Читать книгу Der Un-Magier - Drachengeheimnisse - Christopher Golden - Страница 7
Kapitel zwei
ОглавлениеDie elegante Himmelskutsche, an deren Türen Leander Maddox’ Familienwappen prangte, schwebte reglos in der Luft, ehe sie begann, von den Höhen des Erhabenen Hügels hinab in die Stadt Arkanum zu fliegen. Rings um den Erhabenen Hügel, der am Rande Arkanums lag, sowie auf dem Berg selbst erstreckte sich die beste Wohngegend der Stadt. Viele Häuser in Gipfelnähe hingen durch die Kraft der Magie in der Luft und waren oft nur durch eine einzige Hausecke mit dem Erhabenen Hügel selbst verbunden. Zu diesen Gebäuden gehörte auch das Anwesen Argus Cades.
Wieder einmal hatte Timothy das Haus seines Vaters hinter sich zurücklassen müssen. Hoch oben auf dem Bock der Kutsche, die ihn in die Stadt brachte, thronte Kaiphas, Leanders Navigationsmagus, in seinen nachtblauen Gewändern. Der Kutscher war verschleiert; blaue Magie knisterte aus seinen Fingerspitzen. Timothy selbst hockte mit ärgerlich vor der Brust verschränkten Armen so weit von Leander entfernt wie irgend möglich im sicheren Inneren der Kutsche.
„Timothy, versteh’ doch bitte”, drängte Leander nicht zum ersten Mal flehentlich. „Es gab wirklich nichts, was ich dagegen hätte tun können!”
Der Junge weigerte sich, dem stämmigen Magus direkt ins Gesicht zu blicken. Er zog es vor, durch sein Fenster der Kutsche zu beobachten, wie das Himmelsfahrzeug über die größte Stadt der Nation Sunderlund hinwegschoß. Aber selbst die Größe und Vollkommenheit Arkanums konnte Timothys Laune an diesem Tag nicht verbessern.
Sobald der Junge erfahren hatte, daß Verlis im Kerker gefangensaß, hatte er verlangt, daß sie sofort von Geduld aufbrächen und hatte die Aufgabe, seine Werkstatt zusammenzupacken, Edgar, Sheridan und Ivar überlassen. Sie hatten verwundert und verletzt zugesehen, wie er ohne ein Wort der Erklärung abreiste – Timothy hatte diesen Blick gehaßt. Gleichzeitig hatte er es aber auch nicht über sich gebracht, ihnen zu erzählen, was geschehen war. Dafür schämte er sich viel zu sehr.
„Ich verstehe ja, daß du wütend auf mich bist”, fuhr Leander fort, „aber du mußt wissen ...”
„Ich bin mehr als nur einfach wütend, Leander!” unterbrach Timothy den Freund mit bebender Stimme. „Ich bin verletzt und enttäuscht. Wie konntest du? Wie konnte der Großmeister des Alhazred-Ordens solch ein Unrecht zulassen? Verlis ist doch unser Freund – ganz abgesehen davon, daß er nichts Böses getan hat.”
Seufzend rutschte der stämmige Magus näher an seinen jungen Gefährten heran. „Ich habe alles versucht, das Parlament umzustimmen. Aber die Magi kochen immer noch vor Wut über die heimtückischen, widerwärtigen Dinge, die Nikodemus direkt unter ihrer Nase treiben konnte. Das Parlament befindet sich in heller Aufregung, Timothy, und ist von daher nur allzu empfänglich für die Empfehlungen des Konstablers Grimshaw.”
„Aber du bist doch Großmeister!” klagte Timothy aufgebracht. „Das muß doch irgend etwas zu bedeuten haben!”
Leander nickte. „Ja, es hat etwas zu bedeuten. Aber ich bin der Großmeister eines Ordens, dessen früheres Oberhaupt für üble Machenschaften verantwortlich war und als der schlimmste, verräterischste Magus der jüngeren Geschichte gelten kann. Daß mein Wort in letzter Zeit nicht gerade großes Gewicht hat, das brauche ich doch wohl nicht noch extra zu betonen.”
