Читать книгу Fahlmann - Christopher Ecker - Страница 7
ОглавлениеBilderbeck schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab: Ein schlankes Mädchen mit dunkelblondem Haar hatte die Veranda betreten. Katzengleich strich sie an Bahlows Korbsessel vorbei; ihr leicht süßlicher Schweißgeruch erinnerte an Vanille. Bahlow deutete eine Verbeugung an; sie schwang sich auf das Verandageländer. Der Ägyptologe nahm die Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das ölige Gesicht. Das Mädchen gab Bahlows Verbeugung mit spöttisch aufgeworfener Oberlippe zurück. Unter ihrer weißen Bluse zeichneten sich kleine, zart entwickelte Brüste ab; leichter Flaum glänzte über den aufgesprungenen Lippen; und als sie den Arm hob, um einen Pfosten der Veranda zu umschlingen, schimmerte das Haar ihrer linken Achselhöhle durch den Stoff. Bilderbeck hatte sich seit ihrer Ankunft in brütendes Schweigen zurückgezogen.
Hier in Deutsch-Ostafrika ist scheinbar alles möglich, dachte Bahlow, den am meisten der Umstand verwirrte, dass sie Männerhosen trug. Er leerte das Glas, schenkte wieder nach. Männerhosen! In einem verrufenen Berliner Lokal (sein Freund Nägele überredete ihn zum Besuch) hatte Bahlow zum ersten Mal in seinem Leben Frauen in Hosenröcken gesehen, und einmal, ja, das hätte er beinahe vergessen, also einmal hatte er ein Mannweib in Radlerinnenhosen auf Spiekeroog gesehen. Das Mädchen, Bahlow nahm an, dass sie höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre zählte, lehnte mit dem Rücken an einem der Stützpfosten, die Füße auf das Geländer gelegt, die Beine überkreuz, und als sie einen neugierigen Blick auf ihn richtete, verbeugte sich Bahlow ein zweites Mal. «… läuft nachts unterirdisch», hörte er den Ägyptologen schulmeistern. «Ja, die Sonne! Ja, die Sonne reist in der Nachtbarke Mesektet durch die Unterwelt.» Bahlow sah ihr in die Augen. Trotzig hielt sie dem Blick stand. Er trank einen Schluck. Lecker. Der lange Schatten der Sherryflasche verwandelte den Tisch in das Zifferblatt einer Uhr. Der ferne Bilderbeck sprach weiter, Ägypten, Ägypten, und auf einmal zog die stetig sprudelnde ägyptische Zisterne eine für Bahlow gänzlich unverständliche Parallele zu Mitternachtssonne, Nordkap, Spitzbergen, doch als er höflich nachhaken wollte, was Bilderbeck denn mit diesem groben Unfug bezwecke, stellte er fest, dass er zu betrunken war, um den Trupp davonhastender Wörter (schlüpfte da nicht «Ägypten» unter Bilderbecks Korbsessel?) in einem anständigen Satz zu versammeln. Er erhob sich, ein Glas fiel zu Boden, zersprang.
«Wir sollten unser Gespräch auf morgen verschieben», sagte Bilderbeck schroff. Er wandte sich an seine Tochter: «Würdest du bitte so freundlich sein, Herrn Bahlow das Gästezimmer zu zeigen?»
Das ist doch nicht nötig, nicht nötig, hoppsa, nicht so schnell, bitte! Dankbar registrierte Bahlow, dass sie im Salon und im Flur bisweilen innehielt, damit er Anschluss gewinnen konnte. Dann stieg sie vor ihm die Treppe hinauf, bedächtig, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt. Sie streckt ihren Hintern raus, dachte Bahlow. Das kleine Luder bietet mir ihren Hintern geradezu an! Mit einer unsicheren Bewegung schob er ihr die rechte Hand zwischen die Beine und bewegte sie langsam zwischen den Schenkeln hin und her.
Sie stieg die Treppe hinauf, ohne sich umzudrehen, atmete aber schwerer und drückte ihren Unterleib fest gegen seine sägende Hand. Als sie im ersten Stock ankamen, stieß sie mit gerötetem Gesicht hervor: «Das ist Ihr Zimmer!» Bahlow sah ihr betäubt nach. Seine Spucke schmeckte wieder säuerlich, ekelhaft, aber er hätte sie trotzdem auf den Mund geküsst, diesen kleinen Engel. «Hallo?», rief er leise. «Hallo?» Er roch an seiner Handkante. «Hallo?»
Sie kam nicht wieder. Er irrte eine Weile im Obergeschoss umher, stieß auf eine offene Tür, erschrak, murmelte Entschuldigungen, kicherte, nein, da lag gar kein fremder Herr im Bett, da hatte bloß jemand seinen Pyjama ausgepackt und ihn mit mumiengleich über der Brust gekreuzten Armen (oh, diese albernen Scherze der Ägyptologen!) auf der Bettdecke drapiert. Bahlow übergab sich in die Nachttischschublade und legte sich ins Bett, einem unentwegt zu kentern drohenden Dampfer inmitten eines schwarzen traumlosen Ozeans. Bahlow erwachte in der schaukelnden Gewissheit, sich noch immer auf hoher See zu befinden. In der Nachbarkabine vergnügte sich der schafsgesichtige Witzbold mit einem ordinären Weibsbild, deren Kopf er stöhnend an die Wand schmetterte – aber waren das nicht Schreie? Beharrlich schob sich das Gästezimmer über die Kajüte. Bahlow seufzte, sah auf die Uhr, unten schlugen Türen, halb vier, jemand brüllte eine Anweisung auf Kisuaheli, eine leise Stimme gab eine bekümmerte Antwort. Vielleicht hat sie ihrem Vater alles erzählt?
Bahlow verspürte das Bedürfnis, die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen, aber dann siegte die Besorgnis, sie hat ihm alles erzählt, angefasst hat er mich, untenrum, ängstliche Füße verließen das Gästezimmer, tasteten sich Stufe um Stufe hinab zu dem quadratischen Treppenabsatz, wo die Treppe in einer heftigen Bewegung zum Hausflur hin abknickte. «Gehen Sie sofort in Ihr Zimmer zurück!», schrie Bilderbeck. Er umklammerte die Griffe eines gewaltigen Nussknackers, Bahlow blinzelte, nein, kein Nussknacker, vielmehr erinnerte das gewichtige Gerät in Bilderbecks Händen an eines dieser Essbestecke, mit denen man in vornehmen Restaurants Hummerscheren zu knacken pflegt – allerdings hatte dieses Alptrauminstrument die Größe einer Heckenschere. «Gehen Sie! Sofort!», brüllte Bilderbeck. Den Flur erfüllte ein flackernder Lichtschein. «Oder muss ich Ihnen erst Beine machen!» Bahlow schloss zweimal hinter sich ab, lehnte sich schwer atmend gegen die Tür des Gästezimmers. Diese Facette Afrikas bedurfte einschneidender Emendationen! Unten schrien Menschen, brüllten, lachten, etwas wurde die Treppe hoch- und gleich darauf wieder runtergeschleift; ein dumpfer Aufprall ertönte. Irres Gelächter erklang, während man etwas Sackartiges, Schweres über die Dielen zerrte. Trat für einen Moment Stille ein, wurde Bahlows Phantasie durch alptraumhafte Gefilde gehetzt. Doch diese Stilleperioden währten nie lange. Jemand drosch mit einem Hammer auf splitterndes Holz, Glas zersprang mit einem befreiten Klirren, jemand gab flehende Laute von sich, brutal brüllte man ihn nieder, die Haustür wurde zugeschlagen. Geschwind trat Bahlow ans Fenster. Auf der Sandstraße war niemand zu sehen. Doch halt! Am Straßenrand verbarg sich zwischen den Palmen eine dünne Gestalt. Bahlow sah weiße Augen und eine Reihe grinsender Zähne. Die Gestalt deutete zu ihm herauf, gestikulierte erregt, trat einen Schritt zurück und verschmolz mit den Schatten. Jemand sang im Korridor vor dem Zimmer ein kehliges Lied. Leichte Schab- und Kratzgeräusche erfüllten das Treppenhaus. Dann kehrte Stille ein, völlige Stille.
Als Bahlow am nächsten Morgen das Zimmer verließ, erwartete ihn ein verwüstetes Heim. Aufgerissene Schränke erbrachen Kleider und Hausrat; der Cocktailtisch versuchte sich an einem Kopfstand; Bücher, die aussahen, als hätte man sie mit aller Kraft an die Wand geworfen, bedeckten die geborstenen Dielenbretter. Man wird Sie am späten Vormittag am Hafen abholen, stand auf dem Zettel, den ein Federmesser an einen Stützbalken heftete. Erwähnen Sie mich nicht. Ich melde mich bei Ihnen. Halten Sie sich an Ihre Weisungen. Alles Gute! Bilderbeck. Weisungen? Er hatte keine Weisungen. Fluchend stieg Bahlow die mit Menschenkot besudelte Treppe hoch, packte den Pyjama in die Reisetasche und nahm, auch auf die Gefahr hin, sich zum Gespött zu machen, den Tropenhelm aus der Hutschachtel und setzte ihn auf. Licht. Überhell. Brennend. Sonne. Haustür schräg in den Angeln. Quietscht. Kracht an die Hauswand. Denken. Gestern sind wir. Orientieren. Raus hier! Nur raus hier!
