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Kapitel 1 TIGRE, ARGENTINIEN

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Es war kurz vor Mitternacht, als Roger Federer erschien.

Journalisten sind das Warten gewohnt, und dieses Mal wartete ich in einem Mietwagen mit Chauffeur in einem Vorort von Buenos Aires. Im Radio lief Eric Carmens schwermütige Ballade „All by Myself“. Das passte ganz gut zu meiner Situation, schließlich saß ich allein auf dem Rücksitz, in der Hand ein paar Notizen und im Kopf Gedanken an das bevorstehende Interview. Zu Federer, der so selten allein zu sein scheint und auch diesmal alles andere als allein war, passte es hingegen überhaupt nicht.

Es war Mitte Dezember 2012, und Federers Comeback-Jahr, in dem ein Sieg in Wimbledon – sein erster Grand-Slam-Titel seit über zwei Jahren – ihn an die Spitze der Weltrangliste zurückbefördert hatte, neigte sich dem Ende zu. Seine Frau Mirka und die dreijährigen Zwillingstöchter waren zu Hause in der Schweiz geblieben, während er zu seinem ersten Besuch in diesen Teil Südamerikas aufgebrochen war, um an mehreren Showturnieren teilzunehmen. Die Eintrittskarten dafür waren nach wenigen Minuten ausverkauft gewesen.

Federer lockte das Geld: Jeder Auftritt brachte ihm zwei Millionen US-Dollar ein, wodurch er mit nur sechs Spielen mehr Einnahmen erzielte als die 8,5 Millionen US-Dollar an offiziellen Preisgeldern im Jahr 2012. Doch er wollte auch Erfahrungen sammeln, an die er sich später gerne erinnerte: die Begegnung mit einem neuen Publikum an neuen Orten – trotz aller körperlichen und psychischen Belastungen der vergangenen elf Monate.

Andere Champions mit ähnlich gutem Auskommen hätten auf eine solche Reise und den damit verbundenen Jetlag sicher verzichtet. Doch Federer und sein Manager Tony Godsick hatten das große Ganze im Blick: Sie dachten an noch unerschlossene Federer-Märkte und -Emotionen. Die Reise, die sie zunächst nach Brasilien und nun nach Argentinien führte, übertraf alle Erwartungen. Das bezeugten schon die 20.000 Menschen, die sich an diesem Abend in dem provisorischen Stadion in Tigre drängten – ein Zuschauerrekord für ein Tennismatch in Argentinien, das doch ein stolzes Tennisland ist, mit Ikonen wie Guillermo Vilas, Gabriela Sabatini und nicht zuletzt Juan Martin del Potro, Federers Gegner und in gewisser Weise auch sein Gegenpol.

„Es war fantastisch, aber für Juan Martin schon auch seltsam“, sagte del Potros damaliger Trainer Franco Davin. „Argentinien ist sein Land, und trotzdem jubeln die Leute bei Federer noch mehr.“

So war es auch in vielen anderen Tennisnationen. Fast überall hat Federer ein Heimspiel. Und auch kurz vor Mitternacht warteten immer noch einige Hundert Fans vor dem Stadion: Erwachsene standen auf Kisten, um eine bessere Sicht zu erhaschen, Kinder hockten auf den Schultern ihrer Eltern, und überall leuchteten Handys mit eingeschalteter Kamera, um den einen Moment ja nicht zu verpassen.

Es herrschte eine ruhige und erwartungsvolle Atmosphäre, die in dem Moment, als Federer aus einer Seitentür trat und auf meinen Wagen zusteuerte, von tumultartigen Szenen abgelöst wurde. Trotz seines Dreisatzspiels gegen del Potro ging er leichten Schrittes.

Mit einem rhythmischen „Bye-bye. Bye-bye. Bye-bye!“ verabschiedete er sich im Plauderton von seinen Fans, bevor er die Wagentür öffnete.

„Wie geht’s?“, sagte er im gleichen Tonfall zu mir und schloss die Tür.

Ich bin Federer auf sechs Kontinenten hinterhergereist und habe ihn binnen 20 Jahren mehr als 20-mal für die New York Times und die International Herald Tribune interviewt. Unsere Treffen fanden an allen möglichen Orten statt, in einem Privatflugzeug, auf einem Rückfeld in Wimbledon, auf dem Times Square in New York, in Schweizer Bergrestaurants oder in einer Suite im Pariser Hôtel de Crillon mit fantastischem Blick auf die Place de la Concorde, während seine spätere Frau Mirka Vavrinec gerade Designer-Kleidung anprobierte.

