Fenster in den 18 Stockwerken des Hochhauses, in dem viele Redaktionen, die Verwaltung, das Historische Archiv und andere Organisationseinheiten untergebracht waren. Wolff dachte an Nicolas Borns Roman »Die Fälschung«. Der Sendemast auf dem Hochhaus war kein Sendemast, sondern eine Empfangsantenne. Der symbolische Akt, ein Funkhaus mit einem Antennenmast auszustatten, schien ihm aber zum Charakter seiner öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt zu passen. Vor Jahren hatte er seine Kolleginnen und Kollegen des österreichischen Programms »Ö3« besucht. Die Redaktionen waren kreisförmig um die Sendestudios herum angelegt. Alles war transparent. »Sitzungen« fanden im Stehen statt, eindeutig orientiert am Vorbild der französischen Tageszeitung Le Monde. Auch musste am Mikrofon stehen, wer die Sendung moderierte. Die Redaktionen und Sendestudios waren in einem gesichtslosen Industriebau untergebracht, einem Kubus ohne jeden architektonischen Einfall, einem industriellen Zweckbau. Es hätte sich dort genauso gut ein Warenlager befinden können. Funkhäuser aber bedurften laut Wolffs Meinung in ihrer Architektur repräsentativer Signale. Da macht es ja nichts, dachte Wolff, wenn diese Signale eine Attrappe sind. Auf dem Dach eines Fernsehgebäudes in Berlin, gleich gegenüber dem alten Funkturm auf dem Messegelände, thronte ein Baukörper, der dem Tower eines Flughafens glich. Funkhäuser sollten sich nicht verstecken.

In den Sendestudios galt das Prinzip des Funktionalen: man konnte stehen oder sitzen, die Ablage für die Manuskripte konnte herunter- und hinaufgekurbelt werden. Mobilität war angesagt. Dynamik. Tempo. Die Bearbeitungszeit zwischen Input und Output der Informationen wurde immer kürzer. Niemand konnte sich dieser Entwicklung widersetzen, und die Sprache in Berichterstattung und Moderation wurde flüchtiger, fehlerhafter, gewöhnlicher, hin und wieder sogar infantil. Als würden sich Kinder beschweren: »Der Bundespräsident, der hat dies und das gesagt. Die Bundeskanzlerin, die hat … Mein Kollege war in Paris. Der hat dort …« Es wurde wenig Mühe darauf verwendet, originell und sorgfältig zu formulieren. Dieses Manko, dachte Wolff, wurde durch eine betriebsame Heiterkeit am Mikrofon überspielt, vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein. Das System macht high, dachte er. Vor allem die Moderatorinnen und Moderatoren der Morgenmagazine wirkten, als hätten sie sich gedopt. Er mochte das nicht. In den Verkehrsmeldungen wurde nicht mehr vor Pannenfahrzeugen auf einer Fahrspur der Autobahn gewarnt, sondern vor kaputten LKW.

Wolff hatte sich früher oft über die monatlichen Analysen eines vom Intendanten beauftragten Sprachpflegers in seinem Sender geärgert, der grammatikalisch stets korrekt Fehler katalogisierte und kommentierte, dabei aber nie Rücksicht auf die Umstände nahm, unter denen solche Livesendungen entstanden und ausgestrahlt wurden. Jetzt war Wolff selbst zum Beobachter der sprachlichen Trivialisierung geworden. Das war ihm unangenehm. Er verstand sich ja nicht als ewig Gestriger. Wenn er Kollegen traf, die längst im Ruhestand waren, hörte er sich ihre Klagen über die Verwahrlosung der Sprache am Mikrofon an und musste dabei lächeln.

Er nahm sich vor, heiter in den Arbeitstag zu gehen. Seinen morgendlichen Cappuccino hatte er wie so oft in einer seiner beiden Cappuccino-Oasen genossen. In München-Gern gab es einen Kaffee-, Wein- und Süßwarenladen, der sich finanziell nicht rechnete; sein Besitzer, von den Stammgästen liebevoll »der Philosoph« genannt, hatte mehr Interesse daran, in seiner Ruhestandszeit einen Ort für Kommunikation und Nachbarschaft anzubieten, als Profit zu erwirtschaften. Sein Laden glich einer Schatzkammer: übereinandergestapelte Kartons mit Waren, tiefhängende Tiffany-Leuchten, ein Regal, gefüllt mit Behältern für die unterschiedlichen Kaffeebohnen-Sorten, ein schmaler Tresen, meist vollgestellt mit Gläsern, Flaschen und Tassen. Man traf sich in einem Zeltvorbau, der bis nachts für Freunde geöffnet war, weil er auf privatem Grund lag. Und der Philosoph hatte Freunde, die ihm seit Jahren, manche seit Jahrzehnten, treu geblieben waren: einen Antiquitätenhändler, einen Versicherungsmakler, einen Klavierbauer, eine Bankerin, eine Journalistin, den Inhaber eines großen Sportartikelgeschäfts, einen ehemaligen leitenden Beamten des Personenschutzes für hohe Politiker, Anwälte, Ärzte und Menschen aus der Nachbarschaft. Auf der Terrasse kamen sie zusammen, über ihnen hingen Weinranken, die der Philosoph sorgfältig gepflanzt, beschnitten und gepflegt hatte. Nur die Buchsbäume waren von dem sich in den letzten Jahren massenhaft verbreitenden Zünsler vernichtet worden. Wolff saß, wann immer er Zeit hatte, beim Philosophen. Oft schwiegen beide, wenn sie allein waren. Ohne seinen breitkrempigen Hut hatte Wolff den Philosophen noch nie gesehen.