Bilderbecks Anwesen krönte eine Anhöhe, von der aus sich die Sandstraße in eine Senke hinabschlängelte, an deren Grund die Luft flirrte wie kochendes Wasser. Von der Senke aus würde es fast ebenerdig zum Hafen gehen. Also los! Bahlow trug die Kiste ein Stück in die Senke hinab und kehrte zu Bilderbecks Haus zurück, wo ihn sein übriges Gepäck erwartete. Bald leisteten Reisetasche und Seesack der Kiste Gesellschaft. Bahlow kehrte um, um die Rolle Maschendraht und das Fangnetz zu holen, und schon hatte sich seine gesamte Habe um gut fünfzig Meter dem Hafen genähert. Der aus allen Poren schwitzende Entomologe setzte die Maschendrahtrolle und das schlappe Fangnetz jedoch nicht bei der Kiste, der Reisetasche und dem Seesack ab, sondern trug sie – an Camp Eins vorbei – zu einem wiederum fünfzig Meter näher am Hafen liegenden Punkt, den er im Geiste Camp Zwei nannte. Als Bahlows Gepäck sich zwei weitere Stationen auf den Hafen zubewegt hatte, trat ein pockennarbiger Europäer aus dem Dickicht am Wegesrand und erwartete ihn am sog. Camp Vier, das Bahlow in diesem Augenblick mit Seesack und Reisetasche komplettierte. «Ich nehme an, Sie sind der Entomologe Bahlow, der zur Tendaguru-Expedition stoßen soll.» Bahlow nickte. Vielleicht würde ihm der Mann helfen, das Gepäck zum Hafen zu transportieren. «Hier! Geben Sie das bitte von Geinitz!» Bahlow nahm den Umschlag entgegen. Vor einigen Tagen war er über das Oberdeck geschlendert, ein lauer Abend, ich habe als einer der letzten Reisenden den Tropenanzug angelegt, Kamelkarawanen zogen am Ufer des Suezkanals entlang, auf einmal stand dieser Heizer oder Kohlentrimmer oder Was-auch-immer vor ihm, ein rußiges Gesicht, maulwurfsartig blinzelnde Augen. Genau! Der Fremde erinnerte Bahlow an den verschreckten Heizer, der sich ähnlich lauernd und gehetzt umgesehen hatte.
«Man holt Sie am Hafen ab.»
«Ja», antwortete Bahlow.
«Das war keine Frage.» Mit zwei weit ausholenden Schritten erreichte der Pockennarbige den Straßenrand; grüne Wellen schlugen über ihm zusammen. «Sie werden dort bereits erwartet», kam es aus dem Dickicht, gefolgt von einem sich eilig entfernenden Rascheln und Knacken.
Bahlow steckte den Umschlag in die Innentasche der Jacke, bückte sich nach der Kiste. Bei Camp Fünf schloss sich ihm eine Gruppe Kinder an, die das Gebaren des schweißgebadeten schimpfenden Weißen entzückte, der mit einem großen Haufen Besitztümer durch die Lande zog. Bahlow verfluchte erneut sein Versagen am Quai du Port, schrie: «Weg von der Kiste!» Mehr Kinder, Frauen, Männer, Camp Sechs, Sieben, die Meute wurde ausgelassener, johlte, wenn ihm der Tropenhelm in die Augen rutschte, sang, Camp Acht, Bahlow verfluchte sein Versagen auf Bilderbecks Veranda. «Nur beobachten!», höhnte eine Stimme in seinem Kopf, die unangenehm an die seines Lateinlehrers erinnerte. «Sein Leben führen wollen, als läse man ein Buch! Carl, sie geben dir das Afrika, das du verdienst!» Gegen Mittag erreichte Bahlow den Hafen als Mittelpunkt eines beweglichen Volksfestes. Und so begann sein afrikanisches Abenteuer.
5Oft habe ich das Gefühl, mich in der Etage geirrt zu haben, verirrt in einem Haus, über dessen Eingang ein Schild angebracht ist, auf dem in den unsicheren Krakeln eines Fünfjährigen DAS LEBEN steht. Heute sehe ich geflissentlich über das selbstmitleidige Pathos des Betrunkenen hinweg (in jenen Tagen erwachte meine Neigung zu autobiographischer Bestandsaufnahme erst, wenn ich ein gewisses Level erreicht hatte, ein Level, das bei etwa vier Bier aufwärts lag), mir geht es vielmehr um dieses Gefühl der Verunsicherung, das in obigem Notizbucheintrag weit weniger durch eine Metapher ausgedrückt wird, als es den Anschein erwecken mag: Im Alter von fünf Jahren hatte ich mich tatsächlich einmal in der Etage geirrt. Damals besuchte ich mit meinen Eltern «Onkel» Richard, einen zotenreißenden Kegelbruder meines Vaters. Was «Onkel» Richard von Beruf war, weiß ich nicht mehr. Irgendwas mit Holz. Jedenfalls hatte er Geld und veranstaltete regelmäßig Gesellschaften mit Tanz und kaltem Büffet. Im Mittelpunkt dieser Feiern stand nie er, sondern seine um einige Jahre jüngere Frau, «Tante» Monika. Sie trug zur Freude aller anwesenden Kegelbrüder tief dekolletierte Kleider und war unglaublich doof. So ersetzte sie mit kokettem Augenaufschlag die Vokale vermeintlich anstößiger Wörter durch mit Pünktchen bekleidete Umlaute. Dem-und-dem gehöre mal so richtig der «Ärsch» versohlt, konnte sie sich empören, oder sie erzählte, Richard sei es wegen eines aufgewärmten Fischgerichts so schlecht gegangen, dass er die ganze Nacht lang «gekötzt» habe, wobei sie das «ö» in die Länge zog und mit einer Achterbahnfahrt heiterer Tremoli verzierte.
Ich erinnere mich noch gut, wie sie mich, als ich vom «Klöchen» kam, mit der Frage bestürmte, ob ich ein kleines oder (dramatische Pause) großes Geschäft gemacht habe. «Klein», log ich. Sie nestelte an meinem Hosenladen herum und schob mich nach einigen Tätschlern aufs «Pöpili» ins Wohnzimmer zu den übrigen Gästen. Hier diskutierte Vater über Politik, Mutter half wohl in der Küche beim Garnieren der Platten, gelangweilt aß ich einige Cracker, stopfte mir die Hosentaschen mit Fischlis voll und schlenderte unbeachtet zwischen den Erwachsenen umher, bis mir «Onkel» Richard einige Münzen in die Hand drückte und mich zum Zigarettenautomaten an der Ecke schickte. «Der hängt so tief, da kommst du dran, kleiner Mann! Meine Hausmarke heißt Lasso. Wie das Ding, mit dem die Herren Cowboys die Kühe fangen.» Ha! Wenn der denkt, ich weiß nicht, was ein Lasso ist, hat er sich geschnitten! Breitbeinig wie ein Westernheld näherte ich mich dem Zigarettenautomaten und wartete, bis ein älteres Ehepaar vorbeispazierte. Erst dann warf ich mit größter Selbstverständlichkeit die Münzen ein und zog am Griff der Lasso-Schublade, worin die Zigarettenschachtel lag wie in einem Metallsarg. Leider würdigte mich das Ehepaar keines Blickes. Ich trödelte noch eine Weile enttäuscht am Automaten herum, dann ging ich zurück.
Die beiden in zwei aufrechten Reihen balancierenden Klingelknöpfe an der Leiste neben der Haustür erinnerten mich an die Zitzen einer Sau (dieses biologische Fachwissen hatte ich wahrscheinlich aus der Sendung mit der Maus), und auf den Zehenspitzen stehend drückte ich mit dem Kochlöffel, den mir meine Mutter wohlweislich mitgegeben hatte, die dritte Zitze von unten. «Ja, bitte?» – «Ich bins.» – «Wer ist da? Hallo? – Hallo?» Geduldig erklärte ich der Sprechanlage, einer mechanisch klingenden, aber dennoch superblöden «Tante» Monika, wer ich war. Endlich begriff sie. «Ah, du bist es, Georgli!» Das Schloss brummte, ich drückte die Tür auf, stapfte die Treppe hoch, erster Stock, stapf, stapf, stapf, zweiter Stock, netterweise hatte man die Wohnungstür offen gelassen, damit ich nicht zu klingeln brauchte, ich trat ein – und stand in einem leergeräumten Flur. Die Garderobe war verschwunden, stockfleckige Tapeten lösten sich von den Wänden, kein Teppich bedeckte mehr den Boden, die Stille war greifbar. Beklommen öffnete ich die Tür zum Wohnzimmer, aber auch hier erschreckten mich kahle Wände. Keine Bilder, keine Gardinen. Der Luftzug der in den Raum schwingenden Tür trieb dicke Wollmäuse über einen Holzfußboden, auf dem nur helle Flächen zurückgeblieben waren, die Echos von verschwundenen Möbeln und Teppichen. Sie haben alles mitgenommen, dachte ich. Noch nicht mal die Lampen haben sie hängen lassen. Deshalb hat er mich also Zigaretten kaufen geschickt. Ich schrie so laut, dass man mich in der dritten Etage hörte. Nach geraumer Zeit fanden mich «Onkel» Richard (belustigt) und Vater (verlegen) in der leeren Wohnung: In der Speisekammer, die Knie an die Brust gezogen. «Wir sind oben!», erklärte Vater. «Ein Stockwerk höher.» Und kurz darauf: «Siehst du, wir sind alle noch da!» Doch ich ließ sein Bein erst wieder los, als wir zu Hause aus dem Taxi stiegen.