Eine Eigenschaft, die Federer von den meisten anderen Ausnahmesportlern, die mir begegnet sind, unterscheidet, ist seine Angewohnheit, den Gesprächspartner zunächst einmal (und nicht nur der guten Form halber) zu befragen: wie denn die Anfahrt gewesen sei und wie man das Turnier, das Land und die Menschen einschätze.

„Roger ist deshalb so interessant, weil er sich für andere interessiert“, bemerkte einmal sein früherer Trainer Paul Annacone mir gegenüber.

Meine eigene fünfköpfige Familie hatte sich 2012 auch auf Weltreise begeben: ein ganzes Schuljahr unterwegs, angefangen mit einem dreimonatigen Aufenthalt in Peru, Chile und Argentinien. Federer wollte die Highlights erfahren (Torres del Paine und die Insel Chiloé in Chile, Arequipa in Peru). Doch am meisten interessierte ihn der Schulunterricht: Wie hatten unsere Kinder auf die Situation reagiert, hatten sie davon profitiert? Ein Hinweis darauf, dass er wohl vorhatte, auf unabsehbare Zeit mitsamt seiner Familie auf Achse zu sein, seinen Alltag mit den Kindern zu teilen und ihnen nebenbei viel von der Welt zu zeigen.

„Wir sind in den meisten Städten und bei den meisten Turnieren sozusagen Stammgäste und haben weltweit viele Freunde“, sagte er. „Es fühlt sich dann so an, als würde man ein zweites Zuhause besuchen. Dieses Gefühl kann ich mittlerweile sehr leicht in mir hervorrufen, vor allem seit die Kinder dabei sind. Ich möchte ihnen dieses Gefühl vermitteln, damit sie sich überall, wo wir hinkommen, wohlfühlen.“

Federers Neugier – gleich ob aus Höflichkeit oder tatsächlich von Herzen – sorgt dafür, dass man mit ihm eher ein Gespräch als ein strukturiertes Interview führt. Sie wirkt entwaffnend, auch wenn er das gar nicht zu beabsichtigen scheint. Vor allem lässt sie das Außergewöhnliche in einem etwas normaleren Licht erscheinen, und darum bemüht sich Federer sehr nachdrücklich. Er kann damit umgehen, auf einem Podest zu stehen, betont aber oft, dass er lieber auf Augenhöhe mit anderen verkehrt. Vielleicht hat er diese Eigenschaft von seiner Mutter Lynette geerbt. Wenn jemand ihren Nachnamen hört und sie fragt, ob sie mit dem Federer verwandt sei, bejaht sie und erkundigt sich dann direkt nach den Kindern des Gesprächspartners.

„Schau und hör dir das an“, sagte er in seinem unverwechselbaren näselnden Bariton und machte eine Handbewegung in Richtung Autofenster. „Wir drängen uns hier per Polizeieskorte durch die Menge, das kenne ich nicht.“

„Wirklich?“, antwortete ich. „Ich hätte gedacht, dass dir das oft passiert.“

„Zum Glück nicht“, sagte er. „Ich halte mich eigentlich für einen ganz normalen Typen, der halt das spannende Leben eines Tennisspielers führt. Da steht man im Rampenlicht, ist in der ganzen Welt unterwegs, spielt live vor Publikum. Auf Kritik muss man nicht lange warten. Man weiß gleich, ob man gut oder schlecht war. Das ist fast wie bei Musikern, ich finde das ein wirklich gutes Gefühl. Selbst wenn man schlecht war, macht das nichts. Dann arbeite daran. Zumindest weiß man, dass man eine Aufgabe vor sich hat, und wenn man gut war, gibt es einem Selbstvertrauen, motiviert und inspiriert einen. Ich gebe schon auch zu, dass es ein wunderbares Leben ist. Manchmal ist es aber auch hart, denn das Reisen kann echt anstrengend sein. Du kennst das … Doch neulich dachte ich mir: Ich bin vor rund zehn Jahren in die Top 10 eingezogen und erlebe heute immer noch solche Dinge. Es ist irgendwie eine außerkörperliche Erfahrung, man glaubt fast nicht, dass es wirklich passiert. Ich schätze mich sehr glücklich, und das ist sicher auch einer der Gründe dafür, dass ich noch länger spielen möchte. Denn das alles ist vorbei, wenn man sich zurückgezogen hat.“

Wie viel er vor seinem Rücktritt noch erleben würde, überraschte dann wohl selbst Federer …

In jener Nacht in Argentinien war er bereits 31 Jahre alt und hatte damit das gleiche Alter erreicht, in dem einer seiner Vorbilder, Pete Sampras, mit seinem 14. Titelgewinn bei einem Grand-Slam-Turnier (den US Open im Jahre 2002) einen neuen Rekord aufgestellt hatte. Es war Sampras’ letztes Spiel bei einem großen Tennisturnier, und hätte er bis zu seinem offiziellen Rücktritt nicht ein weiteres Jahr gewartet, wäre das einer dieser ultimativen Tennisabschiede nach einem Heimsieg gewesen.