Die andere Cappuccino- und Wein-Oase lag am Kurfürstenplatz in Schwabing. Ein Laden, der nur exquisite Waren verkaufte, Nudeln aus Italien, Gewürze, Öl, Essig,

Cantuccini und anderes Gebäck, Schinken und Käse aus Parma und den Marken, und natürlich Weine, deren Hersteller der Ladeninhaber mehrmals im Jahr besuchte. Er kannte die Familien der Winzer und deren Geschichten, ihren Alltag wie ihre Rituale, ihre Rezepte und ihre Weinkeller. Es gab in den Regalen erlesene Rosé-Weine und Spumante Brut.

Wolff hatte sich im Lauf der letzten Jahre mit dem Ladeninhaber angefreundet. Man siezte sich und kam sich doch näher durch den Austausch von Buchempfehlungen, schließlich auch durch die gegenseitige Leihgabe von Kriminalromanen. Wolff besaß eine umfangreiche Bibliothek an Krimis. Anders als den Geschäftsmann interessierte ihn weniger die Action- und Thriller-Technik von Romanen als das Milieu, in dem das alltägliche Böse stattfand: in der Normandie, in der Provence, in Triest, in Venedig, in Spanien und in Schweden. Nur die Fülle an Regionalkrimis, fast ständig in den Bestseller-Listen, faszinierte ihn recht wenig: Käsespätzle-Narrative zum Beispiel befremdeten ihn. Sie waren ihm zu spießig. Wolff fuhr oft nach Schwabing, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte, aber er schaute gern im Weinladen vorbei, kaufte hin und wieder mehrere Flaschen aus ökologischem Anbau in den Abruzzen, und wenn er zahlte, tippte sein Krimipartner den Endbetrag für Cappuccino und Wein automatisch ein. Wolff brachte die grünen Tragetaschen aus Papier regelmäßig zurück. »Sie müssen ja sparen«, sagte er, und »ich will die Tüten nicht wegwerfen«. Auch so kann Sympathie entstehen.

In der Weihnachtszeit wurde der Olivenbaum im Laden mit goldenen Kugeln geschmückt, später gab es auch Leuchtsterne an der Decke des Ladens, in dem der Inhaber tagsüber auch kleine Gerichte anbot. In den Regalen standen Flaschen mit signifikant gestaffelten Preisen; in den Holzkisten lagerten Weine, die sich Wolff nicht leisten konnte und auch nicht wollte.

Als Wolff, der sich nur Al nannte, weil ihn sein Vorname Alfred an den Nazi-Propagandisten Alfred Rosenberg erinnerte, weiter Richtung Funkhaus schlenderte, erschrak er. Diesem Maimorgen fehlte etwas. Wie hatte er das bisher gar nicht bemerken können? Diesem Maimorgen fehlte etwas ganz Entscheidendes. Am Himmel fehlten die Mauersegler. Wolff blieb abrupt stehen und suchte den Himmel über ihm sorgfältig ab. Nein, kein einziger Mauersegler war zu sehen, nirgends Getschilpe, kein Vogel schwirrte über den Dächern Münchens. Wie ein Schmerz durchzuckte ihn diese Leere am Himmel.