Ein ähnliches, wenn auch nicht so traumatisches Erlebnis hatte ich Jahre später, als ich mich mit der Métro verfuhr. Ich war unterwegs zur Station Jussieu, versuchte den Kulturteil einer französischen Zeitung zu lesen, malte Kreise und Schlaufen unter Paris, die Buchstaben einer außerirdischen Schrift, wir tauchten aus dem Boden auf, um eine überirdische Station anzulaufen, ein Moment kurzen Glücks, dann riss es uns wieder hinab in die Dunkelheit. Auf einmal hielt die Métro, und sämtliche Passagiere stiegen in einer beunruhigenden Gelassenheit aus, als wüssten sie alle etwas, das ich nicht einmal ahnte. Ich ließ die unverständliche Lektüre auf einem pflichtbewussten Sitz liegen, der nicht hochklappte, um nach dem sich entfernenden Hintern des Aufstehenden zu schnappen, und folgte der Menge. Ein Meer von Köpfen glitt auf einer langgezogenen Rolltreppe in eine tiefere Etage. Hier verkehrten richtige Züge, RER, stand an den Wänden, seltsame Pläne, seltsame Namen, eine Welt unter der Métro, Châtelet Les Halles, halt, das kenn ich doch, umherirren, Schilder, Rolltreppen, endlose Gänge, Spiegel, Schilder, Treppen hinauf, Treppen hinab, Schilder, ein Drehkreuz, ja, bestätigte mir ein deutscher Familienvater, die violette Linie fahre zum Porte de Clignancourt, bei Barbès-Rochechouart stieg ich aus (wie immer verkaufte der alte Araber Nüsse und Gewürze auf seiner umgedrehten Apfelsinenkiste, ich freute mich richtig, ihn zu sehen), quetschte mich in einen überfüllten Wagon, fuhr eine Station weiter in Richtung Porte Dauphine und hatte mich erst wieder halbwegs beruhigt, als ich die Station Anvers durch das vertraute Jugendstiltor verließ.
Achim, mit dem ich an unserem Stammplatz in Mollingers Eck saß, konnte ich meine beiden «Etagen-Erlebnisse» nicht erzählen. Er war nicht in Stimmung für ein ernsthaftes Gespräch. Ich hielt ihm mein Bierglas hin. Wir stießen an. Ich hatte mich eben an diese beiden Erlebnisse erinnert, weil Heinz behauptet hatte, er wäre vor einigen Jahren mit einigen Freunden durch die Kneipen gezogen und hätte Betrunkene aufgegabelt, um sie in anderen Städten auszusetzen. «‹Klar fahrn wir dich nach Hause!›, haben wir denen gesagt, und wenn wir gemerkt haben, dass sie so breit waren, dass sie nix mehr geschnallt haben, gings ab auf die Autobahn.» Heinz zauberte eine Zigarette hinter dem Ohr hervor, brach den Filter ab, sagte: «Hat mir Molli geschenkt», steckte sie an und sprach weiter, wobei er die Tabakfäden, die an der Lippe kleben blieben, trocken zur Seite spuckte. «Also stellt euch vor, ihr wankt durch die Stadt, thp, und wisst absolut nicht, wo ihr seid, thp, thp, und ihr orientiert euch am, thp, Karstadt, aber so wie hier hat das Karstadt noch nie ausgesehen, thp, tshp, Scheißzigarette!» Er zerquetschte sie im Aschenbecher. «Alles falsch, ihr kennt die Straßennamen nicht, kennt die Straßen nicht, auch wenn sie so heißen, wie sie sonst heißen, und wenn ihr dann zum Bahnhof geht …» – «Ist der Bahnhof ein unheimliches, ein fremdes Gebäude», ergänzte ich. Heinz nickte und zündete sich mit sichtlichem Behagen eine Gauloises an. «Gemein!», sagte Achim anerkennend, der seit seiner Bemerkung über Heinz’ «modische Kleidung» zu großen Respekt hatte, um auch nur eine Spur Skepsis an dessen Geschichte zu zeigen. – «Und das habt ihr wirklich gemacht?», fragte ich. – «Yup!» – «Wie oft?» – «Vier-, fünfmal war das bestimmt.» – «Klasse!», sagte ich. – «Jau!» Heinz stützte die Fäuste auf den Tisch, stand auf. «Ich geh dann mal zurück zu den Jungs am Tresen!» Achim sah Heinz’ breitem Rücken nach – und in diesem Augenblick biss die erste Erinnerung an. Schnell zog ich die Leine ein: Am Haken baumelte ein schreiender Junge in der leergeräumten Etage eines Mietshauses. Kaum hatte ich den Fang vom Haken gelöst und die Leine erneut ausgeworfen, fing ich die zweite Erinnerung: Ein verstörter Tourist mit erbärmlichen Französischkenntnissen, der inmitten routinierter Pendler eine steile Rolltreppe ins Unbekannte hinabfährt.
«Glaubst du ihm?», fragte Achim. «Es war eine gute Geschichte», sagte ich diplomatisch, bedeutete Molli mit einem zweifingrigen V, noch zwei Bier zu zapfen, und nach dem fünften legte der Abend ab, verließ den Hafen und glitt auf einer unbewegten, trüben See davon, die mein Kugelschreiber gegen Mitternacht in einem Strudel des Selbstmitleids aufrührte, als ich nämlich am Küchentisch obigen Etagen-Satz ins Notizbuch kritzelte, ehe ich zu Susanne ins Schlafzimmer schlich.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich mich am folgenden Montag wieder in der falschen Etage befinden und gleichzeitig eine Irrfahrt in einer verrückt gewordenen Métro machen würde, während mich böse Unbekannte sturzbesoffen in einer fremden Stadt ausgesetzt hatten. Das klingt übertrieben, vielleicht auch eine Spur zu originell, aber bei meiner Lesung in der Volkshochschule kam alles zusammen. Nach einer schlaflosen Nacht, in der mich der bevorstehende Auftritt mit Krakenarmen umklammert gehalten und mein Gehirn jedes Mal heftig zusammenpresst hatte, sobald es sich anschickte, im Watte-Reich des Schlafs zu versinken, kroch ich am Montagmorgen als verängstigter Schatten aus dem Bett. Bereits um neun Uhr kratzten wir das erste Unfallopfer von der Straße. Der Fahrer des blutverschmierten Mercedes saß auf einem Gartenmäuerchen; zwischen seinen Sandalen krümmten sich halbgerauchte Zigaretten; das Mädchen, entschuldigte er sich bei den Umstehenden, sei auf die Straße gerannt, einfach so, der Aufprall habe sie auf die andere Fahrbahn geschleudert, er schluckte, vor den Omnibus. Heinz hob die Decke an, die man über den kleinen Körper gebreitet hatte, kam fluchend zurück. Wortlos zog ich die Zinkwanne aus dem Transit und klappte sie auseinander. Die weiteren Termine waren weniger bedrückend: Krankenhäuser, Hausbesuche, die übliche Routine. Heinz philosophierte über seine Freunde, die good ol’ Totenwürmer, ich brütete düster vor mich hin, und als wir irgendwann nachmittags an einer roten Ampel standen, rammte mir Heinz den Finger in die Seite und fragte in kaum verhohlener Besorgnis: «Sag mal, willst du heute nicht in die Bäckerei?»
«Nein.»
«Was isn los?»
Ich erzählte ihm von der Lesung.
«Ich denk, das macht dir Spaß!»
«Macht es auch.»
Heinz sah mich fragend an.
«Ach, ich weiß ja auch nicht», seufzte ich und rührte den Tabakqualm im Inneren des Transits mit einer hilflos schöpfenden Handbewegung auf, «das ist eine komplizierte Angelegenheit.»