Timothy drehte sich so, daß er seinen Freund anschauen konnte, indem er das rechte Bein auf den gepolsterten Sitz der Kutsche zog und sich darauf hockte. „Verlis hat nichts getan”, wiederholte er. „Er kam zu uns – zu meinem Vater –, um Hilfe zu erbitten. Mir ist es gleich, unter welchem Verfolgungswahn das Parlament leidet. Welches Recht haben die Parlamentarier, ihn einzusperren?”
Leander schloß die Augen und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. „Ich fürchte, auch auf diese Frage kann ich dir lediglich eine höchst unbefriedigende Antwort geben, mein Junge”, meinte er müde. „Die Reaktion des Konstablers auf Verlis muß man als Überbleibsel einer anderen Zeit sehen, als ein Rest des Mißtrauens und Hasses der alten Tage. Es geht gar nicht darum, daß man Verlis eines konkreten Verbrechens bezichtigt. Konstabler Grimshaw hat ihn nur deswegen einkerkern lassen, weil Verlis ein Wyrm ist und weil seine Rasse als gefährlich gilt.”
Timothy wußte, er hätte nun eigentlich schockiert und erstaunt sein müssen. Der Gedanke, daß Verlis allein deswegen im Kerker hockte, weil er war, was er nun einmal war, kam ihm auch in der Tat schrecklich vor – nur hatten Leanders Worte leider so vertraut geklungen. Beunruhigend vertraut. Auch Ivar hatte von der Intoleranz gesprochen, mit der das Parlament anderen Rassen gegenübertrat. Der Stamm der Asura, zu dem Ivar gehört hatte, war aufgrund der Verdächtigungen und des Hasses der mächtigsten Magi der Welt ausgerottet worden. Nicht zuletzt hatte Timothy diese Haltung Andersartigen gegenüber am eigenen Leibe zu spüren bekommen: von all denjenigen, die ihn fürchteten oder haßten, weil er ein Unmagier war.
Was den Wyrm betraf, so standen für ihn die Dinge noch schlimmer. Verlis hatte Timothy erklärt, die Wyrmer hätten einst auch auf Terra gelebt, und zwar in Höhlen im Dschungel sowie in den Bergen der heißesten Regionen der Welt. Die einzigen natürlichen Feinde, die der feuerspeienden Rasse damals etwas hatten anhaben können, waren die Krieger vom Stamme der Asura gewesen. Jahrhundertelang hatten Wyrmer und Asura Gebietsstreitigkeiten ausgetragen, und in dieser Zeit hatten sich beide Rassen zahlreich vermehrt und ausgebreitet. Sie hatten sich sozusagen parallel entwickelt, verbissen in ihrem Haß aufeinander, der beiden zu gutem Gedeihen zu verhelfen schien. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Lindwurms betrug zweihundertfünfzig Jahre, die eines Asura sogar mehr als dreihundert – so lernten die neuen Generationen den alten Haß ganz frisch von denjenigen, die ihn jahrhundertelang am Leben erhalten hatten, und die Animositäten zwischen den beiden Rassen hatten nie die Chance auszusterben.
Durch die Magi veränderte sich alles. Verlis war noch ein Kind gewesen, als es begann, aber er konnte sich genau daran erinnern. Das Parlament der Magi war noch ganz neu gewesen; die vielen verschiedenen Gilden hatten gerade erst damit begonnen, Frieden zu schließen, zusammenzuarbeiten und die Welt als ihr Eigentum zu betrachten. Viele Wyrmer und auch Asura lebten inzwischen weit von ihren ursprünglichen Heimatgebieten entfernt, hatten sozusagen Ableger gebildet. Dort lebten sie mit ihrer ganz eigenen Art der Magie – noch dazu mit mächtigen Kriegern, aber ohne Loyalität zu einer der Gilden. Natürlich hatte das Parlament diese Ableger nicht gutheißen können. In den Augen eines Magus waren Wyrmer und Asura zutiefst anders als sie, waren Monstrositäten. Aber unter Umständen hätten sich die Magi damit zufriedengegeben, daß sich die Monster der Autorität des Parlaments beugten. Weder Wyrmer noch Asura hatten sich jedoch je irgend jemandes Autorität unterworfen – also galten die beiden Rassen als Bedrohung.
