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Kapitel 2 FRIEDEBURG

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Auf der Fahrt nach Jugoslawien im Sommer 86 merkt Deine Mutter, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmt. Diese Hitze. „Helmut“, sagt sie, „mir ist ganz komisch.“ Wären wir doch besser an die Nordsee gefahren, denkt sich Helmut. Aber Gesa hat ihm seit Monaten in den Ohren gelegen: „Wir müssen mal raus, müssen was erleben, müssen die Welt sehen!“

Im Vergleich zu Gesa ist Helmut ein eher konservativer Mensch. Er ist in Friedeburg zur Schule gegangen, hat hier seine Ausbildung zum Elektriker gemacht, und eigentlich spricht doch nichts dagegen, das ganze Leben an diesem Flecken Erde zu verbringen. Montag bis Freitag arbeiten, Samstag die Füße hoch, Sonntag zum Essen bei den Eltern. Ein ruhiges, sicheres Leben.

Gesa ist anders drauf. Sie war erst drei, als ihr eigener Vater starb. Elfmal ist sie in ihrer Kindheit umgezogen. Ihr Stiefvater war ein verrückter Vogel, ein Discjockey, immer unterwegs. Einmal brachte er Gesa einen Affen mit, den ihm irgendein Typ in der Kneipe geschenkt hatte. Ein paar Jahre später stand auf einmal ein Pony vor der Tür. Ein lieber Kerl. Aber auf Dauer nicht der Richtige für Gesas Mutter. Ein halbes Jahr nach der Trennung nahm er sich das Leben.

Der neue Partner Deiner Großmutter war erst Mitte 20, und damit viel zu jung und unerfahren, um eine Familie mit vier Kindern durch so schwierige Zeiten zu steuern. Er trank zu viel, ging auf Entzug und manchmal, wenn es ganz schlimm wurde, bekam er diese furchtbaren Wutanfälle. Einmal riss er nach einem Streit die komplette Toilettenspülung von der Wand. Gesa wollte irgendwann nur noch weg. Mit 15 lernte sie Helmut kennen. Der war zu diesem Zeitpunkt schon 20, und der Altersunterschied gab Gesa das Gefühl, dass von nun an jemand da war, der auf sie aufpasste. Und genau das hatte Helmut vor: arbeiten, sparen, aufpassen.

Als Deine Mutter im Auto nach Jugoslawien sitzt und ihr so komisch wird, da ist sie keine 15 mehr. Sondern eine junge Frau, die sich ins Leben stürzen möchte. Ohne Rücksicht auf noch abzuzahlende Wohnzimmergarnituren oder getrimmte Gartenhecken.

Zu Hause in Waddewarden, zehn Kilometer von Jever entfernt, stellt sie dann fest, dass sie schwanger ist. Im ersten Moment haut sie das ganz schön aus den Socken. Vielleicht weil sie da schon ahnt, dass die große Freiheit in einem 8000-Einwohner-Örtchen namens Heidmühle endet.

Hier wächst Du nach Deiner Geburt am 25. Februar 1987 auf. In einem Haus, für das Dein Vater seinen Bausparvertrag auflöst und sein Motorrad verkauft und Deine Mutter ihre Träume von großen Abenteuern begräbt. Die verschiedenen Wertvorstellungen führen zwangsläufig zu Problemen. Wie bei jener Geburtstagsfeier, für die Gesa Kuchen backt, den Tisch eindeckt und sich auf einen entspannten Nachmittag freut – und Deine Oma die Männer nach dem ersten Kaffee in den Garten schickt, um die Bäume zu beschneiden. Gut möglich, dass es Deine Oma gut meint, bei Deiner Mutter löst sie damit nur Frustration aus. Am liebsten wäre Gesa in diesem Moment ganz woanders. Nur nicht hier, in dieser kleinbürgerlichen Enge.

Das kann nicht lange gut gehen. Tut es auch nicht. Als Du drei Jahre alt bist, trennen sich Deine Eltern. Für Dich ist das der erste Knock-out Deines Lebens. Vielleicht sogar der Schlimmste. Denn von diesem Schlag hast Du Dich bis heute nicht richtig erholt.

Gesa nimmt sich damals eine kleine Wohnung in der Nähe, beginnt ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin und geht dreimal die Woche in der Disco kellnern, um über die Runden zu kommen. Für Helmut ist die Trennung furchtbar.


Wonneproppen.

Baby Christoph noch gänzlich unschuldig auf einem frühen Kinderportrait. Doch das Glück der kleinen Familie währt nicht lange.