Stefan Edberg, auch ein Tennisheld aus Federers Jugend, trat mit 30 Jahren zurück.

Doch Federer stand eben nicht kurz vor dem Ende seiner Laufbahn, wie es viele Tennisfachleute und -Fans verständlicherweise erwarteten. Er steckte vielmehr mittendrin und blieb tatsächlich bis in die 2020er-Jahre aktiv, während andere Tennisspieler seiner Generation längst für Unternehmen oder als Kommentatoren tätig waren – oder Federers jüngere Konkurrenten coachten.

Wer Sampras in den Jahren 2001 und 2002, seinen letzten beiden Saisons, beobachtet hatte, ahnte, wie sehr ihm die Plackerei und der Druck zusetzten. „Pete war fertig, aber Roger ist aus anderem Holz geschnitzt“, sagte Annacone, der beide trainiert hat. „Das viele Reisen erschöpfte Pete. Roger zieht daraus Energie.“

Annacone begleitete Federer zum ATP-Turnier nach Schanghai. Am zweiten Tag ihres Aufenthalts saßen Annacone und die anderen Teammitglieder an einem Tisch in Federers Hotelsuite und unterhielten sich, als es klopfte. Vor der Tür stand eine Chinesin.

Federer verkündete, ihre Sprachlehrerin sei eingetroffen.

„Roger erklärte: ‚Sie wird täglich für etwa eine halbe Stunde vorbeikommen, und wir werden versuchen, hier und da ein paar Worte aufzuschnappen, um etwas Mandarin zu lernen‘“, erzählte Annacone. „Und ich so: ‚Mann, ich kann ja kaum vernünftig Englisch sprechen.‘ Und Roger dann: ‚Nein, nein, es wird Spaß machen.‘ Und er hatte seine helle Freude daran. Er wollte ein paar Redewendungen lernen, um sich auf Mandarin bei den Fans zu bedanken, aber er hielt sich auch den Bauch vor Lachen, wenn wir die korrekte Aussprache übten. Roger nimmt die verschiedenen Facetten des Reisens einfach mit offenen Armen an. Vielen anderen gelingt das nicht.“

Für Federer war das völlig normal. Als Sohn eines Schweizers und einer Südafrikanerin reiste er schon im Alter von drei Monaten zum ersten Mal nach Südafrika und kehrte im Laufe seiner Kindheit immer wieder dorthin zurück. Sampras sprach ausschließlich Englisch. Federer spricht Französisch, Englisch, Deutsch sowie Schweizerdeutsch. Dank seiner Mutter beherrscht er außerdem mehr als nur ein paar Worte Afrikaans und dank seines früheren Trainers Peter Lundgren auch diverse schwedische Kraftausdrücke.

Als Schweizer in der Grenzstadt Basel war Federer schon früh daran gewöhnt, zwischen den Kulturen hin und her zu wechseln. Doch nur, weil eine gewisse Lebensweise unvermeidbar ist, muss man diese nicht zwangsläufig mögen. Federer steht teils auch deshalb dem Globetrotter-Leben positiv gegenüber, weil es für ihn als Tennis-Champion einem bestimmten Zweck dient. Diese tiefe Freude, die er bei jenem Auto-Interview in Argentinien 2012 zeigte, rührte aus der Erkenntnis, dass sein Job auf den Tennisfeldern von Wimbledon oder Roland Garros mehr Menschen inspirierte, als er je für möglich gehalten hätte.

„Sie sind hier so leidenschaftlich“, sagte er. „Nirgendwo habe ich aufgelöstere Fans erlebt als in Südamerika. Die Menschen brechen in Tränen aus, zittern, und sie sind so, na ja, nicht ehrfürchtig, aber so froh, mich zu treffen, dass sie es kaum glauben. Natürlich ist mir das auch schon anderswo passiert, aber sehr selten, und hier haben mich schon mindestens 20 Leute umarmt und geküsst und waren überglücklich, nur weil sie mich einmal berühren durften.“

Die argentinischen Fans riefen ihm durch die Autoscheibe zu und drückten gegen das Fahrzeug, doch er wich nicht von der Scheibe zurück. Vielmehr rückte er näher heran.