Danach versuchte mich Heinz bei einem eiskalten Feierabendbierchen in Sonjas Hähnchen Grill zu trösten, indem er mir einen Witz nach dem anderen erzählte. Frauen beim Arzt, Blondinen in der Badewanne, der Ameisenbär im Edelpuff. Laue Pointen umgaukelten die zerfranste Peripherie meines Bewusstseins, als mich Onkel Jörg gegen Abend zur Volkshochschule brachte. Er hatte Heinz zur Nachtbereitschaft verdonnert und freute sich vermutlich schon, dass sie binnen einer Stunde «sterngranatenvoll» im Büro sitzen würden. Onkel Jörg war ein Verführer in Sachen klarer Schnaps und Heinz ein willfähriges Opfer. Ich hätte mir auch lieber einige Kurze hinter die Binde gekippt, anstatt mich vor aller Welt lächerlich zu machen! «Nö, brauchst du nicht, ich nehm mir nachher ein Taxi. Sauft nicht zu viel. Und danke fürs Rumbringen!» Onkel Jörg hupte zum Abschied, ich winkte ihm nach, betrat die Volkshochschule und ließ mich von pfeilförmigen Pappschildern in den Keller leiten, dessen Wände irgendein Unbegabten-Workshop mit abstrakten Gemälden geschmückt hatte, zu denen Titel gepasst hätten wie Trauriges blaues Quadrat oder Alberner grüner Rhombus.
An der Rückwand des Seminarraums, in dem ich lesen sollte, hatte man mehrere Tische in einer pornographischen Assemblage versammelt: Sie kletterten übereinander, besprangen sich und reckten in wohliger Trägheit die nackten Metallbeine in die Luft. Nur ein einziger Tisch distanzierte sich von dem schamlosen Treiben, ein Tisch, den eine Leselampe und ein umgestülptes Glas als mein «Pult» kenntlich machten. Ich drehte das Glas um, stellte die mitgebrachte Wasserflasche, kohlensäurearm, rülpsfeindlich, so daneben, dass nur ich allein das Etikett lesen konnte, knipste die Lampe an, sie funktionierte, noch sechsundzwanzig Minuten, knipste sie aus und saß ähnlich ausgeknipst vor den leeren halbmondförmig aufgebauten Stuhlreihen. Aus dem Ranzen des Mädchens war ein Schulbuch auf die Straße gerutscht, Mathematik, viertes Schuljahr, ich zwang mich, an den Ameisenbären im Bordell zu denken, tap, tap, tadap, krebsten meine Finger in nervösen Märschen über die Tischplatte, noch zweiundzwanzig Minuten, dachte ich, eine nackte Frau sitzt in der Badewanne, dachte ich, Großvater kam mit kleinen, vorsichtigen Schritten in den Raum geschlurft.
Ich stand auf, ging ihm entgegen. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, bereitete ihm das Gehen größere Mühe. Lediglich seine Augen schienen nicht so rasch zu altern wie der Rest des Körpers; es waren verschmitzte Augen, seltsam vergrößert durch lupendicke Brillengläser.
«Aufgeregt?», fragte er mitfühlend.
«Ich sage nicht ja, ich sage nicht nein.»
«Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.»
Ich sah ihn verständnislos an.
«Es wäre schlimm, wenn du nicht aufgeregt wärst.»
«Na ja, ich weiß nicht. Irgendwie ist es absurd, wenn man – ach, wünsch mir doch einfach Glück!»
Er klopfte mir auf die Schulter und suchte sich einen Sitzplatz. Ich verdrückte mich, um im Flur eine Zigarette zu rauchen. Die ersten Besucher kamen. Ein Germanistikstudent, den ich vom Sehen kannte, grüßte mich, spähte in den Saal, entdeckte Großvater und wollte witzig sein.
«Der alte Sack», sagte er, «hat sich bestimmt im Raum geirrt»
«Das mag wohl sein», murmelte ich und ersann blitzschnell eine elegante und äußerst schmerzhafte Methode, Großvater zu rächen, eine Methode zudem, die jede Gewalttat an Heimtücke übertraf. «Ich hab dir was zu gestehen», sagte ich. Er näherte sich erwartungsvoll. Ich setzte eine bekümmerte Miene auf. «Es handelt sich um etwas höchst Vertrauliches. Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Kurz und gut», ich senkte die Stimme: «Du riechst unbeschreiblich aus dem Mund. Weißt du, wie sie dich nennen?»
«Wie?», schnappte er atemlos.
«Sie nennen dich Mister Mundgeruch.»
Mit belegter Stimme: «Wer?»
«Alle an der Uni nennen dich so. Weißt du noch, wie Professor Capart vor deinem Atem zurückgewichen ist, als du ihn mal nach einer Seminarsitzung was gefragt hast? Richtig zurückgezuckt ist der. Und ‹Puh!› hat er gesagt, ganz leise, aber wir habens alle gehört. Tja, seitdem nennen sie dich so. Wirklich alle. Sogar die Erstsemester nennen dich Mister Mundgeruch.»
Er bedankte sich für meine Ehrlichkeit, verstrickte sich in unzusammenhängenden Bemerkungen über unverträgliches Mensaessen und bitteren Automatenkaffee und betrat den Raum, in dem ich gleich lesen musste, um dort sichtlich angeschlagen zwischen den Stuhlreihen umherzuirren. Ich war beeindruckt. Er hatte sogar die Sache mit Capart geschluckt – und das, obwohl er kein bisschen aus dem Mund roch! Zufrieden rauchte ich eine zweite Zigarette, sitzt die Frau also splitterfasernackt in der Badewanne, klopf, klopf, klopf, kommt der Klempner rein, hallo Georg! «Wie schön, dass Sie gekommen sind.» Ich begrüßte eine von Mutters unsympathischen Herrenbekanntschaften mit Handschlag und flitzte danach zur Toilette, um weiterem Händeschütteln zu entgehen. Als Jens in den Kindergarten ging, erzählte er uns eines Tages, sie hätten den ganzen Vormittag damit zugebracht, «richtiges Handgeben» zu lernen, und er solle es jeden Tag mit seinen Eltern üben. Ich vermutete, dass er was ins falsche Ohr bekommen hatte, aber als ich einige Tage später eine gezielte Nachforschung im Katholischen Kindergarten anstellte, bestätigte seine Kindergärtnerin, eine Nonne, nicht nur den widersinnigen Bericht meines Sohnes, sondern belehrte mich darüber hinaus, dass viele Menschen die Wichtigkeit eines selbstbewussten Händedrucks unterschätzten. Dies tat sie nicht ohne versteckten Vorwurf, denn mein Händedruck ließ in ihren Augen offensichtlich sehr zu wünschen übrig. «Dabei ist gerade der erste Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch der entscheidende», dozierte sie selig. «Ein fester, selbstsicherer Händedruck kann Berge versetzen.» Nonnen tun mir immer leid. Sie sehen aus wie Raben und können nicht fliegen. «Ich glaube nicht», widersprach ich höflich, «dass man schon im Kindergartenalter …» – «Doch!», sagte sie. «Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, Herr Fahlmann!» Vielleicht sollte ich Jens zu meiner nächsten Lesung mitnehmen, damit er das Publikum mit professionellem Händedruck begrüßte, hallende Stimmen im Korridor, nahendes Gelächter, ich durchquerte einen kleinen Vorraum (Waschbecken, Spiegel, Händetrockner), kam in einen weißgekachelten Würfel, linker Hand die Pissbecken, gegenüber zwei Toilettenkabinen, es roch vertrauenserweckend nach Sagrotan, ich belegte die rechte Kabine, ließ die Hosen runter, blätterte in meinem Buch, konnte mich nicht entscheiden, mit welchem Teil ich die Lesung beginnen wollte. Jemand betrat die Herrentoilette, Schritte endeten vor einem Urinal, ein Reißverschluss wurde runtergezogen, und nach einer Weile konzentrierten Schnaufens setzte ein zaghaftes Plätschern ein, das zunehmend an Intensität gewann.
Eine zweite Person betrat den Raum, sagte etwas zu der ersten, das ich nicht verstand, Schritte, erneut wurde ein Reißverschluss geöffnet, und als zu dem ersterbenden Plätschern ein kraftvoll sprudelndes hinzukam, wurde ich Zeuge eines beunruhigenden Gesprächs. «Ich konnte draußen nicht so deutlich werden, aber ich halte das, was er schreibt, für Scheiße, für absoluten Blödsinn.» – «Ich auch.» – «Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier.» – «Ja, die Frauen und die Literatur!» Beide lachten, ein Reißverschluss wurde energisch hochgezogen, dann gestand der zweite: «Ich bin auch nicht freiwillig hier. Mir hat», ein Name, den ich nicht verstand, «ne Freikarte geschenkt. Da konnte ich schlecht nein sagen. Außerdem kenn ich ihn», damit war wohl ich gemeint, «flüchtig.» Entschuldigend: «Von der Uni.» Im Geiste sprengte ich die Toilettentür mit einem Tritt auf, brüllte «Überraschung!» und hüllte sie in die lodernde Aureole eines Flammenwerfers. Ein Urinal gurgelte, Schritte, Tür auf, beide verließen die Herrentoilette, ohne sich die Hände gewaschen zu haben, Tür zu, auf dem Schoß mein Buch, an der kühlen Klotür meine Stirn. Auch ein Erlebnis wie dieses, stellte ich fest, kann das Gefühl der Verunsicherung hervorrufen, dem ich mich vorhin in schwerfälliger Metaphorik zu nähern versuchte, indem ich von falschen Etagen, umherirrenden Métros und ausgesetzten Betrunkenen sprach. Was waren das für Menschen? Einer spülte nicht ab. Der andere zog seinen Reißverschluss nicht hoch. Eine lähmende Unsicherheit lag unter der Oberfläche der Welt wie eine straff gespannte Membran und ließ die Wirklichkeit vibrieren. Ruhig werden. Ich muss ruhig werden. «Guten Tag», sagte ich, «es freut mich sehr, dass Sie so zahlreich erschienen sind.» Der Klang meiner Stimme gefiel mir nicht. Irgendwie heiser. Hätte heute nicht so viel rauchen dürfen! «Guten Tag», übte ich tapfer weiter, «eigentlich wollte ich ja auf der Toilette lesen, vor einem anonymen, aber nichtsdestotrotz kritischen Publikum …» Ich wischte mir den Arsch ab. Die beiden Kerle sitzen jetzt drüben und warten auf mich. Heiser. Wie ärgerlich! Ich rauche zu viel.
