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Leben an der Kante

Wie viel stimmen muss, wenn der Sport-Club Erstligist bleiben will, hat er in der jüngeren Vergangenheit gleich zweimal im Auswärtsspiel bei Hannover 96 vorgeführt bekommen.

Nils Petersen saß nach dem Schlusspfiff weinend in der Kabine, Torwart Roman Bürki liefen die Tränen herunter, als er sich bei den mitgereisten Fans für die Unterstützung bedankte. Und Christian Streich konnte die mühsam aufrechterhaltene Beherrschung nicht mehr wahren, als ihn Wut und Trauer durchschüttelten. Das Interview mit einem Radiosender musste abgebrochen werden, die Emotionen waren stärker als die analytischen Kräft e. Nein, der 23. Mai 2015 war kein schöner Tag in der Freiburger Vereinsgeschichte.

Doch die großen Emotionen nach dem Schlusspfiff mussten beim Freiburger Anhang gemischte Gefühle hervorrufen, denn genau die hatte die Mannschaft während des Spiels nicht gezeigt. Emotions- und wehrlos hatten sich viele Spieler über den Platz geschleppt, Zweikämpfe und Sprints verweigert, schon die Fleißnote stimmte nicht, vom Rest ganz zu schweigen. Symptomatisch, dass man bei einem als Abstiegsendspiel deklarierten Match nach 122 Spielsekunden zurücklag, weil ein 1,73 Meter großer Hüne namens Hiroshi Kiyotake völlig frei zum Kopfball gekommen war. Als dann noch ein groteskes Eigentor durch Pavel Krmaš (84.) dazukam, war der Abstieg besiegelt. Wäre es nicht gefallen, hätte Nils Petersens Treffer kurz vor Schluss doch noch den Klassenerhalt bedeutet. So konnte auch er nicht verhindern, dass der SC am letzten Spieltag von Platz 14 auf Rang 17 stürzte und somit abstieg.

Dabei hätte ein Punkt gereicht, um auch im kommenden Jahr wieder gegen die Bayern spielen zu dürfen. Gegen die hatte der Sport-Club am 33. Spieltag sogar gewonnen, nachdem er beim HSV einen Zähler eingefahren hatte. Und nun das. „Ich hatte vor dem Spiel mit Ersatztorwart Sebastian Mielitz, einem guten Freund von mir, ausgemacht, er solle den linken Arm heben, wenn Hamburg führt, und den rechten, wenn Stuttgart führt – und auf einmal hebt er beide Arme“, erinnert sich Petersen. „Nach meiner Einwechslung habe ich dann nichts mehr mitbekommen von den anderen Spielständen. Wir haben dann zwar noch das 1:2 gemacht, aber tief drin wusste man, es reicht nicht mehr. Dann kam Rudi Raschke, der damalige Pressesprecher, auf den Rasen und sagte: Wir sind abgestiegen.“

„Ein großer Verein in seinem Wesen“

In den Wochen nach dem wohl unnötigsten Abstieg der Vereinsgeschichte sickerte durch, warum bei Streichs Gefühlsausbruch nach dem Abpfiff auch Wut dabei war und warum bei seinem mittlerweile berühmten Ausspruch auf der Pressekonferenz im Hannoveraner Stadion – „Der Verein ist ein großer Verein, ein kleiner, aber großer Verein in seinem Wesen“ – auch mitschwang, dass der Klub größer ist als mancher Spieler, der an diesem Nachmittag mit dem Greifen-Trikot herumspazierte. Das deuten auch die Spieler an, die schon damals im Kader waren und es heute noch sind: „Wir haben heute nicht mehr die individuelle Qualität im Kader, die wir damals hatten“, sagt Petersen überraschenderweise am Ende der Saison 2018/19. Und tatsächlich kam ein späterer Nationalspieler wie Petersen im damaligen Kader anfangs nur zu Kurzeinsätzen. Er sieht es heute so, dass das auch an der guten Konkurrenz auf seiner Position lag. Heute ist das Team individuell schwächer – und kollektiv besser. „Das war eine Phase, in der sich viele Spieler über alle Maßen mit ihrer persönlichen Zukunft beschäft igt haben“, sagt Sportdirektor Klemens Hartenbach rückblickend. „Das hat man ein bisschen gemerkt.“