Danach war alles eigentlich ganz schnell gegangen. In den Gebieten, in denen sowohl Lindwürmer als auch Asura existierten, ineinander verbissen in einem zähen, langandauernden Kampf, hatten die Magier angefangen, beide zu unterdrücken. Alhazred hatte damals gerade erst seine eigene Gilde gegründet, den Alhazred-Orden. Es gelang ihm, das Parlament der Magi mit wilden Haßtiraden in völlige Panik zu versetzen – alle waren nun fest davon überzeugt, daß von diesen beiden sogenannten wilden Rassen große Gefahr ausging. Er drängte im Parlament auf die Verabschiedung von Gesetzen zur Kontrolle der Wyrmer und Asura, zu deren Versklavung. Beide, die Wyrmer und die Asura, wurden aus ihren angestammten Gebieten vertrieben. Aber damit gaben sich die Magi nicht zufrieden, und abermals hetzte Alhazred gegen die fremden Rassen, wobei die Magi die Wyrmer allerdings noch mehr haßten als die Asura. Denn immerhin waren die Asura humanoid, menschlich. Sie mochten anders sein – ihre Haut, ihre Augen unterschieden sie –, aber zumindest von der Gestalt her glichen sie den Magi.
Die Unterdrückung war so schlimm geworden, daß die Wyrmer und Asura anfingen, ihre uralte Fehde hintanzustellen und in einigen Gegenden dazu überzugehen, gemeinsam gegen die Magi zu kämpfen.
Das konnte das Parlament natürlich nicht dulden.
Diese ganze häßliche Geschichte hatte Timothy von Verlis selbst erfahren. Eigene Nachforschungen des Jungen sowie Unterhaltungen mit Leander hatten die Erzählungen des Wyrms bestätigt und das schreckliche Bild abgerundet. Vor einhundertsieben Jahren waren die Asura ausgerottet worden. Dreizehn Monate später hatte das Parlament der Magi den Wyrmern dasselbe Schicksal angedeihen lassen wollen. Timothys Vater, Argus Cade, hatte Ivar, den letzten der Asura, retten können, indem er den Krieger heimlich auf die Insel Geduld brachte, die in einer parallelen Dimension existierte. Das hatte Argus dann später auf die Idee gebracht, dasselbe, diesmal jedoch in größerem Ausmaß, auch für die Wyrmer zu tun. Obwohl er Mitglied des Alhazred-Ordens war, erhob er im Parlament die Stimme gegen seinen eigenen Großmeister, der für das Abschlachten der Wyrmer plädierte. Argus schlug eine sanftere Lösung des Problems vor.
Verbannung.
Nun war Alhazred tot, Argus Cade war tot, und auf Terra, genauer in der Stadt Arkanum, befand sich zum ersten Mal seit über hundert Jahren ein Wyrm. Alhazred hatte mit seinen Haßtiraden damals Unrecht getan. Das gesamte Parlament hatte Unrecht getan, als es die Wyrmer unterdrückte. Die Wyrmer als Rasse waren keinesfalls wild und zerstörerisch. Sie waren nicht anders als die Magi selbst: Vielleicht waren einige grausam und bösartig, manche aber waren auch gütig und sanft.
Verlis zumindest war um einiges zivilisierter als die meisten Magi, die Timothy bislang kennengelernt hatte.
„Verlis ist nicht gefährlich!” murmelte Timothy beharrlich, indem er Leander einen harten, strafenden Blick zuwarf. „Ich kenne die Geschichte. Er und seinesgleichen wollten nur in Ruhe gelassen werden. Nun aber tobt ein Bürgerkrieg in seiner Dimension, in Draconæ, und sein Klan wird abgeschlachtet. Verlis will nur Hilfe. Er hat alles, aber auch wirklich alles aufs Spiel gesetzt, um hierher zu gelangen. Ich habe versprochen, ihm zu helfen, Leander!”
Leander sah aus dem Fenster, denn er mochte Timothys Blick nicht erwidern. „Sie wissen und verstehen das alles genau, aber es hat an ihrem Urteil nichts ändern können.” Der Großmeister glättete das dichte, wilde Haar seines roten Bartes, ehe er Timothy ansah. „Sie haben dein Angebot zurückgezogen, dem Wyrm zu helfen.”