Ich fragte Federer, ob er das englische Wort „jaded“ kenne, abgestumpft.

„Schon“, entgegnete er zögernd.

„Es entspricht ungefähr dem französischen Wort ‚blasé‘“, sagte ich. „Man hat das alles schon mal erlebt, es versetzt einen nicht mehr in denselben Rausch. So ähnlich muss sich Björn Borg gefühlt haben, als er sich nach den US Open ins Auto setzte, um nie wieder auf den Platz zurückzukehren.“

Borg war damals 25.

Federer dachte kurz darüber nach.

„Es geht sehr schnell“, sagte er. „Plötzlich denkst du: ‚Das reicht mir jetzt. Ich will das nicht mehr. Ich habe es satt.‘ Und ich versuche das zu vermeiden, indem ich auf einen guten Zeitplan, viel Spaß und Abwechslung achte. Wie du schon ganz richtig bemerkt hast: Wer zu oft oder gar ständig dasselbe tut, egal was oder wie außergewöhnlich es ist, beginnt sich zu langweilen. Deshalb glaube ich, dass solche Reisen oder ein gutes Aufbautraining oder super Turniere oder irgendetwas, was man durchstehen muss – jedenfalls eine Mischung –, das ist, woraus ich neue Energie schöpfe. In gewisser Weise ist es also ziemlich einfach.“

Das faszinierte mich als Beobachter: Federer, der entgegen jeder Logik und im Gegensatz zu seinen Vorgängern in der Tenniswelt auch mit Ende 30 noch frisch und voller Tatendrang war, lebte ganz in der Gegenwart – weil er vorausdachte. Trotz all der Kräfte, die an ihm zerrten, war er entspannt und entgegenkommend, weil er sich selbst und seinen Mikrokosmos gut genug kannte, um den Fallstricken auszuweichen, die sein Feuer erstickt hätten.

Andererseits steht diese Zielgerichtetheit für seine gesamte Karriere.

Wer ihm in den letzten zwei Jahrzehnten zugesehen hat, war oft beeindruckt von der Leichtigkeit, mit der er Asse schlug, in eine Vorhand hineinglitt und über den Dingen zu schweben schien in dieser Welt, in der Ikonen zu Recht sehr kritisch gesehen werden. Doch sein Weg, auf dem der temperamentvolle, blondierte Teenager mit fragwürdigem Stilgefühl zu einem der elegantesten und souveränsten Topsportler heranreifte, war eben nicht schicksalhaft, sondern das Ergebnis einer langen und bewussten Anstrengung.

Federer gilt gemeinhin als Naturtalent. In Wirklichkeit ist er auch ein gewissenhafter Planer, der sich angewöhnt hat, auf Routine und Selbstdisziplin zu setzen, und seinen Terminkalender lange im Voraus sehr detailliert ausarbeitet.

„Ich weiß normalerweise ungefähr, wie meine nächsten anderthalb Jahre aussehen, und kenne das Programm der nächsten neun Monate recht genau“, verriet er mir in Argentinien. „Ich kann dir sagen, was ich am Montag vor Rotterdam vorhabe oder am Samstag vor Indian Wells. Zwar nicht Stunde für Stunde, aber eine Tagesplanung mache ich eigentlich immer.“

Federer sieht man nur selten schwitzen; harte Arbeit und Selbstzweifel sind ihm dennoch nicht fremd, er trägt sie nur nicht nach außen. Er hat weitaus öfter unter Schmerzen gespielt, als es den meisten von uns bewusst ist. Auch schwere Rückschläge im vollen Scheinwerferlicht hat es reichlich gegeben. Man könnte sogar behaupten, dass das Wimbledon-Finale 2008 gegen Rafael Nadal und das Wimbledon-Finale 2019 gegen Novak Djokovic die beiden größten Matches seiner Karriere waren. Beide endeten mit seiner bitteren Niederlage nach einem hart umkämpften fünften Satz, der in die Verlängerung ging.

Mit mehr als 100 Titelgewinnen und einer ununterbrochenen Serie von 23 Halbfinalteilnahmen bei Grand-Slam-Turnieren hat er große Erfolge erzielt, es gab aber eben auch grandiose Niederlagen.