Hoffentlich versagt die Stimme nicht! Ich räusperte mich und steckte mir eines dieser extrastarken Eukalyptusbonbons in den Mund, die Susanne in Zehnerpackungen aus dem Edeka-Lager schmuggelte. Sie war nicht mitgekommen. Angeblich, weil sie meine Sachen «in- und auswendig» kenne. Von wegen! Ich hoffte nur, sie traf heute Abend eine ihrer Freundinnen in einem neonerleuchteten Szene-Café und nicht, wie ich insgeheim befürchtete, den weißhaarigen Wolfgang. Vorhin war sie nur mit einem Höschen bekleidet aus dem Bad gekommen, einem Seidenslip, den ich noch nicht kannte, mit schmetterlingsförmigem, erregend verdunkeltem Webspitzeinsatz, bestimmt trifft sie eine Freundin, Hose hochziehen, bestimmt, abspülen, noch eine Minute, ich zählte bis 60, bestimmt trifft sie eine Freundin, ich verließ die Toilettenkabine, 61, 62, verließ die Herrentoilette, 63, bestimmt, Gemurmel im Saal, 64, 65, sie trifft eine Freundin, alles kam mir unwirklich vor, verkehrt, Wolfgang, 66, sie trifft Wolfgang, 67, 68, den Raum pflasterten Hinterköpfe, natürlich trifft sie, 69, Wolfgang, 69, 70, alle betrachteten die Leselampe, Webspitzeinsatz, betrachteten die Sprudelflasche, 71, 72, es war, als sollte die Scham ihn überleben, mit diesem Satz endet Kafkas Proceß – und so begann meine Lesung, sie trifft sich mit Wolfgang und ich muss mich hier zum Larry machen! Vor mir lag das lächerliche Buch, dieses lächerliche Taschenbuch mit dem noch lächerlicheren Titel. Ich erschrak, wenn ich ihn auf Plakaten las oder in Rezensionen, zuckte zusammen, wenn ich im Radio hörte: Heute Abend liest der junge Autor Georg Fahlmann aus seinem vielbeachteten Gedichtband (und jetzt kommts mit Fanfaren und Paukenschlag) schWEINe-essIG. Das Publikum ignorierend, schlug ich das Buch auf, überblätterte die unvorteilhafte Fotografie, die mich auf einem Campingstuhl in Lambaréné zeigte: Angetan in kurzen Turnhosen und einem zu engen Polohemd starre ich die Daumenkuppe des Lesers an, die sich jenseits des linken Bildrands befindet.
«Wir brauchen das Foto morgen früh!», hatte mich Marsitzky mit überschlagender Stimme angerufen. «Das Buch geht nächste Woche in Druck. Um Himmels Willen, Sie müssen doch irgendein Bild von sich im Haus haben!» Ich wühlte mit wachsender Verzweiflung im Schuhkarton mit den Familienfotos. Auf einem trug ich einen doofen Hut, auf vielen schnitt ich Grimassen. «Sich Fotografien, auf denen man selbst drauf ist, zu betrachten», sagte ich, «ist fast so schlimm, wie sein Spiegelbild in der Sonnenbrille von jemandem zu sehen, den man nicht leiden kann und der nicht blind ist.» Nein, vergessen Sie das! Das habe ich nicht gesagt. Nie gesagt. «Ich sehe auf allen fürchterlich aus.» Das habe ich gesagt oder etwas in der Art. «Und was ist damit?», fragte Susanne und nahm einen Schnappschuss aus der Schachtel, den Jens im vorigen Sommer von mir gemacht hatte. «Das kannst du nehmen! Das ist gut!» – «Aber da sitze ich doch in Lambaréné», warf ich ein. – «Ist doch scheißegal», sagte sie. «Bild ist Bild.» – «Meinst du nicht, dass ich da etwas zu blöd aussehe?» – «An deiner Stelle würd ichs nehmen.» Ihr Haar wallte über meine Schulter, wir betrachteten das Foto, und da Om darauf um meine nackte Wade strich, fragte ich ihn, ob ich es nehmen sollte. Aber Katzen sehen keine Bilder. Katzen wollen nur wissen, was sich hinter den Dingen befindet, die man ihnen vor die Nase hält. «Om würds nicht wegschicken», vermutete ich. «Es ist ein gutes Bild», sagte Susanne. «Außerdem würdest du Jens damit eine große Freude machen.»
Dieses Argument gab den Ausschlag. Fotografie: Jens Fahlmann, stand nun im Impressum, Reinheit aus 124 Meter Brunnentiefe, jubelte das Etikett der Sprudelflasche, erwartungsvolle Stille kehrte ein, die letzten Huster verklangen, jemand knisterte kurz und energisch mit einer Plastiktüte. Ich würde, wusste ich auf einmal, die Lesung mit einem lange überfälligen Exkurs über die vermeintliche Ernsthaftigkeit meiner Lyrik eröffnen – aber hieß es nun «Seriosität» oder «Seriösität»? Um den drohenden Blackout zu überwinden, einen wildwuchernden Tintenfleck im Sprachzentrum, begann ich mit höflichem Gestammel. «Vielen Dank, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Normalerweise gibt es eine Einführung, aber Frau Jeckel», erschrocken bemerkte ich, dass ich kicherte, «also Frau», ich riss mich zusammen, «Jeckel von der VHS hat heute noch eine andere Veranstaltung. Ähm … ja … Ich lese nun aus meinem Gedichtband», befangenes Räuspern, «schWEINe-essIG. Das Buch besteht aus fünf Teilen. Sie heißen: narrenbutter, schWEINe-essIG, fischmützencocktail, das FRATT und mond-schein-parade.» Ein Mann in der ersten Reihe knarzte mit seiner Lederjacke. Grimmiges Gesicht, schlaffe großporige Hamsterbacken, vor der Brust verschränkte Arme. Mein Blick strich übers Publikum, wurde hektischer, zuckte schließlich wie eine Flipperkugel hin und her, erstarrte, Inge. Inge! Inge saß neben mir im Thomas-Mann-Hauptseminar. Ihre Handrücken waren immer verkratzt. Sie musste sich mit ihrer Katze unglaubliche Gefechte liefern. Schwarze, fast blau glänzende Locken, Nasenring, gut, dass Susanne nicht hier ist, ich fühlte mich immer schuldig, wenn ich in ihrem Beisein mit einer schönen Frau plauderte. Das Schlimme daran war, dass ich mich im Bewusstsein einer mehr oder weniger grundlosen Schuld wirklich wie ein Schuldiger verhielt, so dass Susanne zunehmend skeptischer mich und meine Gesprächspartnerin musterte.
Kaum hatte ich Inge im Publikum ausgemacht, meldete sich der für Strategie zuständige Teil meines Gehirns zu Wort: Ich müsste sie morgens besuchen, abends wäre ungünstig, da könnte Susanne was mitbekommen, Dialoge wurden vorskizziert, ich hantierte mit unbekannten und bekannten Größen (Susanne), Inge kam im Seidenhöschen aus dem Badezimmer. Und wenn sie direkt nach der Lesung geht? Was dann? Neben Inge saß ein junger Mann mit Koteletten und Dreitagebart. Vielleicht war er nur wegen ihr hier? Stünde sein Hosenladen offen, würde das mein Toilettenrätsel zur Hälfte lösen. Einer kannte mich von der Uni (A), der andere (B) war mit seiner Freundin hier. Roch A nicht aus dem Mund? Wenn ja, dann kannte ich ihn. Legte B Inge flach? Wenn ja, wie oft? Und woher kannten sich A und B? Aus dem Georg-Fahlmann-wir-finden-dich-scheiße-kommen-aber-trotzdem-zu-deiner-Lesung-Club? In einem Kriminalroman der alten Schule hätte ich mich in der Klokabine auf den Boden gekniet, um unter der Tür hindurch einen Blick auf Schuhe und Hosenbeine der Unbekannten zu erhaschen, Wolfgang, Susanne trifft sich mit Wolfgang, ein Räuspern, das nach Großvater klang, riss mich aus meinen Gedanken, anfangen, da hat er recht, ich muss endlich anfangen, und im salbungsvollen Tonfall eines Laienpredigers las ich das erste Gedicht der mond-schein-parade:
unfug mit dem feuerlöscher
das ist der wahre jakob
und hip hip hurra
als klosteine durchs urinal «welt»
ich als algebraischer bürgermeister
du als ufologischer hase
dann grinsend im binsenanzug
sesam & co
Ich verlas mich mehrmals (besonders der algebraische Bürgermeister entpuppte sich als kapitaler Stolperstein), baute aber darauf, dass die Abnahme der Aufregung positiv mit der Abnahme der Patzer korrelieren würde. Ich sah auf, ein hübsches Mädchen in der dritten Reihe erwiderte meinen Blick, höchstens vierzehn, die Kleine. Ihr entzückend aufmerksames Gesicht gab mir die Kraft, das zweite Gedicht der mond-schein-parade im atemlos schnarrenden Tonfall eines Wochenschausprechers zu zelebrieren:
hühnereier verprassen
oben am jong bösch
über kekenheck
gott aufs nattsetzel locken
klebt da wie eine fliege
auf dem fliegenpapier
in der küche meiner großmutter
väterlicherseits
Niemand wagte zu lachen, schließlich war das Buch in einem angesehenen Verlag erschienen. Die Lederjacke in der ersten Reihe knarzte nachdenklich. Na, Freunde, wie viel haltet ihr aus, ohne zu lachen? Ich verspürte das verhängnisvolle Verlangen, zu improvisieren. Weltmaschine, dachte ich, Weltmaschine, doch zum Improvisieren war es zu früh. Dazu war ich noch viel zu aufgeregt!