Timothy kam es vor, als habe man ihm soeben einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht versetzt. „Mein Angebot zurückgezogen? Wie das? Es war mein Versprechen, nicht ihres! Es ist doch nicht so, als hätte ich Verlis versprochen, das Parlament würde ihm helfen. Ich habe ihm lediglich zugesagt, daß ich mit ihm zusammen nach Draconæ gehe, und genau das plane ich nach wie vor!”
Der Großmeister musterte seinen jungen Freund mit ernster Miene. „Das haben sie verboten”, sagte er leise, die Augen voll Kummer.
Timothy wollte es scheinen, als sei der Mann an seiner Seite in zehn Tagen um ebenso viele Jahre gealtert, aber das trug wenig dazu bei, den Zorn des Jungen zu mildern. „Ich habe es versprochen.”
„Ja, und sie haben dieses Versprechen für null und nichtig erklärt”, erläuterte Leander. „Es tut mir sehr leid, Timothy, aber nach Draconæ wird niemand gehen. Du hast keine andere Wahl, du mußt dem Beschluß des Parlaments Folge leisten. Besonders in diesen Zeiten der Unruhe.”
Die Himmelskutsche wurde langsamer, und der Navigator rief von seinem hohen Sitz herab zu seinen Passagieren: „Wir sind angekommen, Magister Maddox.”
„Sehr schön, Kaiphas”, rief Leander zurück. „Bring’ uns runter. Ich bin bereit.” Mit diesen Worten krempelte er die Ärmel auf, als bereite er einen Zauber vor.
Timothy sah aus dem Fenster auf einen unendlich dichten, weiten Wald, über den die Kutsche hinwegglitt, ehe dann der Ozean in Sicht kam. „Ich dachte, du brächtest mich zu Verlis.”
„Das tue ich auch”, erwiderte der Magus und krümmte die Finger, während er eine fremdartig klingende, summende Zauberformel anstimmte.
„Aber ich verstehe das nicht! Ich sehe da draußen nur Wasser. Wohin haben sie ihn verschleppt? Ist der Kerker durch Magie verborgen?” Aufgebracht drückte Timothy die Stirn gegen die Fensterscheibe, deren Zauberglas sich unter der Berührung sofort auflöste. Kalte Luft strömte voller Wucht in die Kutsche und versetzte dem Jungen einen kräftigen Stoß. Der zog den Kopf sofort wieder ein, woraufhin das Fensterglas sich von ganz allein wieder zusammenfügte.
„Timothy”, meinte Leander tadelnd.
Der Junge wandte sich um. Der Magus betrachtete ihn mit strengem Blick, die Stirn in ungehaltene Falten gelegt. „Mach’ das nicht noch einmal!” wies Leander seinen jungen Freund an.
Dann streckte der Magus beide Arme vor, und Blitze aus reiner magischer Kraft lösten sich bogenförmig aus seinen Fingerspitzen, bohrten sich durch die Wände der Kutsche und verschmolzen miteinander, bis das schwebende Gefährt samt Navigationsmagus in eine durchsichtige Blase aus smaragdgrüner Energie gehüllt war. Diese Magie summte und färbte draußen vor den Fenstern der Kutsche alles ebenfalls smaragdgrün.
„Man hat den Wyrm in das berüchtigtste Gefängnis von Arkanum gebracht”, erklärte Leander, während die Himmelskutsche ihren Abstieg in die Tiefen des tosenden Ozeans begann. „Man nennt es Abaddon. Die Häßlichkeit dieses Kerkers und das, wofür er steht, versteckt sich weder durch Zauber noch durch ein Trugbild vor empfindsamen Augen.”
Die Kutsche in ihrer durchsichtigen Kugel aus Magie hüpfte leicht auf und ab, als sie die Wellen berührte. Dann jedoch begann das Fahrzeug rasch zu sinken, und Timothy keuchte erschrocken auf, als es in der Fahrgastkabine dunkel wurde, weil das Wasser bis über die Fenster hinaus gestiegen war.
Sie schienen ewig fallen zu wollen. Timothy stellte erst fest, daß er die Luft angehalten hatte, als es in seinen Lungen zu brennen anfing und er an nichts anderes mehr denken konnte, als an die Notwendigkeit zu atmen.