Das hat zweifellos dazu beigetragen, ihn menschlicher und nahbarer erscheinen zu lassen. Zugutehalten muss man Federer, dass er öffentliche wie private Rückschläge eingesteckt hat und immer wieder auf die Füße gekommen ist, mit positiver Energie und langfristiger Perspektive.

Er hat die Dimension des Tennissports erweitert, nicht indem er ihn als Plattform für höhere Ziele einsetzte, sondern indem er weitgehend innerhalb der Grenzen des Sports blieb. Eine beachtliche Leistung angesichts der schrumpfenden und alternden Fangemeinde in Europa und Nordamerika.

Seine Herangehensweise ist „oldschool“: zurückhaltend bei kontroversen Themen und in Bezug auf sein Privatleben, im Umgang dafür jovial mit ausgeprägtem Sportsgeist.

Ein Langweiler ist er wohl kaum. Wie könnte man jemanden, der Menschen rund um den Erdball zu verbinden weiß, auch so bezeichnen?

Federer steht für „schönes Tennis“: tänzerisch und oft über dem Boden schwebend, wenn er beim Aufschlag oder Grundlinienschlag den Treffpunkt einen Moment länger fixiert als jeder andere Spieler, den ich in meinen mehr als 30 Jahren als Tennisreporter beobachtet habe. Dieses Talent, einen Schlag wirklich und wahrhaftig zu Ende zu führen, wirkt bisweilen fast unbekümmert, aber es ist ein wichtiger Bestandteil seiner Anziehungskraft. Es ist vergleichbar mit Michael Jordans Spezialität, etwas länger als alle anderen in Richtung Basketballkorb zu fliegen, oder Tänzern, die in der Bewegung einen winzigen Moment innehalten, um einer Pose Nachdruck zu verleihen.

„Er ist der schönste und anmutigste Spieler, den ich je gesehen habe“, sagte mir Billie Jean King einmal. „Seine kinetische Kette bleibt sehr geschlossen. Das ist das Geheimnis seiner Eleganz.“

Das Profitennis hat in den letzten 25 Jahren unglaubliche Dynamik erhalten: Die Schläger haben heute Polyestersaiten und sind viel schlagkräftiger, und die Sportler sind größer und aggressiver. Schlagtechniken und Beinarbeit mussten sich an die zunehmende Ballgeschwindigkeit anpassen, und doch scheint Federer immer noch genügend Zeit zu haben, seinen Schlägen den letzten Schliff zu verpassen. Wie gelingt es ihm, so zu spielen und sich dennoch rechtzeitig vor dem nächsten Glanzschlag zu erholen? Es liegt sicher daran, dass er ungewöhnlich vorausschauend, beweglich und flink ist, aber auch daran, dass er relativ kompakt schlägt und das nötige Selbstvertrauen besitzt – er weiß, dass andere planen, sich abrackern und zwingen, während er selbst spontan und unter Hochdruck Lösungen zu zaubern scheint, für die anderen das nötige Rüstzeug – oder Schweizer Taschenmesser – fehlt.

Marc Rosset, der beste Schweizer Tennisspieler, bis Federer die Messlatte in unerreichbare Höhen schraubte, spricht gern über Federers „Verarbeitungsgeschwindigkeit“.

Rosset erinnert sich an eine Übung, bei der jemand fünf unterschiedlich gefärbte Bälle in die Luft warf und die Spieler aufforderte, sie in einer bestimmten Reihenfolge zu fangen. „Mehr als vier habe ich nie geschafft“, sagte Rosset. „Ich fand das wirklich schwer. Rog konnte man fünf Bälle zuwerfen, und er fing alle fünf.“

Rosset weiter: „Die Leute achten unglaublich darauf, wie gut ein Sportler mit seinen Händen oder Füßen agiert. Aber es gibt eine Begabung, über die wir zu wenig sprechen, und das ist Reaktivität, also die Fähigkeit des Gehirns, visuelle Reize zu interpretieren. Wenn man die Sportgrößen betrachtet, einen Fußballspieler wie [Zinedine] Zidane oder [Diego] Maradona oder Tennisspieler wie Federer, Djokovic oder Nadal, dann hat man bisweilen den Eindruck, dass sie sich in der Matrix befinden – alles geht so unheimlich schnell, zu schnell für jemanden wie Sie oder mich. Sie erfassen Dinge so rasch, als ob ihrem Gehirn mehr Verarbeitungszeit zur Verfügung stünde.

