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Kapitel 1 DINIS

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Der letzte Abend Deines Lebens beginnt bei Dirk. Vorglühen für den Abschied. Abschied von Friedeburg, wo es zwar Ortsteile mit Namen „Amerika“ und „Russland“ gibt, aber die große weite Welt doch ganz woanders liegt. Abschied von einem Leben, das für Dich so begrenzt wirkt wie der nahe Knyphauser Wald.

Deshalb willst Du nach Süddeutschland, um dort als Feldjäger bei der Bundeswehr anzufangen. Warum? Weil Du einen Job machen willst, bei dem Du was zu sagen hast. Und weil man für den gehobenen Dienst bei der Polizei mindestens Fachabi braucht und sie Dich als Berufsfachschüler nicht nehmen wollten.

Feldjäger Rickels säuft Wodka-Energy, um auf Touren zu kommen. Heute ist der 28. September 2007, Du bist 20 Jahre jung, der Abend hat nur auf Dich gewartet – und dann ist da noch Lisa.

Lisa ist so heiß. Tolle Figur, volle Lippen, noch volleres Haar. Genau Dein Typ. Dumm nur, dass sie einen Freund hat. Kai, ein Handballer. Noch dümmer, dass Dir das scheißegal ist. Schon seit Wochen schreibst Du ihr über ICQ. Du hast erfolgreich verdrängt, dass Lisa Dir eigentlich schon gesagt hat, dass ihr nur Freunde sein könnt, weil sie Kai nicht verlassen will. Aber so leicht lässt Du Dich nicht abwimmeln.

Letzte Woche kam es in eurer Stammdisco Twister zu einer merkwürdigen Begegnung. Du warst da, Lisa war da, Kai war da. Vor der Toilette hat er Dich angesprochen: „Würdest Du mit Lisa zusammenkommen wollen, wenn die das auch will?“ Blöde Frage. „Ja, das würde ich“, hast Du geantwortet. Und dann habt ihr weitergefeiert, jeder für sich. Friedlich.

Du willst seine Freundin haben, unbedingt. Willst mit Lisa roten Korn trinken. Mit ihr über die Tanzfläche fliegen. Zu „Hips Don’t Lie“ knutschend in der Ecke stehen. Wäre das nicht ein angemessener Abgang für den selbsternannten Obermacker aus Friedeburg?

Red Bull und Wodka fangen an zu wirken. Eigentlich wolltet ihr wieder ins Twister. Aber Lisa ist heute im Dinis, 20 Kilometer weiter westlich. Also auf nach Aurich. Janina ist noch nüchtern, Janina hat ein Auto, Janina kann fahren. Aus dem Radio knallt Musik. Die L34 legt den roten Teppich aus. Rickels, das wird Deine Nacht.

Auf dem Parkplatz vorm Dinis lässt der Bass Deinen Körper vibrieren. Die Türsteher winken euch lässig durch. Du bezahlst, gibt’s Deine Jacke ab, spürst die Hitze der Party. Rotwangige norddeutsche Kleinstadtgesichter. Das Klirren der Gläser. Enge Jeans, hohe Schuhe, zu viel Make-up, der Geruch von Fruchtsekt und Axe Moschus.


Obermacker von Friedeburg: Kurz vor der Tat lässt Christoph noch neue Poser-Fotos fürs Privatarchiv schießen. Sie zeigen einen jungen Mann, der vor lauter Testosteron gar mehr weiß, wohin mit sich.

Da vorne steht sie, am Tresen. Und wenn Du jetzt noch Gewalt über Deinen Körper hättest, würdest Du auch mal woanders hinschauen, als auf ihren perfekt geformten Hintern. Aber Dein Gehirn hat die Kontrolle längst verloren. Also gehst Du zu ihr. Bestellst euch was zu trinken. Machst einen Gag. Genießt ihr Lachen. Und wie auf ihrem Nacken das Licht vom Laser tanzt. Noch einen Drink!

