Читать книгу Gailana und die frommen Männer - Christoph Pitz - Страница 8

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„So hab doch ein Einsehen, Bruder Kilian. Mich schmerzen die Füße, ich muss rasten.“ Der etwas untersetzte, schwer atmende Totnan ließ sich auf einem der großen Findlinge nieder, wie sie im trockenen Gras dieser Hochebene überall aus der Erde heraustraten, ließ auch seinen knorrigen Wanderstab zu Boden fallen und rieb sich die nackten, wunden Füße.

„Ich vermag keinen Schritt mehr zu tun. Lasst uns doch für heute rasch den Platz für ein Lager suchen und ein wärmendes Feuer anfachen. Hier oben friert der Wind einem noch das Gemächt ein.“

Kilian, der mit entschlossenen Schritten zu dem zurückbleibenden Gefährten getreten war, traktierte diesen mit seinem Stab.

„Nicht schon wieder, du kleingläubiger Taugenichts. Steh schon auf und schreite aus. Lass es nun aber gefällige Schritte werden, die Kolonat und mir zu folgen vermögen. Nimm dir ein Beispiel an ihm. Er trägt schwerer als du und beklagt sich nicht.“

Totnan hob seinen Wanderstock auf und stemmte sich daran auf die Beine. „Das ist ja gar nicht wahr. Er trägt an seinem Körper nur das halbe Gewicht.“

Kolonat grinste und gab sich besonders leichtfüßig. „Das liegt daran, dass ich nur die Hälfte von dem esse, was du in dich hineinschlingst, und auch den geistigen Getränken nicht so zuspreche.“

„Na warte, dich werd‘ ich lehren …“

„Hört auf damit, Brüder“, fuhr Kilian energisch zwischen die Neckerei, „nutzt euren Atem, um euch die Psalmen zu lehren. Ihr vergesst sie immer wieder.“

„Ja Bruder“, erwiderten die Jüngeren in kleinlauter Eintracht, denn solcherlei Momente hatten sie auf ihrer langen Wanderung schon viele erlebt, „Psalm 42. Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir …“

„Im Lateinischen sollt ihr deklamieren, im Lateinischen!“

„Quemadmodum desiderat cervus ad fontes aquarum ita desiderat anima mea ad te Deus …”

So schritten Totnan und Kolonat im monotonen Rhythmus ihrer Rezitationen über das trockene, steindurchsetzte Gras einher, zwischen dem nur vereinzelt bereits frisch aufkeimenden Grün, das den herannahenden Frühling erahnen ließ. Kilian, der deutlich ältere Anführer ihrer kleinen Gruppe schwieg unterdessen und studierte dafür mit scharfem Blick ein ums andere Mal die Markierungen der Landschaft.

Es waren nun schon viele Monate vergangen, seit sie gemeinsam aus ihrem irischen Heimatkloster Aghagower aufgebrochen waren. Der Bischof selbst hatte ihnen in der Nachfolge des heiligen Patrick den Auftrag zur heiligen Mission erteilt. Nachdem sie zunächst beinahe die ganze irische Insel durchwandert hatten, setzten sie mit einem Schiff in die Lande der Angelsachsen über und von dort in einer stürmischen Seefahrt wiederum auf das Festland nach Neustrien in das Reich der fränkischen Herrscher. Während dieser Zeit hatten sie bescheiden von der Mildtätigkeit der Klöster oder christlicher Herren gelebt, bei denen sie Aufnahme fanden. Kilian führte einen Missionsbrief mit sich, welcher ihnen die Türen der Gastfreundschaft geöffnet hatte. So war die Reise zwar beschwerlich gewesen, aber nie hatten sie Not leiden müssen. Auch nicht im Reich der Franken. Überall fanden sie ein Dach über dem Kopf und eines Tages waren sie gar von einem sehr feinen Edlen empfangen worden, über den Totnan und Kolonat nur hörten, dass er zwar kein König sei, aber doch der mächtigste Mann der irdischen Welt. Mit diesem Pippin1 hatte Kilian sich allein und mehrere Male besprochen.