Wenn Zidane dribbelte, dann bewegten sich teils vier Spieler um ihn herum, und trotzdem blieb er ruhig. Aus seiner Perspektive vollzog sich das alles in Zeitlupe. Diese Topstars sind den anderen immer den Bruchteil einer Sekunde voraus, deswegen können sie entspannt bleiben. Schauen Sie sich einige dieser unglaublichen Schläge an, die Roger im Verlauf seiner Karriere hingelegt hat – das sind keine Schläge, die man vorher üben kann.“

Wer Federer an einem seiner Glanztage beobachtet hat, ist von seinen fließenden Bewegungen fasziniert und wartet gleichzeitig gespannt auf einen Zaubertrick, der garantiert kommen wird – nur wann? Es ist ein doppelter Rausch, der noch intensiver wird, wenn man darüber nachdenkt, wie zielgerichtet er sich im Laufe seiner Karriere den jeweiligen Herausforderungen gestellt hat. Er kommt ganz ohne Tiraden und Geplänkel aus. Während er sich voll auf das physische Ausführen konzentriert, verraten die Augen nur wenig über das Auf und Ab seiner Gefühle.

„Er spielt den Ball, aber er spielt auch mit dem Ball“, erzählte mir mal sein Freund und langjähriger Trainer Severin Lüthi.

Diese Eigenschaft spricht Insider genauso wie Außenstehende an. „Wenn es einen Typen gibt, der andere Spieler ins Staunen versetzen kann, dann ist es Fed“, sagte Brad Stine, ein erfahrener Trainer, der mit Kevin Anderson und dem ehemaligen Weltranglistenersten Jim Courier gearbeitet hat. „Sie beobachten ihn und fragen sich: ‚Wie macht er das nur? Also mal ehrlich, wie bekommt man einen solchen Schlag hin?‘“

Auch John McEnroe war ein Künstler mit Schläger, allerdings ein gepeinigter. Wenn Johnny Mac eine Art Jackson Pollock war, der Farbe verspritzte und damit seinen inneren Kampf ausdrückte, dann

war Federer näher an Peter Paul Rubens: produktiv, ausgeglichen, dem Massengeschmack zugänglich und dennoch in der Lage, Experten mit seiner Pinselführung und Komposition Schauder der Begeisterung über den Rücken zu jagen. Eine beeindruckende Performance, ohne Frage – aber eine, die genügend Platz auf der Leinwand lässt, um anderen ihre eigene Interpretation des Werks zu ermöglichen.

Federer selbst möchte über sein Erfolgsrezept gar nicht nachdenken – „Im Grunde ist es ganz einfach“, sagt er –, aber es ist für ihn in Ordnung, wenn andere es tun.

Ich erinnere mich an ein Gespräch darüber mit Federer im Jahr 2018, kurz bevor wir in der kalifornischen Wüste einen Privatjet bestiegen (meine erste und vermutlich letzte Reise in einem solchen Flugzeug). Am Vortag hatte er das Finale der BNP Paribas Open gegen del Potro bestritten und dabei drei Matchbälle bei eigenem Aufschlag vergeben sowie einen Tiebreak im dritten Satz verloren, seine erste Niederlage in der laufenden Saison. Es war so eng gewesen und die Reaktionszeiten waren unfassbar knapp, selbst für einen wie ihn.

„Taktik? Ja, darüber reden alle gern“, sagte Federer. „Doch auf diesem Niveau kommt es meist nur auf Gefühl an. Alles geht so schnell, dass man vor dem Schlag kaum Zeit zum Nachdenken findet. Natürlich spielt auch Glück eine Rolle.“

Tatsächlich hatte Fortuna bei Federer die Hand im Spiel. Vielleicht wäre er nie ein Champion geworden, jedenfalls nicht im Tennis, wenn nicht ein Profi namens Peter Carter ausgerechnet in einem kleinen Basler Club eine Stelle als Trainer angenommen hätte. Womöglich hätte Federer nie das nötige Stehvermögen erlangt, wenn er nicht einen intellektuellen, sensiblen und talentierten Konditionstrainer namens Pierre Paganini getroffen hätte oder im Laufe seiner Karriere auf Mirka Vavrinec gestoßen wäre, eine ältere Schweizer Spielerin, die später seine Ehefrau, Teilzeit-Presseagentin und Hauptorganisatorin wurde. Ohne ihre volle Unterstützung und ihren Ehrgeiz hätte er wohl niemals so lange und so überzeugend gespielt.

„Ihr Erfolgswille ist ebenso ausgeprägt wie der von Federer, vielleicht sogar stärker“, sagte mir der französische Konditionstrainer Paul Dorochenko, der in seinen frühen Schweizer Jahren mit Vavrinec und Federer gearbeitet hat.