Während ihr so dasteht, kommt einer Deiner Freunde zu Dir. Er will Dich warnen: „Hey, pass auf, ich hab’ den Kai gesehen. Der läuft hier rum und beobachtet euch.“ „Na, dann soll er doch“, rufst Du zurück, „wenn er was will, dann kann er ja kommen.“

Gedächtnisprotokoll von Kai G. vom 29. September 2007

„Am Abend des Vorfalls habe ich mit meinem Bekannten Si mon die Discothek Dinis in Aurich besucht. Christoph Rickels war auch vor Ort. Ich sah ihn bereits von Weitem, habe mir darüber aber keine weiteren Gedanken gemacht. Meine damalige Freundin Lisa war ebenfalls in der Diskothek. Im Laufe des Abends habe ich die beiden, als ich von der Toilette wiederkam, an der Theke sitzen sehen. Ich bin daraufhin zu beiden gegangen, habe sie umarmt und gesagt, dass ich ihnen noch einen schönen Abend wünsche und jetzt losgehen würde. Diese Situation war mir zu viel.“

Was ist dann passiert, Rickels? Wer hat was zu wem gesagt? Hast Du den gehörnten Handballer beleidigt? Hat er Dich beleidigt? Hat er Dich aufgefordert, die Sache vor der Tür zu klären? Und warum, zum Teufel, bist Du nicht einfach sitzen geblieben?

Es ist 1:50 Uhr, als Du aufstehst, um Kai nach draußen zu folgen.

Der schmale Flur in den Eingangsbereich mit der Rolltreppe ist der letzte Gang Deines alten Lebens. Der Typ ist auf 180, aber Du bist kalt wie Eis. Obermacker aus Friedeburg. Kai G. wird später zu Protokoll geben, dass Du ihn auf dem Weg nach draußen beschimpfst. Auf den Bildern der Überwachungskamera sieht man, dass Du offenbar ganz ruhig und entspannt die Disco verlässt. In der nächsten Einstellung kommst Du gerade ins Bild gelaufen, als sich Kai G. zu Dir umdreht. Er will und kann nicht warten, bis ihr beide vor der Tür seid. Blitzartig springt er auf Dich zu.

Sein erster Schlag trifft Dich exakt um 1:51 Uhr.

Der menschliche Körper hat 22 Schädelknochen, 15 davon im Gesicht. Kai G.s Faust, von Eifersucht und Wut beschleunigt, trifft Dich am Kinn, lässt Deine Kieferhöhle brechen und macht Dich bewusstlos. Die Wucht reißt Deinen Körper um 180 Grad herum, ungebremst schlägst Du frontal mit dem Gesicht auf dem harten Fliesenboden auf, sechs weitere Knochen brechen. Blut schießt aus Deiner Nase – und noch viel schlimmer: in Deinen Schädel. Innerhalb von Millisekunden reißen in Deinem Kopf verschiedene Blutgefäße, Hirnwasser tritt aus. Im Schädel gibt es nur sehr wenig Raum für austretende Flüssigkeiten, weshalb Dein Gehirn jetzt anschwillt und eingeklemmt wird. Weil Deine Schädelknochen so heftig gegen Deine Hirnmasse geknallt sind, kommt es zu weiteren Hirnblutungen, die ein schweres Schädel-Hirn-Trauma auslösen.

Kai G. hat keine Ahnung von zerbrochenen Kieferhöhlen und Gehirnquetschungen. Er will Dir bloß die Fresse polieren. Reflexartig verpasst er Dir noch einen weiteren Schlag. Dann haut er ab und lässt Dich liegen. Den jungen Mann, der bis eben noch Christoph Rickels war.

Zeugenvernehmung des Kai S. vom 18. Oktober 2 007

„Ich bin Angestellter der Diskothek Dinis und versah an diesem Abend Aufsicht. Nach der Schlägerei eilte ich sofort zu der liegen den Person. Die lag nach wie vor regungslos am Boden und war nicht ansprechbar. Ich sprach sie an und habe den Puls gefühlt. Bei der Begutachtung stellte ich fest, dass sie heftig am Kopf blutete. Sofort eilte ich in den Diskothekenbereich hinein, um einen Lappen zu holen, damit diese Person etwas gereinigt werden konnte und nicht weiterhin im Blut liegen musste. Des Weiteren habe ich an der Kasse Bescheid gegeben, dass ein Krankenwagen gerufen werden soll. Ich entfernte die Person an einen etwas unauffälligeren Ort und legte sie dort ab. Ich verblieb dort bis zum Eintreffen der Polizei und des Rettungsdienstes.

