Читать книгу Der Un-Magier - Drachengeheimnisse - Christopher Golden - Страница 5

Prolog

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Verlis hockte hoch oben auf der Brüstung einer der vielen Zinnen, die die schwebende Festung Himmelshafen zierten, breitete die ledernen Schwingen aus und badete in den Strahlen der frühen Morgensonne. Wie angenehm der warme Sonnenschein war! Verlis verspürte leichte Schuldgefühle. Eigentlich, fand er, hätte er erst dann wieder Freude empfinden dürfen, wenn er sich erfolgreich der Aufgabe gewidmet hätte, die ihn überhaupt erst in diese Welt geführt hatte. Unter den Lindwürmern in der Welt Draconæ tobte ein Bürgerkrieg, in dem das Geschlecht, dem Verlis angehörte, zu den Verlierern zählte. Das Drachenwesen hier auf dem Turm durfte erst dann wieder rasten, wenn sich sein Stamm nicht länger in tödlicher Gefahr befand.

Verlis seufzte. Sofort stieg zu beiden Seiten seiner Schnauzenspitze eine Rauchwolke auf. Seine Art stammte von den riesigen Drachen der Vorzeit ab – jeder, der zu dieser Rasse gehörte, barg in seinem Innern eine hellodernde Flamme. Fast immer drangen ihm und seinen Artgenossen daher Rauch oder Feuer aus dem Maul.

Es war Verlis und seinesgleichen eigentlich untersagt, die Welt Terra zu betreten. Er war auch nur gekommen, weil er einen der hiesigen Magier um Unterstützung hatte bitten wollen – einen Magier, der nicht nur seiner unglaublichen Fähigkeiten und Kenntnisse wegen berühmt war, sondern ebenso seiner Weisheit und Güte wegen. Verlis hätte die Hilfe Argus Cades – wie jener Zaubermeister hieß – wirklich dringend gebraucht. Er hatte jedoch bereits beim Überwinden der dimensionalen Barriere, die seine Welt von Terra trennte, gewußt, daß irgend etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen. Um durch die Barriere zu schlüpfen, hatte sich Verlis einer Magie bedient, die Argus selbst ihn gelehrt hatte; so war er auch wie geplant im Haus des alten Magiers angekommen. Aber dort hatte irgend etwas ganz eigenartiges in der Luft gelegen – oder vielmehr, wie Verlis sich hatte eingestehen müssen, eben nicht in der Luft gelegen. Irgend etwas hatte in jenem Hause gefehlt.

Verlis’ riesige, mit scharfen Krallen bewehrte Zehen packten die Kante der Brüstung, auf der er thronte, fester, und das mächtige Haupt mit den Hörnern neigte sich hinunter zum unendlich weiten Meer, das die große Festung umgab. Durch starke Zauber gehalten, schwebte das Anwesen Himmelshafen hoch über den smaragdgrünen Wellen.

Wie friedlich das alles aussieht! sinnierte Verlis. Aber wer hätte besser gewußt als er, wie sehr der Schein trügen konnte?

Er war in diese Welt der Magier gekommen, nur um erfahren zu müssen, daß sein alter Freund und Vertrauter gestorben war und damit, so wollte es anfangs scheinen, auch seine letzte Hoffnung. Aber nun sah es aus, als sei Argus Cade doch nicht diese letzte Hoffnung gewesen. Argus’ eigener Sohn hatte Verlis vom Tod des Vaters Mitteilung gemacht – ein Junge, der aussah wie jedes andere Magierkind auch, der in dieser magischen Welt aber ebensosehr Außenseiter, ja Ausgestoßener war wie Verlis selbst. Timothy Cade war mit einer höchst ungewöhnlichen Behinderung geboren. Terra, seine Heimatwelt, bestand ganz und gar aus Magie; über den gesamten Planeten spannten sich vibrierend unendlich viele unterschiedliche, miteinander verbundene Kraftlinien. Terra war praktisch eine Art Konglomerat magischer Kraft. Alles, einfach alles hier bestand aus Magie, und jeder Mensch auf Terra barg sie in sich, so wie ein Wyrm Feuer in sich trug.