Noch schlimmer ist das alles für Dich. Wie soll ein kleiner Junge denn schon begreifen, dass Mama und Papa nicht mehr zusammenwohnen? Dass sie zwar Mama und Papa sind, aber nicht mehr Mann und Frau? Und deshalb willst Du es auch nicht akzeptieren, als Dir beide irgendwann ihre neuen Partner vorstellen. Bei der Hochzeit von Gesa mit Deinem Stiefvater Michael kommt es zu einer herzergreifenden Szene, als Du der Standesbeamtin über den Mund fährst: „Das geht nicht! Mama ist doch schon mit Papa verheiratet!“

Armer, kleiner Rickels. Du bist nicht der Erste, dem die Trennung der Eltern das Herz zerreißt. Und garantiert nicht der Letzte. Ist halt immer die Frage, wie man es anschließend schafft, so ein kaputtes Herz wieder zu reparieren.

Gesa und Michael bekommen sieben Jahre nach Deiner Geburt eine Tochter, die sie Pia nennen. Auch Helmut wird noch einmal Vater. Mit seiner neuen Frau Meike bekommt er seinen zweiten Sohn und nennt ihn Sascha. Für Deine Halbgeschwister bemühst Du Dich, ein guter großer Bruder zu sein, aber gleichzeitig wirst Du das Gefühl nicht los, vergessen zu werden.

„Mama hat ein Baby, Papa hat ein Baby“, vertraust Du Dich Deiner Großtante Fita an, „und mich hat keiner lieb!“

„So ein Quatsch, Goldi. Jeder hat Dich lieb“, sagt Fita.

„Nein“, antwortest Du, „Ich muss immer nur groß sein.“

Nix Halbes, nix Ganzes, nennst Du das heute. Und so verbringst Du einen Großteil Deiner Kindheit damit, darüber nachzudenken, dass Du Dich nirgendwo so richtig dazugehörig fühlst. Dass Du keine eigene Familie hast, sondern nur das Produkt einer gescheiterten Beziehung zu sein scheinst. Ein komisches Gefühl auf der Fahrt nach Jugoslawien.

Und dann kommst Du zu allem Übel auch noch in die Pubertät. Auf der Suche nach einer Identität versuchst Du, die Balance zwischen zwei Familien zu halten, und für so was ist kein Pubertierender auf dieser Welt geeignet. Deinen Geburtstag feierst Du zweimal, weil die Familien Deiner Elternteile mit den Jahren immer schlechter miteinander auskommen. Es macht Dich traurig, dass scheinbar jeder andere Mensch auf diesem Planeten zu Weihnachten mit der ganzen Familie unterm Christbaum sitzt, während Du so etwas nur aus Erzählungen kennst.



Christoph in den Armen seines Vaters Helmut. Helmuts zweiter Sohn Sascha sagt: „Von ihm hat Christoph seinen Gerechtigkeitssinn.“ Nach der Trennung wächst Christoph bei seiner Mutter Gesa auf.

Du wohnst bei Deiner Mutter und verbringst die Wochenenden häufig bei Deinem Vater, der nur ein paar Kilometer entfernt lebt und Dir doch manchmal so fern zu sein scheint. Jedes Mal, wenn er in den Urlaub fährt, hoffst Du darauf, dass er Dich mitnimmt. Und bist jedes Mal todtraurig, wenn das nicht passiert.

Warum hast Du der Liebe so sehr hinterherlaufen müssen? Der Gedanke daran beschäftigt Dich bis heute.

Mit Deiner Mutter fechtest Du derweil stundenlange Machtkämpfe aus, und wenn es ganz schlimm wird, verschwindest Du einfach zu Deinem Vater. Einmal donnerst Du minutenlang mit dem Rasenmäher gegen den ihren Zaun, um gegen die Gartenarbeit zu demonstrieren, und flüchtest nach dem darauffolgenden Streit zu Deinem Vater. Was Deine Mutter rasend macht.

Was haben all diese Streitereien und Unstetigkeiten mit Dir gemacht? Waren Sie die Ursache für alles, was danach passierte?

Oder sind die Gründe für die sich anbahnende Katastrophe eher abseits Deines Familienlebens zu finden? Auf dem Bolzplatz, in der Schule, auf den Schützenfesten?

Bevor Du anfängst, an Deinem Image als Obermacker von Friedeburg zu arbeiten, suchst Du wie jedes Kind in Deinem Alter nach Halt, nach einer Gemeinschaft, die Dir den Rücken stärkt. Du findest Sie in der Schule, wo Du schon in der Orientierungsstufe Schülersprecher wirst, und auch beim Fußball. Mannschaftskapitän Christoph Rickels, wie klingt das? Ganz nach Deinem Geschmack.