Wolff ging seit mehr als dreißig Jahren gerne in das Funkhaus. Früher war er mit seinem Auto gekommen, schließlich hatte er in der Tiefgarage einen reservierten Platz. Eines Morgens, er war nicht mehr weit entfernt vom Senderareal Richtung Tiefgarage, war die Straße stadteinwärts gesperrt. Feuerwehr, Polizei. Blaulichter. Auf dem Pflaster lag, unter Planen verborgen, ein Mensch. Er musste aus dem Fenster im siebten Stock des Studiobaus gesprungen sein. Grundsätzlich waren die Fenster im Studiobau nicht zu öffnen, aber eines stand offen. Tage später erfuhr Wolff, dass ein beliebter, immer gut gelaunter Archivar kurze Zeit nach seiner Ruhestandsversetzung in das Haus zurückgekehrt war, sich zu den WCs begeben, mit einem Nachschlüssel das Fenster geöffnet und sich von der Fensterbank einfach nach draußen hatte fallen lassen. Wolff hatte des Öfteren mit ihm zu tun gehabt und seinen pragmatischen Humor sehr geschätzt. Seit diesem Tag mied er diese Straße.

Guten Morgen. Guten Morgen. Wolff nickte den Kolleginnen am Empfang zu. Sie grüßten ihn freundlich zurück. Mit dem Aufzug fuhr er aufwärts in den 13. Stock des Hochhauses. Der Filterkaffee war schon aufgebrüht. Nichts sollte jetzt sein Morgenritual stören: die Sichtung der Post, die schnelle Lektüre der Leitartikel und Titelseiten von sechs Tageszeitungen, das Öffnen der eingegangenen Mails, der Bericht seiner beiden Programmassistentinnen über Terminverschiebungen und die Liste von internen wie externen Anrufen. Er hatte nicht mehr viel Zeit bis zum Beginn der Redaktionskonferenz um 10.30 Uhr.

Meist nahmen zwanzig bis dreißig Kolleginnen und Kollegen an der Konferenz teil, bei dünner Nachrichtenlage oder in Urlaubszeiten auch weniger. Vertreten waren alle Hörfunkprogramme und die meisten Redaktionen des Hörfunks. Man saß um einen überdimensionierten runden Tisch, der seit Jahrzehnten hier stand, so wie seit Jahrzehnten Originallithographien von Oskar Kokoschka an den Wänden des Sitzungszimmers hingen. Damals mussten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten noch Kunstwerke erwerben. Diese gesetzliche Auflage entsprach dem gesellschaftlichen und kulturellen Auftrag für Anstalten des öffentlichen Rechts. Wolff würde in einer Viertelstunde wieder auf der gepolsterten Fensterbank sitzen, leicht erhöht, so hatte er einen besseren Überblick über die Runde. Er mochte es nicht, wenn jemand hinter ihm saß. Er spürte dann die Blicke in seinem Nacken und sie irritierten ihn.

Da war es besser, selbst in der zweiten Reihe zu sitzen. Das Tageslicht hellte die Gesichter der anderen auf, sein Gesicht blieb im Schatten. Jahrzehnte schon saß er hier, er hatte Kolleginnen und Kollegen aus nahezu allen Redaktionen kommen und gehen sehen. Als in Griechenland die Obristen ihre Militärdiktatur eingerichtet hatten und das Land terrorisierten, beobachtete er einen griechischen Kollegen, der mit seinem Redaktionsteam die griechischen Sendungen des Ausländerprogramms gestaltete. Der Kollege wirkte stets gehetzt, immer auf dem Sprung, ein elegant gekleideter, gutaussehender Mann in den besten Jahren, blass im Gesicht. Hatte er, später als die anderen zur Konferenz gekommen, seine Themen für die Abendsendungen vorgestellt, eilte er auch schon wieder davon. Das griechische Regime hatte in ihm einen Feind erkannt, den es zu bekämpfen galt. Er war in höchstem Maß gefährdet. Nicht allen Beobachtern in Bayern gefiel, wie der Grieche ein Oppositionsradio gegen das Militärregime im öffentlich-rechtlichen Rundfunk betrieb. So hatte er an vielen Fronten gekämpft, gelegentlich auch im eigenen Sender: nicht militärisch gedacht, sondern im Sinn einer zivilen Courage. Wolff und der Grieche hatten sich immer sehr geschätzt, sie hatten ihren Draht zueinander gefunden, auch wenn sie sich meist nur flüchtig im Funkhaus begegnet waren. Er hatte doch tatsächlich dessen Namen vergessen.

Wolff wusste nicht, weshalb ihm gerade jetzt diese Geschichten einfielen.

Viele Jahre später, längst war der Spuk des Militärregimes beendet und sein Kollege wieder zurück in Griechenland, war er an einem Morgen vor seiner Haustüre in Athen erschossen worden. Wolff hatte diese Nachricht wie ein Blitz getroffen.

Er holte sich im Vorzimmer eine frische Tasse Kaffee.