Auf Nachfrage kann ich noch angeben, dass vor der Tür ein Mädchen stand, welches mir vom Sehen bekannt ist. Dieses sagte immer wieder: ‚Das tut mir leid.‘ Von anderen Schaulustigen brachte ich in Erfahrung, dass dieses Mädchen die Freundin des Schlägers ist.“

Da liegst Du nun, Rickels, kaputt geschlagen auf den Fliesen vor einer Provinzdiskothek, während Dir ein Türsteher Blut aus dem Gesicht wischt. Unverwundbar hast Du Dich gefühlt, als Du heute Abend die Tür zum Dinis aufgestoßen hast. Und doch liegst Du jetzt hier, die Augen halb geöffnet wie ein Betrunkener, der seinen Rausch im Graben ausschläft. Wenn man ganz genau hinhört, kann man Dich sogar schnarchen hören. Aber Du schnarchst nicht. Du röchelst. Wer kann schon ahnen, dass bereits in diesem Moment die ersten Zellen in Deinem Gehirn für immer den Geist aufgeben? Schließlich bist Du schon ein paarmal K. o. gegangen und jedes Mal wieder aufgewacht. Als die Sanitäter kommen, Dich auf eine Trage schnallen und in den Bauch ihres Krankenwagens schieben, schreibt einer Deiner Jungs eine SMS an den Rest Deiner Clique: „Rickels hat aufs Maul bekommen. Ist bewusstlos umgefallen. Fahren jetzt ins Krankenhaus.“

„Typisch Christoph“, schreibt einer zurück, „der ist morgen wieder fit!“

Mit Blaulicht fahren sie Dich in die nahe Ubbo-Emmius-Klinik.

Es ist drei Uhr morgens, als bei Deiner Mutter Gesa das Telefon klingelt.

„Frau Rickels, ihr Sohn ist eine Schlägerei geraten und liegt im Krankenhaus.“

Die erste Reaktion Deiner Mutter: Nicht schon wieder. Erst vor ein paar Monaten bist Du entgegen der klugen Ratschläge Deiner Kumpels mit einem Hollandrad durch eine Halfpipe gefahren. Das Rad kam danach auf die Müllkippe, Du ins Krankenhaus. Gesa muss morgen wieder früh raus, und jetzt soll sie wegen einem blauen Auge mitten in der Nacht nach Aurich fahren?

Wie sehr hat sich Deine Mama in all den Jahren danach gewünscht, dass es wirklich nur ein blaues Auge gewesen wäre. Stattdessen steht sie fassungslos vor Deinem Bett auf der Intensivstation und muss erfahren, dass Du mit einem schweren Polytrauma im Koma liegst. Wie schlimm ist es? Wann wird er wieder aufwachen? Was passiert denn jetzt? Niemand kann Deiner Mutter zu diesem Zeitpunkt genaue Auskunft geben.

Im Wartezimmer ist sie ganz alleine mit ihrer Panik, während Du auf Station 14 schon wieder in die nächste Auseinandersetzung geraten bist. Rickels, wer hat jetzt die dickeren Eier? Du oder der Tod?

Deine Eltern sind schon lange getrennt, aber natürlich ruft Gesa nun Helmut an. Doch Dein Papa hat was getrunken und vermutlich übersteigt es seine Vorstellungskraft, dass Dir wirklich etwas so Schreckliches zugestoßen sein könnte. Draußen hat es zu regnen begonnen, der ewige ostfriesische Wind peitscht das Wasser gegen die Scheiben. Und was in diesen Sekunden von entscheidender Bedeutung ist: Er verhindert, dass der Rettungshubschrauber starten kann, um Dich in die Neurochirurgie des Meppener Ludmillenstifts zu fliegen.

Wenigstens bekommt Deine Mama jetzt Unterstützung. Helmut ist doch noch aufgetaucht, sein Schwager hat ihn gefahren. Weinend stürzt sich Deine Mutter in die Arme ihres Ex-Mannes, und wenn Du jetzt nicht gerade mit dem Tod ringen müsstest, und wenn das hier nicht um vier Uhr morgens im Wartezimmer eines Krankenhauses passieren würde, und wenn es Tränen der Freude und nicht der Panik und nackten Angst wären, dann würde Dir das vermutlich sehr gefallen.

Von der Ubbo-Emmius-Klinik bis ins Ludmillenstift braucht man knapp eine Stunde und 20 Minuten. Mit dem Auto. Zeit, die Du nicht hast. Doch der verdammte Helikopter kann nicht starten, das Wetter wird immer schlechter. Endlich treffen die Ärzte eine Entscheidung. Mit dem Krankenwagen bringen sie Dich über die A31 nach Meppen. Das Wettrennen um Dein Leben hat begonnen.

Wie viel wird von diesem Leben noch übrig sein?

Schicksalsschlag

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