Doch im Leben und ganz sicher im Profitennis kommt es darauf an, was man aus Chancen und glücklichen Zufällen macht. Federer nutzte sie meist.

Der Mensch Federer ist eigentlich nicht so lässig-elegant, wie seine Marketing-Fachleute ihn oft erscheinen lassen. Er ist intelligent und intuitiv, aber den charmanten Wortwitz à la James Bond beherrscht er nicht. Die Schule verließ er mit 16, er galt als nicht sonderlich eifriger Schüler. Sein Leben als Erwachsener und die Tour ging er dagegen mit Disziplin und Strenge an.

„Ich empfinde das hier als Lebensschule“, sagte er in Argentinien.

Obwohl Federer ohne Frage begabt war, unterschied er sich von manchen anderen Talenten seiner Generation nicht zuletzt durch seine beständige Liebe zum Tennis und den Drang, immer noch mehr aus sich herauszuholen. Für ihn stand immer fest, dass man im Profitennis an Boden verliert, wenn man nur das Niveau hält – eine Überzeugung, die auf seine jüngeren Gegner übergegangen ist.

„Auf diesem Niveau muss man meines Erachtens vor allem immer bestrebt und offen dafür sein, besser zu werden, Techniken perfekt zu beherrschen und sich in jeder Hinsicht zu entwickeln“, sagte mir Djokovic kürzlich. „Ich weiß, dass Roger viel darüber gesprochen hat, und glaube, dass die meisten Topathleten – egal welcher Sportart – dem zustimmen würden. Stillstand ist Rückschritt.“

Federer kannte – oder erkannte mit der Zeit – seine Schwächen und arbeitete daran: Frustrations- und Aggressionstoleranz, Konzentration und Ausdauer, sein chronisches Rückenleiden und sein einhändiger Rückhandschlag. Er wechselte seine Taktik, attackierte stärker von der Grundlinie als vom Netz aus. Er legte sich einen Schläger mit größerer Schlagfläche zu, um seine Chancen bei längeren Ballwechseln zu erhöhen, und wechselte mehrfach – aber nicht aus einem spontanen Impuls heraus – den Trainer, um neue Einsichten zu gewinnen. Zeitweise spielte er ganz ohne Trainer. Lebenslang suchte er nach Menschen, die ihm als Mentor oder gar als Vorbild für seine nächste Phase dienen konnten: von Sampras über Tiger Woods (vor dessen Sündenfall) bis hin zu Bill Gates, dessen karitativen Ansatz Federer in seinen späteren Lebensjahren übernehmen möchte.

Sein Erfolg gründet vor allem in seinen Qualitäten als Tennisspieler, aber seine Sozialkompetenz spielt eben auch eine Rolle. Längst nicht allen Superstars des Tennis gelingt es, sich in die Lage anderer zu versetzen. Federer ist empathisch, er registriert laufend die Gefühle seines Gegenübers und die Energie, die in einem Stadion, auf der Straße, in einem Zimmer – oder auf einem Autorücksitz – herrscht.

„Er hat eine außergewöhnliche soziale Intelligenz, und ich halte das für einen sehr wichtigen Aspekt seiner Beliebtheit“, sagte der amerikanische Starspieler und Federers späterer Freund Andy Roddick. „Er ist ein Chamäleon. Er kann in praktisch jeder Umgebung arbeiten und bleibt dabei authentisch. Er passt sich nicht in irgendeiner berechnenden Art und Weise an.“

Ungefähr auf halber Strecke zwischen Tigre und der Innenstadt von Buenos Aires durchbrach ein Auto unseren Begleitschutz und fuhr mit hoher Geschwindigkeit längs an unser Fahrzeug heran. Ein junger Mann, dessen Augen vom Jagdfieber und womöglich von der Wirkung irgendwelcher Substanzen glühten, lehnte sich halb aus dem Fenster und winkte Federer mit einer Kappe mit aufgesticktem „RF“- Monogramm zu.

„Na, zumindest weißt du jetzt, dass sich deine Werbeartikel verkaufen“, sagte ich.

Federer kicherte und winkte durch die Scheibe zurück. „Hoffentlich verliert er die Kappe nicht“, sagte er. „Bye-bye. Bye-bye.“

Federers feine Antennen erklären zum Teil dann auch seine Tränenausbrüche nach einem Tennismatch. Sie kommen heute viel seltener vor, sind aber immer noch untrennbarer Teil seiner Persönlichkeit. Sie scheinen nicht nur Freude oder Enttäuschung auszudrücken, sondern auch ein Ventil zu sein, um sich von all dem, was auf dem Spielfeld auf ihn einstürmt, zu entlasten. Und es geht dabei nicht nur um die Emotionen, die er selbst in ein Match oder ein Turnier investiert hat, sondern vielmehr um das, was alle zusammen einbringen.