„Kein Grund zur Sorge”, sagte Leander. Er beschwor eine schwebende Kugel aus sich sanft drehender Energie herauf, die Licht in die Kutsche brachte, allerdings ein recht diffuses, eher unheimliches. „Wir sind sicher.”
Die Schutzhülle um sie herum glänzte und glühte. In ihrem Schein erhielt Timothy einen ersten Blick auf die fremde Welt hier unten im Meer. Das Wasser schien grau, als sei ihm die Farbe abhanden gekommen. Selbst den Lebewesen des Meeres, die vorbeischossen, um sich hinter Felsen und Pflanzen zu verstecken, fehlte jegliche Farbe.
„Was für ein trauriger, kalter Ort!” bemerkte Timothy und löste den Blick von der farblosen Welt vor den Kutschenfenstern, um seinem Freund einen Blick zuzuwerfen.
Leander nickte zustimmend. „Aber angemessen”, fügte er hinzu.
Kurz vor dem Aufprall auf dem schlammigen Meeresgrund blieb die Himmelskutsche stehen und glitt dann knapp über dem Boden durch das trübe Wasser, als ziehe sie, gelenkt und getrieben von den exzellenten Fahrkünsten des Navigationsmagus, unter einem stürmischen Nachthimmel dahin. Leander neigte den Kopf, um einen Blick aus dem Fenster auf Timothys Seite der Kutsche werfen zu können. Langsam hob er die Hand und deutete in die Tiefen des Ozeans.
„Dort”, sagte er. „Genau vor uns.”
Timothy kniff die Augen zusammen und schaute angestrengt in die Richtung, in die der Magus gezeigt hatte. Zuerst sah er gar nichts – aber dann war es da, massiv und bedrohlich ragte es vom Meeresgrund auf.
„Abaddon”, verkündete Leander im Flüsterton, als sei es an sich schon ein Verbrechen, den Namen zu laut auszusprechen.
Das riesige Gebäude schien aus großen, grauen Steinbrocken errichtet, deren Oberfläche glänzend und glatt wirkte, wahrscheinlich, nahm Timothy an, weil sich dort Algen angesammelt hatten. Runde Fenster blickten wie unzählige Augen hinaus in die Finsternis. Timothy konnte nicht anders, er fühlte sich an ein schreckliches Seeungeheuer erinnert, das auf der Lauer lag und auf vorbeischwimmende Beute harrte.
„Was für ein schrecklicher, häßlicher Ort!” sagte er, als die Kutsche immer näher auf das Gefängnis zuschwebte. Seine Sorge um Verlis wurde auf der Stelle noch größer.
„Der Kerker wurde erbaut, um die gefährlichsten Verbrecher Sunderlunds zu beherbergen”, erklärte Leander. „Es ist, als reflektiere die äußere Hülle Abaddons das Böse, das in seinen Wänden haust.”
Timothy fixierte den Freund mit einem flammenden Blick. „Verlis ist nicht böse”, sagte er heftig. „Er gehört nicht an einen Ort wie diesen hier!”
Seufzend senkte Leander den Kopf. „Du mußt mir glauben, Timothy: Hätte es irgend etwas in meiner Macht Stehendes gegeben, irgend etwas, das ich hätte tun können ...”
Ein merkwürdiges Summen unterbrach den Magier und schreckte sämtliche Insassen der Kutsche auf.
„Achtung, unbefugtes Fahrzeug”, meldete eine kalte, befehlsgewohnte Stimme. „Ihr habt den Bereich der Strafvollzugsanstalt Abaddon betreten. Nennt auf der Stelle euer Begehr, sonst müßt ihr die Konsequenzen für unbefugtes Eindringen tragen.”
Timothy sah aus dem Fenster hinüber zum Gefängnis, auf dessen Flachdach er eine Bewegung wahrnehmen zu können meinte. Verschiedene Waffen richteten sich auf ihr herannahendes Fahrzeug.
„Kontrollzentrum Abaddon, ich bin Leander Maddox, kommissarischer Großmeister des Alhazred-Ordens”, sagte der Magier an Timothys Seite mit einer Stimme, die sich an Autorität und Festigkeit nicht von der unterschied, mit der sie angesprochen worden waren. „Ich glaube, man erwartet uns.”