Jeder Mensch hier – bis auf Timothy Cade. Der Junge war bar jeder Magie, er war sozusagen leer geboren. Timothy war ein Unmagier, der einzige, den Terra je hervorgebracht hatte. Er war unfähig, Zauber zu wirken. Ja, schlimmer noch: Was er an Magie berührte, erlosch in seinen Händen. Timothy war wie ein weißer Fleck, wie ein Loch in der magischen Matrix der Welt. Es konnte kein Zweifel bestehen: Der Junge war ein ganz und gar ungewöhnliches Geschöpf, und Verlis hatte erlebt, daß die Magier den Jungen fast ebensosehr fürchteten wie ihn, den Wyrm. Vielleicht sogar noch mehr. Denn Timothy war etwas, das sie nicht verstehen konnten – ein Junge, aus dem rasch ein Mann werden würde, ohne daß auch nur eine ihrer Regeln und Erwartungen auf ihn zutraf.

Zart strich vom Meer her eine sanfte Brise über den harten, schuppigen Körper der geflügelten Kreatur dort auf dem Turm. Wieder empfand Verlis einen Moment lang Freude, und wieder untersagte er sich streng dieses angenehme Gefühl. Sein Klan, seine Familie waren in Gefahr.

Timothy hatte versprochen, Verlis und den Seinen zu helfen, wie Argus es getan hätte. Zunächst einmal hatte der Junge jedoch eine Krise in Terra selbst bewältigen müssen, und zwar in Arkanum. Diese Krise war Nikodemus’ wegen entbrannt, des Großmeisters des Alhazred-Ordens. Nikodemus hatte einst viele von Verlis’ Art ermorden lassen, und jetzt mißbrauchte er seine Stellung in der Stadt für eigene, finstere Zwecke – als Timothy zusammen mit seinen treuen Gefährten aufgebrochen war, um Himmelshafen, das Heim des Großmeisters, anzugreifen, war Verlis an der Seite des Jungen in die Schlacht geflogen.

Nun lebte Nikodemus nicht mehr, und sie bereiteten sich darauf vor, wieder durch die dimensionale Barriere zu schlüpfen. Timothy wollte Verlis begleiten, wenn dieser nach Draconæ zurückkehrte und dort alles in seiner Macht Stehende tun, um dem neuen Freund zu helfen. Zwar wußte Verlis nicht genau, inwieweit der Junge ihm tatsächlich eine Unterstützung sein würde, aber er hatte Vertrauen zu Timothy und freute sich darauf, wieder nach Hause zu kommen.

Verlis wandte sich der aufgehenden Sonne zu. Sie war wirklich umwerfend schön, und er hätte nicht sagen können, wann er zum letzten Mal ähnlich empfunden hatte. Bilder aus seiner eigenen Welt – wo oft dichte, aufsteigende Wolken aus Vulkanasche den Himmel verdunkelten – zogen an ihm vorbei. Außerdem gab es noch das gefürchtete Eis-Ödland, das direkt an die Randbezirke von Verlis’ Heimatstadt auf Draconæ grenzte, und doch waren die Unwirtlichkeit und die Härte der Umwelt vergleichsweise harmlos. Viel bedrückender war die Bürgerkriegssituation, mit der sich sein Klan zur Zeit konfrontiert sah. Verlis und seine Leute wurden von Artgenossen gejagt, die es auf ihre Vernichtung abgesehen hatten. Ganz Draconæ befand sich in den Klauen dieses fürchterlichen kriegerischen Konfliktes. Die Zeit drängte, und hoch oben auf den Zinnen Himmelshafens betete Verlis zu seinen uralten Drachengöttern, es möge nicht schon zu spät sein.

Verlis breitete die Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus und machte Anstalten, sich in die Lüfte zu schwingen, denn nun war es fast an der Zeit aufzubrechen. Er wollte sich auf die Suche nach Timothy machen, um mit dem jungen Freund noch einmal ihre Pläne durchzugehen. Bei dem, was sie vorhatten, stand zuviel auf dem Spiel. Sie durften nichts dem Zufall überlassen. Er schlug mit den mächtigen Flügeln und wollte sich gerade von seinem Ansitz lösen und losfliegen, als er aus dem Augenwinkel auf dem Turm eine Bewegung wahrnahm. Rasch wandte er den gehörnten Kopf dorthin, denn er dachte, es handle sich um Timothy – aber die, die da auf ihn zueilten, waren weder der unmagische Junge noch dessen getreue Gefährten.