„Erscheint einem das nach einer Weile denn normal?“, fragte ich, als der Fan mit seiner RF-Kappe davonbrauste.

„Das? Nein, nein, nein“, sagte er und hob dabei die Stimme an. „Das ist unglaublich. Es macht Spaß, so fröhliche Menschen zu sehen, oder? Das ist einfach eine ganz andere Welt hier, und deshalb spiele ich so gern Show-Turniere. Weil sie anders sind. Man kommt in ein Land, das man vielleicht noch nie besucht hat, oder tut Dinge, für die man normalerweise keine Zeit hat. Man muss sich nicht wahnsinnig viele Gedanken über sein Spiel machen, obwohl es ein gewisses Niveau gibt, das ich immer erreiche. Doch eigentlich geht es um, wie soll ich sagen – nun ja, darum, in einem Show-Turnier möglichst viele Herzen zu berühren, die Leute glücklich zu machen und dafür zu sorgen, dass sie nicht kommen, um einen zu sehen, sondern dass man selbst kommt, um sie zu treffen.“

Auf Pressekonferenzen gestellte Fragen beantwortet Federer ausführlich und mit einer gewissen Zurückhaltung. Nur selten schweift er vom Thema ab oder gibt ungefragt Informationen preis. Er respektiert die Frage und die Fragestellenden – anders als einige seiner Vorgänger (siehe Jimmy Connors) oder Kollegen (siehe Lleyton Hewitt und leider, in ihren späten Jahren, auch Venus Williams). In einem intimeren Rahmen führen Federers natürliche Ausgelassenheit und Leutseligkeit oft dazu, dass er beim Sprechen mit den Armen wedelt und sich in weitschweifigen Ausführungen verliert. Äußert er sich auf Englisch – seine erste, aber nicht immer beste Sprache –, so landet er oft auf unerwartetem Terrain und muss dann kehrtmachen und einige Umwege nehmen, um an sein ursprüngliches Ziel zu gelangen.

Abseits der Fernsehkameras ist sein Auftreten weniger geschliffen, manchmal albert er auch gern herum. Seine Streiche und Überraschungen hebt er sich für den Freundes- und Kollegenkreis auf.

Ich habe im Laufe der Jahre einige Reisen unternommen, und dieses Buch wird Federers Karriere teilweise durch das Prisma dieser Erfahrungen betrachten. Es ist keine Federer-Enzyklopädie. Jede Tenniserzählung wird blutleer, wenn sie in einem fort Spielergebnisse und Match-Zusammenfassungen liefert, und mit über 1700 Spielen auf Tour-Niveau sowie Pressekonferenzen nach den meisten dieser Spiele hat Federer uns Biografen unermesslich viel Material an die Hand gegeben. Dieses Buch möchte vielmehr behutsam anhand von Episoden und Interpretationen die Orte, Menschen und Duelle beleuchten, die Federer wohl am meisten bedeutet haben oder den stärksten Symbolcharakter für ihn hatten.

Er hat einen Großteil des Planeten bereist: auf der Jagd nach Trophäen, Geld, Neuheiten, Erfüllung und – im Laufe der Jahre zunehmend – Gemeinschaft.

Argentinien war ein unerwartet bedeutsamer Stopp auf seiner Reise. Als wir uns seinem Hotel in der Innenstadt von Buenos Aires näherten, gestand Federer, der zu diesem Zeitpunkt schon 17 Grand-Slam-Titel gewonnen hatte, dass er sich immer noch zu verbessern hoffe.

„Hiernach werde ich mir einen Urlaub gönnen, mich erholen und einfach abschalten, denn die letzten Jahre waren sehr intensiv“, sagte er. „Mein Gefühl sagt mir: Wenn ich in diesem Tempo weitermache, könnte ich die Lust verlieren, abstumpfen, wie du vorhin meintest.“

Federer lachte.

„‚Abstumpfen.‘ Ein neues Wort in meinem Vokabelschatz und das Letzte, was mir passieren soll“, sagte er. „Hoffentlich wird das kommende Jahr ein Sprungbrett für viele weitere Jahre. Das ist die Chance, die ich mir selbst geben möchte.“

Roger Federer

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