Die Stimme schwieg. Offenbar überprüfte man Leanders Angaben.
„Euer Besuch ist genehmigt, Großmeister Maddox”, ertönte es dann. „Bitte veranlaßt, daß Euer Fahrzeug in die entsprechende Luftschleuse verbracht wird.”
Ein Licht ging an, das einen runden Eingang an der Vorderseite des Gefängnisses erleuchtete. Kaiphas lenkte die Himmelskutsche darauf zu. Eine pulsierende Barriere aus mystischer Energie, die hier als Tor diente, verblaßte und gestattete den Reisenden den Zutritt zur Anstalt, ehe sie gleich hinter ihnen erneut funkelnd wieder zum Leben erwachte.
Sobald sich die Kutsche innerhalb der Unterwasserkammer befand, stieg sie durch einen runden Schacht zu den Anlegebuchten von Abaddon auf, was bei Timothy ein schmerzhaftes Knacken in den Ohren verursachte. Dann stieß die Kutsche durch die Wasseroberfläche, so daß Kaiphas sie sanft auf dem Boden des Anlegebereichs zur Landung bringen konnte. Leander murmelte einen Zauberspruch, und die magische Blase, in der Kutsche und Lenker gesessen hatten, zerbarst mit einem lautlosen Blitz, um sich gleich darauf spurlos aufzulösen.
Timothy drückte seine Tür auf und setzte vorsichtig den Fuß auf den Steinboden. Die Luft hier im Gefängnis war abgestanden; der Junge fand es unangenehm, sie atmen zu müssen. Er ging ein paar Schritte von der Kutsche weg und sah sich prüfend um; er mußte feststellen, daß das Gefängnis von innen ebenso bedrückend wirkte wie von außen. In den Buchten neben der, in der Kaiphas angedockt hatte, hüpften merkwürdige Fahrzeuge auf und ab, die Timothy mit einem kurzen, aber interessierten Blick streifte. Sein erfinderischer Geist machte sich sofort daran, Mittel und Wege zu erdenken, wie man die doch recht rudimentäre Ausstattung dieser Vehikel verbessern konnte.
„Timothy!” Leanders Stimme riß den Jungen aus seinen Überlegungen. „Entferne dich nicht zu weit von mir”, bat der Magier, der den Blick unverwandt auf eine Tür am anderen Ende des Raumes, in dem sie sich befanden, gerichtet hielt. Timothy ging zu Leander hinüber. Da hörte er auch schon, wie sich hinter der Tür die Schritte mehrerer Menschen näherten.
Kurz darauf betraten sechs uniformierte Wachen den Raum, gekleidet in Gewänder mit hohem Kragen in einem satten Rot – ein Farbton, der in der kalten, trostlosen Umgebung des Gefängnisses einen beunruhigenden Farbklecks abgab. Jeder und jede dieser stoisch wirkenden uniformierten Männer und Frauen hielt ein langes, zylindrisches Objekt in Händen, das nach oben hin spitz zulief und in einem scharfen Dorn endete. Auch wenn Timothy selbst nicht in der Lage war, Magie zu wirken, hatte er sich doch bemüht, sich so viele theoretische Kenntnisse über die Materie anzueignen wie irgend möglich. Von daher wußte er, daß man die Objekte, die die Wachen trugen, als Fokusstäbe bezeichnete. Gleichfalls war ihm die Tatsache bekannt, daß diese Stäbe Zauberwirkende dazu befähigten, mit magischen Kräften umzugehen, die normalerweise für einen Menschen zu stark und von daher schädlich waren. Das spezielle Metall, aus dem die Stäbe bestanden, ermöglichte das Bündeln unglaublich großer Mengen destruktiver Energie, die dann ebenfalls durch die Stäbe auch wieder abgegeben werden konnte.
Als die Wächter ihre Blicke auf Timothy und Leander richteten, konnte der Junge nicht anders, als erschrocken zu keuchen: Unverhohlen stellten alle sechs die Aggression zur Schau, die sie den Besuchern gegenüber empfanden. Leander legte Timothy beruhigend die Hand auf die Schulter, ehe er die Männer und Frauen in dem Tonfall ansprach, dessen er sich bei ganz besonders offiziellen Anlässen bediente.