Sechs Magier näherten sich im Laufschritt – vier Männer und zwei Frauen. Alle trugen schwarze Gewänder, die über der Brust mit diagonal verlaufenden goldenen Knopfleisten verziert waren, in denen sich die Morgensonne spiegelte. Verlis wollte die sechs gerade ansprechen, als einer der Magier ihn ohne jegliche Vorwarnung angriff.

Ein Blitz aus reiner, knisternder Energie löste sich aus der Hand des Mannes und bohrte sich in den linken Flügel des Drachen. Der Flügel wurde auf der Stelle taub; Verlis schrie überrascht und überrumpelt auf und stürzte zu Boden.

„Was soll diese Heimtücke?” donnerte er.

Die sechs Magier verharrten stumm, mit reglosen Mienen und Augen, denen keinerlei Gefühlsregung anzusehen war.

„Ich bin Gast Timothy Cades und des Großmeisters Leander Maddox”, erklärte Verlis, der nach wie vor meinte, hier müsse ein Irrtum vorliegen.

Die sechs antworteten auch diesmal nicht. In ihren Händen leuchtete und zischte magische Energie.

Verlis beeilte sich, um wieder auf die Beine zu kommen, während die Angreifer sich im Kreis um ihn herum aufbauten. „Nun gut!” fauchte er, wobei seine Stimme dem Grollen eines heraufziehenden Gewitters glich. „Wenn ihr den Kampf wollt, dann komme ich euren Wünschen gern entgegen!”

Als nächstes griff ihn eine der Frauen an, die mit hoher, schriller Stimme einen Zauber wirkte, der in der Luft Kugeln aus fester Magie entstehen ließ. Verlis konterte mit einem Zauber, der einen Schild aus blauer, pulsierender Energie vor ihm erschuf, und nur einen Herzschlag später zischten die Kugeln der Magierin auf den Wyrm zu und hätten ihn gewiß schwer verletzt, hätte der Schild ihn nicht geschützt. Womöglich hätte die Wucht ihres Aufpralls sogar durch die dicke Wyrmhaut hindurch Verlis’ Knochen zerschmettert. Ein anderer Magier streckte die Hand aus, woraufhin ein Schwall glühendheißer, knallroter Magie durch die Luft auf Verlis zuschoß. Rasch bewegte Verlis seinen riesigen Reptilienkörper, um den Schlag abzuwehren. Funkensprühend prallte der Angriff ab, versetzte Verlis allerdings einen so heftigen Stoß, daß er ein paar Schritte zurücktaumelte.

Von hinten trafen ihn drei Zauberschläge, und Verlis wirbelte mit einem wütenden Schrei herum. Er versuchte, den Angriff abzuwehren, doch nun kamen die Schläge der Feinde gnadenlos in immer rascherer Folge, und irgendwann zwang ihn die gebündelte Wucht in die Knie. Als der magische Schild des Wyrms zerbrach, klang es wie berstendes Glas. Die Angreifer zogen ihren Kreis noch enger. Pausenlos droschen sie mit ihren Zaubern auf seine immer schwächer werdende Gestalt ein.

In Verlis’ Brust schäumte flüssiges Feuer, die gefährlichste Waffe im Arsenal eines jeden Drachen. Er hob das gehörnte Haupt und bedachte seine Angreifer mit einem wütenden Blick, ehe er tief einatmete, das Maul mit den messerscharfen Zähnen und den brodelnden Flammen hinten im Hals weit aufriß und einen Feuerstoß aus dem klaffenden Schlund spie.

„Wie unvorsichtig”, hörte er von irgendwo oben am Turm eine befehlsgewohnte Stimme sagen. Wer das wohl sein mochte? Zunächst einmal jedoch waren die Feinde, die direkt vor ihm standen, wichtiger. Immer schön der Reihe nach.

Schon loderten die Flammen vor Verlis’ Maul, schon leckten sie hungrig nach den vordersten Angreifern, schon wichen die Männer und Frauen zurück, als ihnen sein brennender Odem immer näher kam. Aber die Flammen erreichten die Magier nie. Irgend etwas hatte das Feuer aufgehalten, die züngelnden Flammen mitten in der Luft erstarren lassen. Noch einmal holte der Wyrm tief Luft, noch einmal schickte er einen Schwall loderndes Feuer gegen seine Gegner – und wieder hingen die Flammen wie versteinert in der Luft, fremdartige, schöne Skulpturen in wütendem Orange und Rot.

