Читать книгу Schicksalsschlag - Christoph Rickels - Страница 5

PROLOG

Оглавление

Woran denkst Du gerade, Christoph Rickels?

Was geht Dir durch den Kopf, welche Erinnerungen graben sich durch Dein schwer geschädigtes Gehirn?

Bist Du wieder in dieser Disco und fühlst das Adrenalin durch Deinen Körper rauschen?

Hörst Du Dich reden? Spürst Du, wie Deine Zunge, Deine Lip pen, Dein Kehlkopf, Deine Muskeln, Knorpeln, Sehnen, genau das tun, was Du von ihnen verlangst?

Wie Du aufstehst und sich Deine Beine bewegen, exakt, kontrolliert, Dein Organismus ein einziges Schweizer Uhrwerk?

Und wie Du dann, 20 Jahre alt und kerngesund, direkt auf die Katastrophe zusteuerst?

19. Februar 2020. In Raum 3014 des Amtsgerichts Hannover soll heute die Frage geklärt werden, wer schuld daran ist, dass der 22-jährige Tischler-Azubi Aleksei Kreis seit 18 Monaten im Wachkoma liegt.

Christoph holt mich am Hannoveraner Hauptbahnhof ab. Am Vortag war er auf einer Veranstaltung in der Stadt. Rechts und links fliegen die Menschen an ihm vorbei, eilen zum Anschluss Richtung Süden, hetzen zum Termin Richtung Norden. Große Menschen, kleine Menschen, dicke, dünne, schöne, weniger schöne, Versehrte und Unversehrte. Mittendrin Christoph, ruhig, konzentriert, angespannt. Er ist hier, weil er einen Auftrag hat. Das, was gleich in Raum 3014 verhandelt wird, ähnelt auf geradezu frappierende Art und Weise seiner eigenen Geschichte. Eine Geschichte, in der Gewalt (mal wieder) ein Leben zerstört.

Du warst so stolz auf Deinen Körper. Auf Deinen durchtrai nierten Body, geschmeidig, muskulös, voll funktionstüchtig. Ein Foto von damals zeigt einen jungen Gockel mit blondierten Haaren und sonnenstudiogebräunter Haut oben ohne, der lasziv seinen Oberkörper verbiegt, die Arme über dem Kopf verschränkt, damit der Bizeps auch zur Geltung kommt. Flacher Bauch, leicht verklärter Blick, der ganze Typ, gerade volljährig, triefend vor Testosteron.

Der selbstverliebte Poser auf dem Foto, das bist Du. Und auch wieder nicht. Nie im Leben hättest Du damals gedacht, dass es einmal anders werden würde.

Warten im Amtsgericht. Auf den Fall Kreis. Und auf Christophs Kumpel Ricardo Savia, einen früheren Personenschützer, der heute sein Geld mit Selbstverteidigung verdient. Zu dritt passieren wir die Eingangskontrolle. Christoph hat vergessen, dass sich in seiner Jacke noch seine Tierabwehrpistole befindet. Doch Ricardo kennt den Sicherheitsmann, Selbstverteidigungsbuddys unter sich, die Sache mit der Knarre ist schnell geklärt.

Ein paar Amtsgerichtgänge und -türen weiter wartet Raum 3014 auf das nächste menschliche Schicksal, das hier im Sinne der deutschen Rechtsstaatlichkeit behandelt werden soll. Auf dem Flur eine interessante Menschenansammlung. Im Verhandlungssaal stellt sich dann heraus, wer hier welche Rolle besetzt: Ein Redakteur von der Bild-Zeitung, jovial, umtriebig. Daneben sein etwas stämmiger Kollege von RTL, einem Sender, der schon mehrfach über Christoph berichtet hat und dabei nie vergaß, die passende Klaviermusik unter die Nahaufnahme zu legen. Drei Anwälte. Zwei Schöffen. Eine Oberstaatsanwältin. Die beiden Angeklagten. Freunde der Angeklagten. Die Richterin. Und schließlich die Eltern von Aleksei Kreis, dem jungen Mann im Wachkoma, der vielleicht nie erleben wird, wie es wohl ist, alt zu werden. Ein Blick in das Gesicht seiner Mutter reicht, um das ganze Elend dieser Geschichte zu verstehen.