dr. nussig der kandis oder zucker
hat tee in der tube (7 liter und mehr)
peilt gott lotrecht im eimer
verlegt sein hirn
verlegt seine seife
an bord von zeppelin «freud»
so lustig
Während des Vortrags erinnerte ich mich an die Gespenstercomics meiner Kindheit, die ich im Bettkasten versteckt hatte, damit Mutter sie mir nicht wegnahm. Seltsam, aber so steht es geschrieben. Mit diesem Satz endete jede Geschichte, und kaum hatte ich so lustig gelesen, dröhnte auch ich:
seltsam aber so steht es geschrieben
Immer noch lachte niemand. Wahrscheinlich denken alle, das gehört zum Gedicht, höhö, mir kochte das Adrenalin vollends über, zu früh! Gefahr! Viel zu früh! Aber schon hörte ich mich orakeln:
weltmaschine weltmaschine
Ich wusste nicht mehr weiter und murmelte betreten:
die weltmaschine … hat …
Ich goss mir Mineralwasser ein. «Nicht zu schnell lesen», hatte Frau Jeckel von der VHS gesagt, aber das Zeugs musste schnell gelesen werden. Schnell! Schnell! Eine vage Idee entrollte sich wie ein Feuerwehrschlauch, füllte sich mit kohlensäurearmem Wasser und schnellte prall aus meinem Mund:
alles schnell in der weltmaschine
alle welt in der schnellmaschine
von dr. nussig aus der tube
Eines der größten Probleme bei Lesungen war mein zwanghaftes Bedürfnis, ins Publikum zu schauen, obwohl mich jedes bekannte Gesicht in höchste Beunruhigung versetzte. Neben dem Erlebnis auf der Herrentoilette bekümmerte mich vor allem die Anwesenheit Norbert Polkingers. Mit andächtig geschlossenen Augen saß der Assistent von Professor Capart in der letzten Reihe und lauschte der mond-schein-parade, ein gefährlicher Mann, denn er korrigierte und benotete alle Hausarbeiten. Ich sah ihn bereits wie Barlachs Rächer durch die Flure des Germanistischen Instituts eilen, um die Tür zu Caparts Büro mit einem süffisant beiläufigen «Ich war gestern übrigens bei der Lesung von diesem Fahlmann» aufzureißen. Hühnerprodukt mit zwei Buchstaben. Professor Capart blickt zweifelnd vom Kreuzworträtsel auf. Polkinger trabt derweil auf der Stelle, kräht: «Unfähig!» und seine Erregung entlädt sich in einem Luftsprung. «Fahlmann kann überhaupt nicht schreiben!» Er packt den Garderobenständer und führt ihn in den beschwingten Schritten einer Gigue durch den Raum, während ein zu Tode betrübter Capart den Kopf schüttelt und immer wieder händeringend ausruft: «Eine Null! Eine Niete! Was habe ich davon zu halten! Da ist mein guter Fahlmann also eine Niete!» Hinter dem Schreibtisch starrt Adorno grimmig aus dem Silberrahmen, und seine umwölkte Miene hellt sich erst auf, als Professor Capart keift: «Ich darf auf gar keinen Fall vergessen, Fahlmann durch die Magisterprüfung fallen zu lassen. Erinnern Sie mich gegebenenfalls daran, Polkinger, und stellen Sie endlich den Kleiderständer dahin, wo er hingehört! Wir sind hier doch nicht zu Besuch bei Arno Schmidt in Bargfeld!»
Caparts Assistent öffnete die Augen, ich senkte den Blick ins Buch, über dessen Seiten kleine, fast quadratische Textflöße schwammen. Warum er? Warum ausgerechnet er? Norbert Polkinger war einer dieser Wichtigtuer, die in der Mensa extralaut redeten, damit man noch drei Tische weiter ihren Scharfsinn und ihre Belesenheit andächtig zur Kenntnis nahm. In Seminarsitzungen führte er Adorno und Horkheimer im Munde, um sich bei seinem Doktorvater einzuschmeicheln, und hatte dabei stets (ein liebenswertes Detail) die Finger gespreizt, weil er an einer Hautflechte litt, die besonders gut in jenen feuchtwarmen Regionen des Körpers gedeiht, wo keine Frischluftzirkulation gewährleistet ist. Polkinger! Irgendwann bist du dran! Einen Ehrenplatz, ja, man könnte fast sagen, einen Logenplatz auf der Schwarzen Liste hatte ihm vor allem das gönnerhaft herablassende Verhalten eingebracht, das er mir gegenüber an den Tag legte. Vor Dritten betonte er unablässig, für wie überaus «begabt» und «talentiert» er mich halte, und begrüßte mich stets mit einem vermutlich ironisch gemeinten: «Na, wie gehts denn dem Herrn Dichter!» – in meinen Augen eine subtile Beleidigung. Dichter! Sofort sah ich einen verträumten blutarmen Schwärmer vor mir, der mit Leidensmiene über eine Blumenwiese schreitet. Im Gegensatz zum Poeten, einem ausgemergelten Stubengelehrten, der alles mit dem Mond vergleicht, hat der Dichter einen Degen umgegürtet; aber eine Frau bekommt trotzdem keiner von beiden ab. Autor: ein nichtssagendes, konnotationsarmes Wort, allerdings tausendmal besser als die freche Verhöhnung Buchautor, die bei Fernsehshows eingeblendet wird, wenn Oma Kruse einem staunenden Moderator ihren Klimakterialreiseführer vorstellt. Schriftsteller klang in meinen Ohren relativ harmlos.
Schriftsteller leben im Winter in den nostalgischen Pensionen britischer Seebäder, und alle Gäste tun so, als fürchteten sie unsäglich, in dem Großen Roman verewigt zu werden, an dem der charmante Gesellschafter nachts arbeitet, wenn er sich nach einem letzten Gläschen Portwein auf sein Zimmer zurück gezogen hat. Erzähler gefiel mir eigentlich am besten, aber da ich einen Gedichtband veröffentlicht hatte, trat ich heute als Lyriker auf. Treten Sie näher! Treten Sie heran! Hier sehen Sie die Praxis des Lyrikers, Tür an Tür mit einem armenischen Gynäkologen, und während dieser seinen buschigen Schnauzer zwischen den gespreizten Schenkeln einer rassigen Französin versenkt, hört man nebenan Wasser rauschen und zaghaftes Gezupfe auf der verstimmten Leier; dann wird es still (bis auf das Stöhnen von Valerie), denn der Lyriker hat sich im Badezimmer eingeschlossen, um seinen Namen in Wasser zu schreiben. Als Kinder hatten wir uns gegenseitig zu übertrumpfen versucht. Wir riefen: «Erster!», riefen: «Schnellster!», und behauptete einer, «Bester Tormann!» oder «Bester Kletterer!» zu sein, stach ihn nur ein Ausruf aus: ein unschlagbares, ein unbesiegbares, ein ultimatives «Bester Alles!» Polkinger hält mich bestimmt nicht für den Besten Alles. Distanz! Ich darf nicht so begeistert lesen. Ich muss wesentlich distanzierter klingen. Der Beste Alles gab sich von nun an redlich Mühe, und prompt erklärte Professor Capart dem anerkennend nickenden Adorno: «Georg Fahlmann karikiert ironisch den Literaturbetrieb. Eine Ausnahmebegabung. Ich werde ihn die Magisterprüfung bestehen lassen, auch wenn er nichts weiß, haha, ich geb ihm sogar ne Eins, wenn er einen Chiasmus mit einem, ach, Sie wissen schon, verwechselt.» Zwo, drei, vier …
oberst viss im nacken
nack-tack-tack so dunkel
zwei flaschen brause &
komm mal mit mein kleines
eulenkidnapping im schmackelwald
oh, nein, peter vogel!