Er erinnerte sich an andere Ereignisse in der Redaktionskonferenz. Damals hatte es eine sehr eigenartige, wenig praktizierte Tradition gegeben: Wenn ein besonderes Bonmot von einem der Teilnehmer in die Runde geschleudert wurde, reaktionsschnell und treffsicher, legte jeder einen Pfennig auf den Tisch vor dem Urheber: eine ehrenvolle Anerkennung seiner Schlagfertigkeit. Als er die Themen seiner Jugendredaktion vorgetragen hatte und sie gegen Einwände aus der Runde verteidigte, zischte der Chefredakteur ihm ein »Ihren Kopf möchte ich nicht haben!« entgegen, woraufhin Wolff wie aus der Pistole geschossen, ohne eine Sekunde nachzudenken, zurückgab: »Mut zur Schlichtheit, Herr Kollege!«. Das hatte ihm 34 Pfennige eingebracht.

Als unter dem Vorgänger des Chefredakteurs ein Disput mit dem Hörfunkdirektor darüber entstanden war, ob unter die deutsche Vergangenheit ein Schlussstrich gezogen werden müsse, um nicht ewig über die deutsche Schuld zu lamentieren, entwickelte sich daraus ein heftiger Streit am runden Tisch. Und als sich Direktor und Chefredakteur in immer eisigerem Ton ineinander verhakten, sagte der Chefredakteur plötzlich ganz leise: »Sie waren damals in der Legion Condor, ich in London im Widerstand.« Das war alles. Die Diskussion erstarb. Er stand auf, und mit ihm erhoben sich alle Kolleginnen und Kollegen und verließen den Raum.

Oder als ein freiberuflich tätiger Musikmoderator der Jugendredaktion in seiner Clubsendung einen Musiker mit seinem neuen Song »I am drinking my own sperm« vorstellte und ihn fragte »You did it?« und der ihm geantwortet hatte »I did it, truely!« war am Tag nach der Sendung die Hölle los gewesen in der Redaktionskonferenz. Alle diskutierten über Pornographie und Ethik, die Verantwortungslosigkeit der Redaktion und ihren öffentlich-rechtlichen Programmauftrag, bis der Chefredakteur ganz lakonisch in die Runde blickte: »Wer noch nie onaniert hat, hebe bitte seinen Arm.« Die Diskussion war beendet.

Niemand wusste, was sich in einer kommenden Redaktionskonferenz ereignen würde. Wolff bereitete sich deshalb immer sorgfältig auf diese halbe Stunde vor und überlegte sich, welche Widerstände gegen sensible Themen aus den von ihm geleiteten Redaktionen kommen könnten und wie er den Vorbehalten begegnen konnte. Fiel ihm kein gutes Argument ein, bat er die Redaktion, das Thema noch zurückzustellen.

Sein Telefon mit der verdeckten Nummer klingelte. Hörfunkdirektion. Guten Morgen Al, ich verbinde dich mit dem Chef: »Wir sitzen gerade zusammen«, teilte der Chef ihm mit leicht zitternder Stimme mit, wir haben eben beschlossen, dass du den Nachruf verfassen wirst. Du kanntest ihn gut, und du schaffst es, den Beitrag schnell bis zur Mittagssendung zu schreiben.

»Worum geht es?«, fragte Wolff. »Wovon sprichst du?«.

»Steiger ist tot.«

»Steiger? Was?«

»Ja! Er wurde heute Morgen tot in Salzburg vor seiner Zweitwohnung aufgefunden.«

»Mehr ist nicht bekannt?«

»Nein. Bis jetzt nicht. Also. Du schreibst? Okay? Ich lese dein Manuskript nachher dann gegen. Um 11.50 Uhr musst du den Nachruf sprechen. Du kannst ihn aber auch live in der Sendung lesen.«

»Okay!«, sagte Wolff, »ich schaue mal, wie ich klarkomme«. Er legte auf.

Innerhalb weniger Sekunden war seine Tagesplanung weggefegt. Steiger? Undenkbar. Das kann nicht wahr sein. Die Nachrichten haben nichts gemeldet.

Mich hat vorher auch niemand zu erreichen versucht. Steiger? Wahnsinn. Wolff schaute aus dem Fenster. Aber er konnte nichts erkennen. Ein paar Minuten saß er so, und er sah nicht, dass ein großer Raubvogel und eine Krähe einen Luftkampf in großer Höhe führten. Immer wieder stieß die Krähe von unten gegen den größeren Gegner vor, umkreiste ihn, stürzte sich auf ihn, bis der Raubvogel erst zögernd, dann endgültig abdrehte. Aber Wolff sah nichts. Er sah auch nicht, dass weit oberhalb des Zweikampfs der beiden Vögel ein vereinzelter Mauersegler in Ellipsen den Fönhimmel über München durchschnitt. Endlich, endlich war ein Mauersegler zurückgekommen. Anfang August würde er wieder in den Süden Europas aufbrechen oder nach Afrika.

Teufelsgasse

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