Im damaligen Kader gab es eine Kluft zwischen den Spielern, die unter Streich großgeworden waren, und denen, die irgendwann als gestandene Spieler gekauft worden sind – qualitativ ein Fortschritt, fürs Mannschaft sgefüge eher eine „Rolle rückwärts“, wie es Petersen formuliert. „Wir haben heute ein unheimlich stabiles Gefüge, stabiler als damals. Vielleicht ist es ja derzeit gerade unsere Stärke, eben keine Stars zu haben.“ Seither achtet der Sport-Club noch mehr darauf, dass mögliche Neuverpflichtungen ins große Ganze passen. Jonathan Schmid, für den das Hannover-Spiel das letzte im SC-Dress war, bevor er zunächst nach Hoffenheim und dann nach Augsburg wechselte, kam im Sommer 2019 zurück. Auch bei Rückkehrer Vincenzo Grifo waren sich Trainerstab und Ex-Kollegen einig, dass Starallüren bei ihm kein Thema sein würden. „Nach dem Abstieg in Hannover hat man dann wieder mehr darauf geachtet, ob das Typen sind, die reinpassen“, so Petersen. „Bei Grifo war es natürlich klar. Hätten wir ihn aber nicht schon vorher gekannt, wäre sicher die Frage aufgekommen, ob wir Stars vertragen können, ob sie unserer Mannschaft guttun.“ Zu fragil sei ein Mannschaft sgefüge, auch dann, wenn es so intakt ist wie derzeit beim SC. „Wir gehen mittags mit 15 Mann essen und frühstücken morgens zu fünfzehnt“, betont Petersen, der so etwas noch in keiner anderen Mannschaft erlebt hat. „Ein, zwei Spieler, die da nicht reinpassen, kriegst du immer durch, aber zu viele darfst du nicht haben.“

Klemens Hartenbach bekommt noch im Juni 2019 Beklemmungen, wenn er an den damaligen Abstieg denkt. „Ich hatte so etwas vorher noch nie erlebt. Das war wie, wenn du eine schlimme Nachricht kriegst und hoffst, du schläfst jetzt eine Nacht drüber, und es war ein Traum. Und dann wachst du auf und merkst: Es war keiner.“ Als die Spieler des SC Freiburg mitten in der Nacht zum Sonntag wieder am heimischen Stadion aufschlugen, erlebten sie eine Überraschung. In der Dunkelheit vor der Haupttribüne warteten gut 80 Fans. Sie hatten aufmunternde Transparente dabei und sich einen Schlachtruf zurechtgelegt: „Wir kommen wieder – Bundesliga“.

Hartenbach hat sich über diese Geste gefreut, sie hat ihm Mut für die kommende Saison gegeben. Unter den Spielern gab es hingegen einige, die die Szenerie mit gemischten Gefühlen betrachteten. „Wir haben damals einfach Scheiße gespielt“, erinnert sich einer. „Das Letzte, was du dann brauchen kannst, sind Fans, die dich verfluchen, das stimmt schon. Aber diese Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung damals habe ich auch als deplatziert empfunden.“

„Wenn nicht ‚du da‘, dann wir nirgendwo“

Ziemlich genau vier Jahre später sollte eigentlich alles anders werden beim Freiburger Spiel in Hannover. Weil der Sport-Club bereits seit der Vorwoche gerettet war, weil Hannover, das sich vier Jahre zuvor durch den Sieg gegen Freiburg noch hatte retten können, so gut wie abgestiegen war. Und weil sich Freiburgs Spieler und Trainer in den Tagen vor dem Anpfiff wild entschlossen gaben, eine Saison, die so vielversprechend begonnen hatte, trotz der jüngsten Niederlagenserie noch versöhnlich zu Ende zu bringen. Und da war noch ein anderer Grund: der Verlauf des Spieles 2015 nämlich. „An Hannover haben wir nicht die besten Erinnerungen. Von der Emotionalität her muss man aufpassen, dass man nicht sagt, wir müssen die jetzt runterschießen. Irgendwie hat man immer das Gefühl, da ist noch eine Rechnung offen“, meinte Petersen unter Verweis auf ein paar unsportliche Aktionen der 96er während der Partie 2015. „Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich nach dem 0:2 am Mittelkreis stehe und die Jungs anfeuere. Plötzlich kommt ein Hannoveraner Spieler, schnappt sich den Ball und schießt den auf die Tribüne. Und das war nicht das Einzige, was vorgefallen ist.“