Und doch wirst Du das Gefühl nicht los, dass Du Dir Liebe und Zuneigung erst verdienen musst. Gut möglich, dass Du deshalb im Alltag ständig nach einer Bühne suchst. Da trifft es sich sehr gut, dass Dir das Talent für Musik quasi mit in die Wiege gelegt wird. Die Brüder Deiner Mama zeigen Dir, wie man Schlagzeug und Keyboard spielt, die richtigen Gitarrengriffe bringst Du Dir einfach selbst bei. Musik wird zu Deinem Ventil und vermittelt Dir das Gefühl von Freiheit und innerer Stärke. Dein Kumpel Wasili sagt heute: „Der konnte die Instrumente nicht nur spielen, der hat die gefühlt.“ Später gründet ihr sogar eine Band zusammen, Wasili und Du: die Wheet Stones. Wasili ist übrigens einer der wenigen Freunde, mit denen Du Dich in Deinem neuen Leben nicht zerstritten hast.



Glückliche Zeiten: Mit Stiefpapa Michael beim Drachensteigen und als Nachwuchsrocker mit Gitarre. Die Liebe zur Musik wird Christoph vor allem von seinen beiden Onkeln übertragen.

Schon merkwürdig, wie die Erinnerungen Deiner früheren Wegbegleiter auseinandergingen, als sie für dieses Buch befragt wurden. Einer hat sich an gemeinsame Radtouren und Zeltlager am See erinnert, dann allerdings behauptet, dass Du spätestens ab der 10. Klasse die meisten Dinge nur aus Eigennutz getan hättest. Ein anderer fand Dich sehr sympathisch – bis Du anfingst, Dich regelmäßig in irgendwelche Schlägereien zu stürzen.

Mit Helge und zwei anderen Freunden hebst Du damals sogar ein gemeinsames Projekt aus der Taufe: Rockelz.de nennt ihr eure Homepage, auf der dann Fotos von den Partys und Schützenfesten aus der Region veröffentlicht werden.

Wasili von den Wheet Stones lernst Du bei einer Klopperei kennen. Nach einer verbalen Auseinandersetzung triffst Du Dich mit einem seiner Jungs zum Eins-gegen-Eins im Wald. Wer damals als Sieger vom Feld geht, kann Wasili heute gar nicht mehr sagen, aber was er nicht vergessen wird: Wie respektvoll Du trotz der Keilerei mit Deinem Kontrahenten umgegangen bist. Mensch, denkt sich Wasili, da ist einer, der sich gerade macht und auch noch Anstand hat.

Die Einstellung zum Leben und die Liebe zur Musik lassen euch zu engen Freunden werden. Wasili bewundert Dich vor allem für Dein musisches Talent. Einmal benötigt ihr für die Band einen neuen Schlagzeuger, und als Du beim Vorspielen nicht ganz einverstanden bist, greifst Du Dir einfach selbst die Sticks und feuerst aus dem Stand ein Solo ab.


Endlich Wochenende: Seine Jugend verbringt Christoph wie jeder andere aus seiner Generation in Partykellern und auf Schützenfesten. Der Teenager ist beliebt – und sucht doch die ganze Zeit nach Anerkennung.

Wasili erinnert sich: „Der Christoph, das war einer, der nie den Mund gehalten hat, wenn aus seiner Sicht etwas falsch oder unfair gelaufen ist. Der wollte immer für das Gute einstehen. Und zur Not auch kämpfen. Manchmal ist er dafür mit dem Kopf durch die Wand gerannt.“

Macker und Macher zugleich, so hast Du Dich selbst in Erinnerung. Viel weißt Du nicht mehr von früher, die Verletzungen in Deinem Kopf waren so schwer, dass viele Erinnerungen einfach gelöscht sind. Deshalb kannst Du heute auch nicht sagen, wann das schlimmer wurde mit den Schlägereien. Und vor allem: Wie es überhaupt dazu kommen konnte, woher die Wut kam. Das Leben als Teenager kann ganz schön kompliziert sein. So viele neue Wege, die es zu beschreiten gibt, und dabei so viele Sackgassen. Aber nicht jeder drückt seinen Frust darüber mit der Faust aus.

Der Macher in Dir lässt sich erst zum Klassen-, dann zum Schulsprecher wählen. Weil Du was bewegen willst. Wie in dem Theaterprojekt, wo ihr euch in Deinem ersten Stück doch tatsächlich mit dem Thema Gewalt beschäftigt. Die Ostfriesen-Zeitung bringt darüber sogar einen Artikel. Auf dem Foto sieht man Dich lächelnd die Faust ballen. Warum Du dieses Stück so spannend findest, möchte die Redakteurin von Dir wissen. Und Du antwortest: „So mit Gewalt und so, das fand ich interessant.“

Du setzt Dich gerne für Deine Mitmenschen ein. Deshalb die Disco-AG, bei der Du die Wartung der Anlage übernimmst. Deshalb die Gründung der „Fburg-City-Boyz“, Deine Teenager-Bürgerwehr mit Wasili, weil ihr zwei es satthabt, dass die Schläger aus dem Nachbardorf eurer Clique jede zweite Party versauen und auch noch eure Roller zu Klump treten.