Weißt Du noch, wie Deine Mutter damals an Deinem Bett saß und Dir immer wieder Deinen Song vorspielte, in der Hoffnung, dass die Melodie Dich aus dem Wachkoma befreien würde?

Wie Du beatmet wurdest, weil Du selbst nicht mehr atmen konntest?

Wie Du ernährt wurdest, weil Du Dich selbst nicht mehr ernähren konntest?

Wie die Ärzte versuchten, Deinen Eltern so schonend wie möglich mitzuteilen, dass auch Du vielleicht nie wieder aufwachen würdest?

Ich kann es in Deinen Augen sehen, wie Dich all die bruch stückhaften Erinnerungen überrollen. Erinnerungen an den Christoph vor dieser verhängnisvollen Nacht in der Disco. Den Christoph danach. Die Tat. Den Täter. Die Krankenhäuser. Die Wut, den Hass, die Schamgefühle. Freunde, die zu Fremden wurden. Das große Drama Deines Lebens. Hier, in diesem nüchternen 70-Quadratmeter-Raum, mit den beigen Tischen, den schwarzen Stühlen, den hohen Fenstern und dem Flachbildschirm an der Wand hinter der Richterin, kommt das alles wieder in Dir hoch.

Auf der Anklagebank sitzen zwei junge Männer, gerade 20 Jahre alt, beide in Russland geboren. Der etwas ältere, ein kräftig gebauter Kerl mit breiten Schultern, blondem Bürstenhaarschnitt und etwas zu engem weißen Hemd, ist der Onkel des jüngeren, der sich dazu entschieden hat, lediglich über seinen Anwalt – einem temperamentvoll argumentierenden Mittvierziger mit starkem russischen Akzent – zu kommunizieren.

Die Verhandlung beginnt.

Wir erfahren: Am 2. September 2018 wurde das Opfer Aleksei Kreis vor der Hannoveraner Disco Infinity von mehreren Fausthieben getroffen und schlug anschließend so heftig mit dem Schädel auf den Asphalt auf, dass er sich dabei schwere Hirnschäden zuzog. Die Oberstaatsanwältin zählt die Folgen auf: „Siechtum, Lähmung, geistige Störung. Ohne Aussicht auf Besserung.“

Jetzt erzählt der kräftige Bürstenhaarschnitt seine Version des Abends. Man habe einen Geburtstag begossen. Nur feiern wollen. Das Opfer habe böse rüber geschaut, sei aggressiv geworden. Also sei man vor die Tür gegangen. Und dann sei es Kreis gewesen, der den ersten Schlag gelandet habe.

„Und dann kam der Schlag ihres Neffen?“, fragt die Oberstaatsanwältin.

„Ja. Ist sofort bewusstlos geworden und zu Boden gefallen. Wie ein Baum.“

Wie ein Baum, notiert die Gerichtsschreiberin.

„Wenn mein Mandant gewusst hätte, was an diesem Abend passiert“, erklärt der Verteidiger des Neffen, „wäre er nie in die Disco gegangen. Es tut ihm sehr, sehr leid.“

In den nächsten Stunden werden verschiedene Zeugen vorgeladen, verschiedene Versionen erzählt. Alles dreht sich um die Frage, wer damals wen provozierte und wer zuerst wen angegriffen hat. Für die Eltern des Opfers muss dieser juristische Eiertanz eine Qual sein.

Christoph ist die ganze Zeit hoch konzentriert. Er fragt sich, während man sich mühsam an der Schuldfrage abarbeitet, was in diesem Fall das Beste für alle Beteiligten wäre.

Wie oft hat er sich diese Frage wohl schon selbst gestellt? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage hat er bis heute nicht.

Kurz vor der Mittagspause ruft die Richterin einen jungen Mann in den Zeugenstand, einen Freund des Opfers. Er berichtet. Erinnert sich. Korrigiert sich. Und sagt dazwischen einen Satz, der so wahr ist und gleichzeitig so naiv, dass er all den Irrsinn, der heute verhandelt wird, all die Scheiße, die seinen Kumpel ins Koma beförderte und auch Christoph Rickels zum Krüppel machte, so prägnant zusammenfasst, wie es kein Richter oder Psychologe dieser Welt besser könnte:

„So ist das halt in der Jugend: Da schlägt man sich eben mal.“

Christoph nickt. Frau Kreis weint.

Schicksalsschlag

Подняться наверх