Vor dem verblüfften Verlis tauchte ein großer, älterer Mann in einem langen grauen Umhang auf, der ihn mit leicht zur Seite geneigtem Haupt neugierig beäugte. „Wie überaus unvorsichtig”, wiederholte der Fremde, wobei er mit langen, feingliedrigen Fingern die Enden seines langen Schnurrbarts glättete. Das Haar des neu hinzugekommenen Magiers war schwarz, seine Augen waren ebenso grau wie der Umhang, den er trug.

Verlis fauchte.

„Oho, du bist ja ein ganz gefährlicher Bursche!” meinte der Fremde mit dem Umhang.

Dann streckte er schneller, als man denken kann, die Hand aus. Ein enorm starker Magieblitz löste sich aus seinen Fingerspitzen, explodierte und traf Verlis mitten in die mächtige, weinfaßbreite Brust. Der Wyrm wurde rückwärts geschleudert, und die Welt fing an, sich wie verrückt um ihn zu drehen, während er all seine Kraft aufbieten mußte, um nicht das Bewußtsein zu verlieren.

„Regel Nummer eins”, verkündete der Mann im grauen Umhang den anderen sechs Magiern, während er einen Finger so hochhielt, daß alle ihn sehen konnten, „kenne deinen Feind so gut, wie du dich selbst kennst.”

Verlis, dem alles vor den Augen zu verschwimmen drohte, sah fassungslos zu, wie der Neuankömmling vor den anderen Magiern, die stocksteif Haltung angenommen hatten, auf und ab schritt, die Hände auf dem Rücken gefaltet, wobei sich sein Umhang hinter ihm bauschte.

„Man muß jede seiner Handlungen vorausahnen, ehe er sich noch dazu entscheidet”, fuhr er fort und sah dabei jedem einzelnen von Verlis’ Angreifern streng ins Gesicht. „So und nur so könnt ihr in einer Welt, die voller Gefahren steckt, überleben.”

„Ja, Konstabler Grimshaw”, erwiderten die sechs wie aus einem Munde, die Augen streng geradeaus gerichtet.

Verlis nahm all seine Kraft zusammen. Unsicher und schwankend kam er auf die Beine, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und weigerte sich nach wie vor, sich zu ergeben. „Ich habe nichts getan, und doch greift ihr mich an!” Die zitternden Beine trugen kaum den mächtigen Leib. „Ich möchte wissen, warum!”

Der Konstabler, der mit dem Rücken zu ihm stand, drehte sich jetzt langsam um, ein grausames Lächeln auf den Lippen. „Ich dachte eigentlich, das sei vollkommen klar, Monster!” antwortete er auf Verlis’ Frage. „Solche wie ihr gehören nicht auf diese Welt.”

Der Fremde trat näher an Verlis heran. „Lindwürmer”, sagte er, „wilde, mißgebildete kleine Jungen, die keinen Zauber zu wirken vermögen, statt dessen jedoch Menschen aus Metall herstellen – keiner von euch gehört hierher, und deswegen hat man mich gerufen.”

Verlis hatte es die Sprache verschlagen – der Konstabler meinte also nicht nur ihn, er redete auch von Timothy Cade und dessen Gefährten.

Erneut hob Grimshaw die Hand und ließ die Magie fließen. Der Zauber, der Verlis nun traf, war womöglich noch brutaler als der erste und ließ ihn vor Schmerz laut aufheulen; aller Kraft beraubt, mit der er sich hätte wehren können, sank Verlis auf dem Boden in sich zusammen, und die Angriffe des Konstablers droschen auf ihn ein, bis er das Bewußtsein verlor.

„Ich bin hier, um aus dem Chaos Ordnung zu erschaffen.” Das waren die letzten Worte, die Verlis den Konstabler sagen hörte, ehe er in die Umarmung des dunklen, kalten Nichts glitt.

Ordnung aus Chaos.

Der Un-Magier - Drachengeheimnisse

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