Du bist ein politischer Mensch, was ja an sich gut ist, aber welcher Teufel reitet Dich nur, dass Du mit 17 für kurze Zeit der NPD beitrittst und mit langem Ledermantel und kurzen Haaren Plakate klebst? „Wenn ich das mal wüsste“, sagst Du heute kopfschüttelnd. Deine Freunde glauben, dass die Nazis Deine Naivität ausgenutzt haben, Deinen Wunsch, Dinge zu verändern. „Vielleicht wollte er einfach provozieren“, glaubt Deine kleine Schwester Pia, der Du damals ganz schön peinlich bist. Oder ist es so, wie es „Die Ärzte“ viele Jahre zuvor schon besungen haben? Dass der braune Spuk auch bei Dir eigentlich ein stummer Schrei nach Liebe ist?

Nach einiger Zeit entsorgst Du den Ledermantel, lässt die Haare wieder wachsen und gründest kurz darauf den Regionalverband der Jungen Union. Für die kurze, aber dunkle NPD-Phase schämst Du Dich bis heute.

Die Sehnsucht nach Anerkennung ist damals geblieben. Also bretterst Du mit Deinem Opel Corsa über die Landstraßen, gehst pumpen im Fitnessstudio, machst auf dicke Hose. Aus dem Macher wird immer mehr ein Macker.

Du bist Rocker und Romantiker. Versschreiber und Veilchenverteiler. In Deine große Jugendliebe Eva verknallst Du Dich so sehr, dass Du den Schmerz bis heute fühlen kannst. Irgendwas geht in Dir kaputt, als sie eure Beziehung beendet.



Sonnyboy Christoph im Sommerurlaub an der Seite von Stiefvater Michael und an der Schwelle zur Weltkarriere. Trotz der beeindruckenden musikalischen Fähigkeiten kommt ein Casting für „Deutschland sucht den Superstar“ nicht zustande. Interessant ist seine Einschätzung der eigenen Schwächen: „Öfters mal beleidigt oder gar böse auf Personen.“

Vielleicht wäre eine gute Freundin an Deiner Seite zu diesem Zeitpunkt eine große Hilfe gewesen, doch die Beziehung zu Deiner Schulfreundin Sandra hat spätestens dann einen Knacks abbekommen, als Du irgendwann mehr von ihr wolltest als gemeinsam Smirnoff Ice zu trinken, heimlich hinter der Sporthalle eine zu rauchen und über das Leben zu sprechen. Von da an ging es mit eurer Freundschaft bergab. Ein Verlust, nicht nur für Dich, sondern auch für Sandra, die Dich als tollen Kumpel und besonderen Menschen in Erinnerung hat.

Immer hemmungsloser stürzt Du Dich in Auseinandersetzungen, immer wilder reagierst Du selbst auf kleinste Provokationen. Manchmal braucht es nicht mal die, sondern nur falsch verstandenen Beschützerinstinkt. Auf dem Schützenfest schlägst Du einen Jungen brutal nieder, nur weil er Deiner kleinen Schwester ein Bier ausgeben wollte. Ein anderes Mal willst Du gar nicht mehr aufhören, auf Dein Opfer einzuschlagen. Erst zu dritt schafft man es, Dich wegzuziehen. Und zu Hause schlägst Du im Streit Löcher in die Rigipswand.

Was war nur los mit Dir, Rickels? Welchen Schmerz hast Du damals in Dir ertragen müssen? Pia hat es nicht verstanden, dass ihr sonst so liebevoller Bruder so sehr die Kontrolle verlieren konnte. Später, als sie Dich auf der Intensivstation liegen sah und ihr niemand sagen konnte, ob Du jemals wieder aufwachen würdest, hat sie oft daran denken müssen, dass auch Du so manches Mal nur kurz davor warst, einen Menschen ins Koma zu prügeln.

Nur wenige Monate vor dem verhängnisvollen Abend im Dinis nimmt Dich einer Deiner Jungs nach einer weiteren Schlägerei zur Seite. Er ist wütend, weil auch er nicht begreifen kann, warum Du solche Dinge tust. „Irgendwann findest Du Deinen Meister“, brüllt er Dich an, „und stehst vielleicht nie wieder auf!“


Nie wieder wird es so sein, wie es einmal war: Christoph gemeinsam mit seiner Schwester Pia. Einige Jahre nach dieser Aufnahme sieht Pia ihren Bruder auf der Intensivstation liegen und um sein Leben kämpfen.

Schicksalsschlag

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