Wie konnte ein Erwachsener solche Gedichte lesen oder hören, nack-tack-tack so dunkel, ohne den Verfasser für einen totalen Blödian zu halten? Draußen wurde es tatsächlich dunkel, nack-tack-tack, ich knipste die Lampe an und badete das zitternde Buch im Lichtsee. Jens hätte Spaß an der Lesung gehabt. Wahrscheinlich feilschte er gerade mit Mutter, wie lange er noch aufbleiben durfte. Und Susanne? Was sie wohl gerade – nein darüber darf ich nicht nachdenken! Webspitzeinsatz. Nicht jetzt! Wäre Jens hier, er hätte jedenfalls seinen Spaß. Und wahrscheinlich all seine Freunde …
oma kruse und h. c. knolle
im kurhotel «thoelke»
und brühwarm im oberstübchen
shaffery & genossen
duseln nattern durch krummbüsche
krebsen nacktschnecken den hang hoch
plätten maulwurfshügel maulwurfshügel
heh, kellner! mehr zucker!
kaffeetasse johann zirpt im kaltbach
– armer johann
Sprach ich «Thoelke» aus, wie es Wum tat, der heimliche Held meiner Kindheit, waren mir einige zaghafte Lacher sicher. Aber um welchen Preis! Der Lederjackenknarzer sprang vom Sitz, riss einen Fotoapparat in die Höhe, hüllte mein Gesicht in ein Blitzlichtinferno und verließ den Raum auf quietschenden Gummisohlen. Alle sahen ihm nach. Alle bis auf Großvater. Der sah mich an. Aber das merkte ich erst, nachdem ich Inge lange angesehen hatte. Ich spürte, wie ich rot wurde. Die Quietschsohlen schlossen die Tür von außen. Übermorgen würden mir zwei bis drei Textsäulen verraten (auf denen das grobgerasterte Tympanon meines verdutzten Gesichts thronte), ich sei ein «Klangkünstler», ein «Wortartist» – etwas anderes fiel den Ärschen nicht ein! Natürlich beruhigte es mich, dass keiner merkte, was für einen Unfug ich hier zum Besten gab, aber irgendwie kränkte es auch mein Selbstverständnis als Schriftsteller – für den Bruchteil einer Sekunde flaniere ich die Strandpromenade eines britischen Seebades entlang. Noch einmal zum Mitschreiben: Einerseits genoss ich es, öffentlich lesen zu dürfen und sogar Geld dafür zu bekommen, andererseits hasste ich es, das öffentlich zu lesen, was ich lesen musste: kurhotel «thoelke» und Konsorten. Und noch einmal zum Auswendiglernen: Selbstverständlich erfüllte es mich mit Stolz und Genugtuung, dass man mich für einen Schriftsteller (Seebad! Seebad!) hielt, aber doch nicht wegen eulenkidnapping im schmackelwald! Die ganze Chose wird noch vertrackter, wenn man bedenkt, dass meine guten Texte allesamt ungelesen zurückkamen. Schickte ich sie an einen Verlag, wartete ich monatelang auf Post. Das Warten machte mich derart wahnsinnig, dass ich die Absagen regelrecht herbeisehnte. Ja, Sie haben richtig gehört! Ich hoffte auf Absagen, damit diese dem fürchterlichen Warten ein Ende bereiteten. Einmal hatte ich ein Haar von Susanne ins Manuskript gelegt, und als es zurückkam, lag das Haar noch immer zwischen den Seiten zehn und elf. Formbriefe!
Ich bekam fast nur Formbriefe. Seltener, aber das war weitaus schlimmer, lag ein persönliches Anschreiben bei. Die Schwäche Ihrer Erzählungen ist, dass sie zu schwer beladen sind. Wie viele junge Debütanten bemühen Sie sich … der Text scheint mir über weite Strecken hinweg sprachlich noch nicht ausgereift … leider sehen wir keine Möglichkeit … haben Sie vielen Dank für Ihr Angebot. Wir haben Ihr Manuskript sorgfältig geprüft, konnten uns aber leider … Reibekäse … wünschen Ihnen in einem anderen Verlag den erhofften Erfolg … entschuldigen Sie die späte Antwort … passt nicht ins Programm … habe Ihr Manuskript selbstverständlich gründlichst gelesen … bitte Sie um Verständnis, dass ich bei der großen Anzahl von Einsendungen … Reibekäse, Reibekäse, Reibekäse … in anrührender Unbeholfenheit versuchen die kreisrunden Glasabdrücke die olympischen Ringe nachzubilden … Molli knallt zwei Humpen auf den Kneipentisch … über einen Zeitraum von eineinhalb Wochen hatten Achim und ich ein ganzes Notizbuch vollgesaut. Die Mehrzahl der Einträge war beschämend pubertär, aber einiges schien mir hinreichend witzig zu sein, also überarbeitete ich die Texte und tippte sie ab. Achim bekam eine Kopie zum Geburtstag, dann verlor ich das Interesse an den Gedichten, die sich daraufhin, lichtscheu, wie unernste Gedichte nun einmal sind, in den letzten Winkel der Nachttischschublade zurückzogen. Ich verlor das Interesse, bis ich eines Abends die Originale kurzentschlossen in einen Umschlag stopfte und mit einem größenwahnsinnigen Begleitbrief an den elitärsten Verlag schickte, der mir in den Sinn kam. Brächte Achim das Gespräch auf unsere Scherzgedichte, könnte ich nun amüsiert behaupten: «Die Gedichte? Achim, du glaubst es nicht! Die hab ich an einen Verlag geschickt, und die Dümmlinge haben alles für bare Münze genommen!» Aber nicht genug, dass die Dümmlinge alles für bare Münze nahmen, sie waren auch ganz versessen darauf, ein Buch daraus zu machen, ein lustiges Taschenbuch, aus dem ich jetzt all den ernsten «Onkel» Richards und «Tante» Monikas das nächste Gedicht der mond-schein-parade vorlesen musste:
im untersten rausch
durch den eierwald taumeln
bei rümmelsborn (hurra!)
kreuzt die spur des fischhufers
hep! schwammenwald, steh kopf!
steh kopf, schwammenwald!
très joli! pierre oiseau:
chanteur de blues
(carte visite)
Mit verklärtem Gesichtsausdruck improvisierte ich:
und von nun an war er bester alles
Ich machte eine Pause und setzte noch einen drauf:
seltsam aber so steht es geschrieben
Bezaubernd, die Kleine in der dritten Reihe, aber Inge ist auch nicht übel, und bedeutungsschwer:
– – – in der weltmaschine!
Außer mir wussten nur drei Menschen, wie schWEINe-essIG entstanden war: Susanne, Großvater und natürlich Achim, der seinen Wunsch, nicht als Co-Autor genannt zu werden, längst bereute. Wir wären sehr daran interessiert, Ihr Buchprojekt in Angriff zu nehmen. Den Brief in Händen kam ich ins Schlafzimmer gestürzt und hatte Susanne geweckt, die samstags immer bis in die Mittagsstunden schlief, um sich von der durchtanzten Freitagnacht zu erholen. «Das hast du nun davon!», sagte sie, nachdem ich ihr den Sachverhalt in groben Zügen erläutert hatte. «Ich muss es veröffentlichen», sagte ich. Susanne umfasste ihre bloßen Knie. «Du wirst dich mit diesem Quatsch lächerlich machen!» – «Ich weiß nicht, wer sich lächerlicher machen wird, der Verfasser, die Leser oder der Verlag. Ich denke nur, dass es sehr dumm von mir wäre, ein Angebot dieses Verlags auszuschlagen.» – «Sie werden sich alle schlapplachen!» – «Lies dir doch erst einmal den Brief durch!» Susanne überflog die Zusage. «Was sind das für Menschen?», fragte sie. Ich hob die Arme in einer Geste fröhlicher Resignation, die ich mir von Stan Laurel abgekuckt hatte. «Was», fragte sie, «verstehen die unter metatextuellen Kondensaten?» – «Das wissen nur die Götter!»