Guten Mutes fuhren also etwa 2.000 Freiburgfans Richtung Hannover, nur um vier Jahre später nach dem Ende der Partie wieder einer Mannschaft zu applaudieren, die nicht als solche aufgetreten war. Nach einer vollkommen indiskutablen Leistung verlor der SC 0:3. Und wieder waren Spieler und Offizielle zerknirscht. Auch einige Spieler legten den Finger in die Wunde. „Wir sind aufgetreten, als ob jeder von uns einen Rucksack aufgehabt hätte“, sagte Petersen. Und Mike Frantz hatte das Gefühl, „dass wir alle mit leerem Tank gefahren sind“. Petersen zog derweil schon mal ein ernüchterndes Rückrundenfazit: „Wir haben seit Weihnachten nur zwölf Punkte geholt, das ist schon alarmierend. Im Moment fehlt es an vielen, vielen Stellen.“ Es gehe nun darum, im letzten Heimspiel gegen Nürnberg eine Saison, die vielversprechend anfing und zuletzt in eine waschechte Krise mündete, „zumindest noch teilweise zu retten“. Acht Spiele in Serie hatte der SC nicht mehr gewonnen. Und dann das. „Die Fans reisen hier hunderte Kilometer an und müssen sich dann so ein Gegurke angucken.“

Ganz anders als vier Jahre zuvor wirkte hingegen Christian Streich. Nicht deprimiert, nicht schwankend zwischen widerstreitenden Gemütsverfassungen, dem Gedanken, hinzuschmeißen, und dem Trotz, sofort wieder aufsteigen zu wollen. Natürlich war Streich auch diesmal, 2019, sauer. Aber gleichzeitig vollkommen kontrolliert und hellsichtig. „Wir haben in der vergangenen Woche etwas verändert in der Abläufen“, berichtete er. Nach der langen Saison habe er dem Team aufwendiges Videostudium ersparen wollen, die Leine ein wenig lockerer gelassen. Dass er in der zurückliegenden Trainingswoche versucht habe, mehr „Lockerheit reinzubringen“, sei aber ein Fehler gewesen. Wenn man auf das detaillierte Videostudium verzichte und es unterlasse, jedem Spieler genaue Anweisungen mitzugeben, räche sich das sofort: „Wenn man ein klein bisschen was anders macht, sieht man, was dabei herauskommt. Wenn nicht ‚du da‘, ‚du da‘, ‚du da‘, und ,du da‘, dann wir nirgendwo“, so Streich wörtlich. Gegen Nürnberg werde wieder jeder Spieler konkrete Handlungsanweisungen bekommen.

Gesagt, getan. Mit einem 5:1-Sieg, nach dem sich diesmal die bereits abgestiegenen Nürnberger Fragen nach ihrer Berufsauffassung gefallen lassen mussten, gelang dem Sport-Club schließlich doch noch ein versöhnlicher Abschluss der Saison. Es gab die üblichen „Nie mehr, nie mehr“-Gesänge zu hören, ein etwa zweijähriger Neffe von Vincenzo Grifo wurde fast so lautstark bejubelt wie der berühmte Onkel, und beim obligatorischen Saisonabschluss-Freibier wurde noch ein bisschen gefeiert. Wie man halt so feiert, wenn der Klassenerhalt seit Wochen feststeht – das Ganze wirkt dann doch eher routiniert als gnadenlos ausgelassen. Und dennoch hörte man aus den Gesprächen bei der Fanfeier immer wieder das gleiche Fazit heraus wie bei Spielern und Funktionären: Gut, dass das letzte Spiel noch so überzeugend gewonnen wurde. Wäre man mit den Eindrücken aus Hannover in die Sommerpause gegangen, wäre im kollektiven Gedächtnis die Saison ganz anders zu Ende gegangen, nämlich nicht mit einem ebenso deutlichen wie verdienten Sieg als Schlusspunkt einer starken Spielzeit, in der der Sport-Club mal wieder sein Saisonziel erreicht und seinen Fans in vielen Spielen große Freude bereitet hat.

Und selbst die beiden Hannover-Spiele können im Nachhinein als pädagogisch wertvolle Veranstaltungen gepriesen werden, veranschaulichen sie doch nur allzu plastisch, was jeder weiß, der den Sport-Club näher begleitet: Dieser Verein hat eine Chance, in der Bundesliga zu bestehen, wenn zwei Faktoren stimmen. Zum einen muss eine Mannschaft mit einer inneren Mitte auf dem Platz stehen. Zum anderen muss mit genau der Akribie und Genauigkeit gearbeitet werden, die in Hannover am 11. Mai 2019 fehlte. Und das in jedem Spiel.

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