Schließlich wanderten sie weiter nach Osten. Ihr Ziel sei nun die Mission in Austrasien hatte Kilian gesagt. Anfangs war es wie zuvor, sie fanden gütige Aufnahme in Klöstern oder bei freundlichen Herren ihres Glaubens. Dann aber wurden die Aufnahme und die Güte seltener und hörten schließlich zur Gänze auf. Immer weiter in Richtung Osten. Das Land ihrer Wanderung wurde mehr und mehr altgläubig und rauer. Beschwernis um Beschwernis stellte sich ein, bis sie gar anfingen Hunger zu leiden und insbesondere Totnan darunter litt. Kilian hingegen, ihr geistiger wie auch weltlicher Anführer, zeigte weder äußerlich noch innerlich die geringsten Spuren der Verwahrlosung, worüber seine Begleiter von Tag zu Tag mehr und mehr in Erstaunen gerieten. Ihre Kleidung verschliss, ihre Körper wiesen Blasen und Schrammen des ewigen Wanderns auf, ja sie hatten längst auch schon begonnen zu stinken. Nur Kilian sah noch immer aus wie am Tag des Beginns ihrer Mission. Fein, ordentlich, sauber, rasiert, frisch und wohlriechend. Er war den jungen Männern in seiner Begleitung während des Weges ihrer Reise ein wenig unheimlich geworden.

Totnan und Kolonat kannten sich schon, seit sie gerade einmal heranwachsende Knaben gewesen waren. Beide waren sie Nachgeborene von Viehhirten aus benachbarten Dörfern in der unmittelbaren Umgebung des Klosters Aghagower. Das Leben der Menschen ihrer Heimat war ein hartes, arbeitsames, entbehrungsreiches, aber doch ebenso auch ein gottgefälliges und gütiges. Die Landschaft und ihre Gaben ein Abbild des Garten Eden, wenn nicht gar der Ort des einstigen Paradieses selbst. Das Auskommen der Väter reichte für ein Erbe an mehrere Söhne nicht aus. Deshalb war es ein großes Glück gewesen, dass sie in dem altehrwürdigen, von dem heiligen Patricius selbst gegründeten Kloster Aufnahme gefunden hatten.

Kilian hingegen wies eine andere Geschichte auf. Ein ganz Edler soll er gewesen sein, hatten Totnan und Kolonat gehört. Vor seinem Eintritt in die Gemeinschaft des Ordens. Angeblich sei ihm fern ihrer Heimat und des Klosters Herrschaft und Macht bestimmt gewesen, bevor er sich in die Frau eines anderen verliebt habe. Dieser soll dagegen Klage beim Bischof geführt haben und dafür von Kilian erschlagen worden sein. Kilian habe seine Tat sogleich bitter bereut und die Verführung durch das Weib als verderblichen Grund seines Handelns genannt. Daraufhin habe der Bischof ihn für immer in die Ferne verbannt und zur Reue ein bußfertiges Leben aufgegeben, das Kilian wiederum versprach. Wahrheit oder Legende, die Begleiter des mysteriösen Mannes wussten es nicht. Kilian selbst hüllte seine Vergangenheit auch nach vielen Monaten der gemeinsamen Wanderung in Schweigen.

„Bruder …“, versuchte es diesmal Kolonat nach einer weiteren Weile des gehorsam deklamierenden Ausschreitens, die Nachmittagssonne sank immer schneller, „bist du dir wirklich gewiss über das Ziel unserer Mission? Viele Orte des Alten Glaubens in dieser Welt haben wir nun schon besucht. Aber du willst ein Virdisthaurp am äußeren Rand dieses Frankenreiches finden, das wir wohl schon seit Tagen verlassen haben. So lass uns doch umkehren und denen das Wort Gottes verkünden, von denen wir schon wissen, dass sie es als Heiden noch nicht gehört haben.“

„Virdistat, Kolonat, es heißt Virdistat. Und wir sind da, wir haben das Ziel unserer Mission erreicht. Seht selbst.“

Kilian war stehen geblieben. Gerade gelangten sie an eine Landkuppe, bei der die Ebene unvermittelt und steil in ein tiefes Flusstal hinab abfiel, das sich weithin sichtbar in mehreren Biegungen mit fantastischen Einschnitten, Felsformationen und farbigen Spielerein der Landschaft öffnete. Wenn die Wandernden es nicht besser gewusst hätten, so wären sie dem Glauben erlegen, ein Stück der irischen Heimat vor sich zu finden. Deutlich zu sehen zwischen zwei Windungen des mächtig dahinfließenden Stromes waren Siedlungen zu beiden Seiten des Gewässers.

„Hier werden wir für den gleichen Lohn gemeinsam im Weinberg des Herrn sein Werk verrichten.“ Kilian tätschelte behutsam die Weinzöglinge an seiner Seite, die er in einem großen Sack seit ihrem Aufenthalt in Neustrien mit sich führte.

„Bruder, das verstehe ich nicht“, wendete Kolonat ein.

„Du wirst es verstehen. Eines Tages, wenn es soweit ist, verstehst du es. Wir haben unser Ziel erreicht.“

1 Pippin der Mittlere, ca. 681 – 714 als Hausmeier alleiniger Machthaber im Frankenreich. Nicht zu verwechseln mit Pippin dem Jüngeren, dem Vater Karls des Großen.

Gailana und die frommen Männer

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