Am selben Nachmittag war ich zu Großvater gefahren. «Da habt ihr ihnen ja», lachte er, «ein gigantisches Kuckucksei ins Nest gelegt.» Freudlos bemerkte ich: «Aber es wird kein Kuckuck schlüpfen.» Großvater widersprach heftig: «Du hast zumindest einen Fuß in der Tür, und da dieser Verlag, völlig zu Unrecht, wie ich finde, hierzulande ein großes Ansehen genießt, handelt es sich um einen mächtig großen Fuß! Aber auch», fügte er munter hinzu, «um eine mächtig große Tür.» Ich schätzte seine schrulligen Bemerkungen. Hatte ich als Kind das Wochenende bei ihm verbracht, standen wir vorm Schlafengehen oft auf dem Balkon, bewunderten den Nachthimmel, und ich ließ mir erklären, dass manche Sterne leuchteten, obwohl sie schon vor Jahrzehnten verglüht seien. «Und du wirst auch erst in einigen Jahren wissen», schloss Großvater heiter, «ob ich heute Nacht wirklich neben dir auf dem Balkon gestanden habe.» Darüber lachte ich als Kind, aber heute war Großvater immerhin einundachtzig. Irgendwann würde ich tatsächlich feststellen, dass er nicht mehr da war und sich unbemerkt zurückgezogen hatte. Erst würden die Erinnerungen an ihn schwächer werden, und dann würde ich es nicht einmal mehr merken, dass ich ihn vergessen hatte: Dann wäre er einfach fort. Zusammengesunken hockte er auf dem Stuhl, den Kopf gesenkt. Es bedeutete mir viel, dass er die Strapaze auf sich genommen hatte, zur Lesung zu kommen. Im Gegensatz zu Winkler, den meine Lesungen nicht interessierten. Auch Vater hätte niemals eine Lesung von mir besucht. Er hatte ja nicht einmal zur Abifeier mitkommen wollen. «Da sind zu viele Leute, die ich nicht kenne», meinte er, und so hatte Großvater meine Mutter begleitet. Sie im Abendkleid, er in seinem besten Anzug, und noch heute schäme ich mich für die peinigende Furcht, meine Klassenkameraden könnten in dem alten Mann meinen Vater vermuten. Um Großvater eine Freude zu machen, begann ich das nächste Gedicht mit einem flotten:
struebing struebing struebing
Und los gings:
im wartezimmer des dottore
riskator einer dicken lippe
dann einen ausgehöhlten kürbis als hut
am steuer des edeka-lkws
the kindheit’s gone
where’s the kindheit hin
schwester inge! ihr busen!
oh sagt’s mir wenn ihr’s wisst
– – – where’s the kindheit hin
Klammheimlich hatte sich in diese Zeilen eine gehörige Portion Ernsthaftigkeit eingeschlichen. Ich sah mich in meinem ehemaligen Kinderzimmer auf dem Bett liegen, the kindheit’s gone, ich rauche eine melancholische Zigarette, asche in den Bettkasten, aha, dort hinten sitzt Achim, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er in eine Zitrone gebissen, aber der Feigling hat ja darauf bestanden, nicht als Co-Autor genannt zu werden … schwester inge! ihr busen! … ich bemühte mich, das bezieht sie jetzt natürlich auf sich, die wirkliche Inge im Publikum nicht anzusehen … ihr busen! … scheiße … das machte meinen schönen Plan zunichte … schwester inge! … ihre Hand auf meinem Oberschenkel … ihr busen! … graue Adern marmorieren die blasse Haut ihres zerkratzten Handrückens … schwester inge! … man denkt sich nichts Böses, und scha-matz! steht man bis zum Hals im Fett … zügig:
toodeln wir monde – – – padam!
den nachthimmel in flammen
hinauf und hinab (zoosh dich, marie!)
pompoms seid ihr am cheerleader-bürzel
hussa! kreuzt die quere!
rauscht die nacht!
ich bin nur ein mond auf der walz
deine kleine raupe
Der Schwung des Vortrags riss mich mit. Wie auf Schlittschuhen glitt ich über eine Eisfläche, an deren Unterseite sich leidende Tiefseefische mit geplatzten Lungen pressten. Risse überzogen das Eis, ich wich in eleganten Hopsern nashorngroßen Löchern aus, doch da kippte die Eisplatte, die an einem Scharnier befestigt war, und ich raste kopfüber an der zur Unterseite gewordenen Oberseite entlang, die Lungen voller Eiswasser, die Augen brennend vom Salz. Nach der mond-schein-parade blätterte ich in willkürlicher Betriebsamkeit durch das Buch, machte fünfzig Minuten voll und las zum Abschluss einen Text aus dem Zyklus um Walg Nastranz, einem Zyklus, der in jenen quälenden Stunden entstand, wenn ich am Schreibtisch saß und nichts Brauchbares zustande brachte …
Brahnet obs, Walg Nastranz!
Glinko fretsch parantz nobbicht, emblus kalber, norrigt: «Wolpriert Nastranz, waha, fin gräbbt ober dens sockelt – irf wahlperint nog brobbart.»
«Quanu?», Ertzpil nagrat.
«Ohkars fretsch, Nastranz fretsch», wahat Glinko glibbil.
«Dakat», Ertzpil fropft urf bem kambil nogit.
Glinko nurrbig fralt; Nastranz sembelg tiskut.
Angespannte Gesichter. Niemand lachte.
«Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!»
Und dann kamen die Fragen …
«Wo bekommen Sie Ihre Ideen her?»
Die lass ich mir von einem Versandhaus aus den Staaten schicken, grölte eine erschreckend vulgäre Stimme in meinem Inneren, aber ich antwortete brav: «Das fällt mir einfach so ein.»
«Was ist die Botschaft Ihrer Gedichte?»
Pro Rohkost, contra Hitler! «Die Texte sind die Botschaft», sagte ich.
«Also beziehen Sie sich auf Marshall McLuhan?»
«Ja.» Ich hörte den Namen zum ersten Mal.
«Arbeiten Sie an einem neuen Buch?»
Scheiße, Scheiße, Scheiße … «Ja.»
«Handelt es sich wieder um Gedichte?»
Gott bewahre! «Nein.»
In dieser Art ging es weiter, bis Großvater sich erhob und ein ostentatives Ächzen von sich gab, für das ich ihn hätte umarmen können. Man griff nach Jacken und Handtaschen, in der letzten Reihe erhoben sich zwei ältere Damen, ich steckte Brahnet obs, Walg Nastranz! in die Brusttasche des Flanellhemds, versenkte schWEINe-essIG in der Jutetasche, Feierabend. Nach einer Lesung sind die ersten Schritte in den Raum hinein die schlimmsten: Der Schüler, der sich an der Tafel zum Gespött der Klasse gemacht hat, geht an seinen Platz zurück. Freundliche Menschen verwandelten in einer faszinierend spielerischen Choreographie meinen Tisch in eine Theke und erklärten: «Wir dürfen Ihnen die Flasche leider nicht mitgeben.» Also schlenderte ich mit einem durchsichtigen Plastikbecher hinaus in den Flur zur kniehohen Metallsäule des Aschenbechers, trank warmes Bier, rauchte, hielt nach offenen Hosenläden Ausschau, wären Sie so freundlich, eine Dame mit lilagetöntem Haar wollte mein Buch signiert haben, ich ließ sie mein Bier halten und schenkte ihr einen zitternden Fahlmann. Achim war unauffindbar, die hübsche Vierzehnjährige war verschwunden, andere Frauen, Frauen, wo sind bloß die ganzen anderen Frauen hin, Polkinger beschallte die Anwesenden mit einer kritischen Beurteilung der deutschen Gegenwartsliteratur, wieso muss der Künstler überhaupt zahlen, ich erstand ein zweites Bier, Sauladen, Inge kam auf mich zu, lächelnd, einen Becher Sekt in der Hand.
Sie trug ein verwaschenes, schulterfreies Sweatshirt, Sommersprossen sprenkelten die helle, milchig weiße Haut der Schultern, schwester inge! ihr busen! – bei jeder Bewegung schlingerten ihre, verzeihen Sie mir die Offenheit, geilen Möpse unter dem Stoff. Die Uni, Professor Capart, wir tauschten Belanglosigkeiten aus, Inge ist zu aufgeräumt, um die Busen-Passage auf sich bezogen zu haben, dachte ich erleichtert und fing gerade an, mir Hoffnungen auf einen großartigen Abend zu machen, ich bin verheiratet, wir müssen deshalb zu dir gehen, da gesellte sich der Kerl mit dem Dreitagebart zu uns, der während der Lesung neben ihr gesessen hatte, und legte den Arm besitzergreifend um ihre Taille. Der Angeber hatte die Hemdsärmel bis zur Mitte des Bizeps hochgekrempelt. Sein Hosenladen stand nicht offen. Wieso schaut er mich so merkwürdig an? Darf man denn hier niemandem auf den Latz kucken? Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier. Ich musste seine Stimme hören. «Wie fandst du die Gedichte?», fragte ich beiläufig. Er zuckte mit den Achseln. «Nicht so toll?», kombinierte ich beherzt. Inge bedachte mich mit einem entschuldigenden Lächeln.
Danach lief ich in unbeholfenen Achtern zwischen den Leuten umher (Mein Publikum! Mein Publikum!), kippte ein drittes Bier, rauchte weitere Zigaretten und fühlte mich ähnlich verloren wie Onkel Jörg, als er mich zur Verleihung der Van-Hoddis-Medaille nach Berlin begleitet hatte. Ich gab unverfängliche Antworten auf dumme Fragen, begrüßte Bekannte meiner Mutter, wieso ist sie eigentlich nicht, als wären wir allerbeste Freunde, hätte ruhig kommen können, Großvater, wenigstens einem hats gefallen, bedankte sich für den «dreifachen Struebing» und fragte: «Wie fühlst du dich jetzt? Nach der Lesung?»
Ich antwortete: «Spitzbergen.»