„Ich bin Leander Maddox, Großmeister des Alhazred-Ordens. Wer führt hier das Kommando?”
Eine große Frau mit scharfen Gesichtszügen schritt in die Haltebucht, goldene Streifen zierten die Schultern ihrer Uniformjacke. „Ich bin Hauptmann Simons, Großmeister Maddox”, sagte sie, wobei sie ganz nebenbei die Ärmel ihrer Bluse zurechtzupfte. „Bitte verzeiht unsere Sicherheitsvorkehrungen, aber dies ist ein Hochsicherheitsgefängnis. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, nicht wahr?” Bei diesen Worten stellte Hauptmann Simons ein Lächeln ohne jegliche Wärme, ohne eine Spur von Humor zur Schau. Timothy spürte, wie ihm einem Wasserfall gleich ein kalter Schauer über den Rücken lief. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, daß nur so wenige Wachen gekommen waren, um sie zu überprüfen und daß bei ihrer Ankunft überhaupt niemand hier im Raum gewesen war. Der Kerker mochte mit einem Maximum an Sicherheit ausgestattet sein, aber Timothy hatte das deutliche Gefühl, hier werde mit einem Minimum an Personal gearbeitet und man verlasse sich lieber auf magische Verteidigungsmaßnahmen. Immerhin saßen die Gefangenen ja auch hinter Schloß und Riegel, und die Zauberwaffen außen am Gebäude waren in der Lage, jeden ungebetenen Gast aufzuspüren.
Die Frau, die sich als Hauptmann Simons vorgestellt hatte, hob ihre mit einem schwarzen Handschuh bekleidete Hand, woraufhin die übrigen Wachen Haltung annahmen und die Fokusstäbe senkten.
„Ich glaube, Ihr seid gekommen, um unseren letzten Neuzugang zu besuchen”, bemerkte Hauptmann Simons. „Wenn Ihr mir folgen wollt, bringe ich Euch zur Arrestzelle des Monsters.”
„Er ist kein Monster!” brauste Timothy auf. „Er ist ein Wyrm und hat einen Namen. Er heißt Verlis.”
Die uniformierte Frau bedachte Timothy mit einem Blick, der schwer zu deuten war. Dann verzogen sich ihre Mundwinkel langsam zu einem verächtlichen Grinsen. „Aber ja doch!” höhnte sie. „Wie konnte ich einen feuerspeienden Kinderfresser nur als Monster bezeichnen! Wie rücksichtslos!” Abrupt machte sie auf dem Absatz kehrt und ging auf die Tür zu, durch die sie und ihre Truppe gekommen waren. „Hier entlang, meine Herren!”
Timothy hatte schon den Mund geöffnet, um ihr zu widersprechen. Kinderfresser! Verlis würde nie ein Kind fressen! Das waren genau die Lügen, hatte der Wyrm Timothy erklärt, die das Parlament verbreitete, wenn es um die Rasse der Feuerspeienden ging. So wollte man sicherstellen, daß sich alle Magi der Welt vor Verlis und seinesgleichen fürchteten. Aber ehe Timothy die richtigen Worte gefunden hatte, um seinen Freund zu verteidigen, war der Hauptmann schon vorausgegangen. Leander legte dem Jungen sanft die Hand auf die Schulter und schob ihn vor sich her – Timothy blieb nichts anderes übrig, als der Frau ärgerlich vor sich hin grummelnd zu folgen, wobei er sich anstrengen mußte, mit der rasch und energisch Ausschreitenden Schritt zu halten.
Das Gefängnis glich einem Labyrinth aus sich windenden Fluren und Türen, die jedem verschlossen blieben, der nicht in der Lage war, den passenden Zauberschlüssel hervorzuziehen. Die Wächter folgten dem Hauptmann und den Besuchern auf den Fersen, als rechneten sie jederzeit mit Problemen. Immer wieder warf Timothy über die Schulter hinweg ängstliche Blicke auf die fünf, wobei er stets vollkommen unbewegte Mienen zu sehen bekam. Es gab auf der Welt etwa eine Million Orte, an denen der Junge in diesem Moment lieber gewesen wäre als ausgerechnet in diesem Gefängnis, aber er hatte keine andere Wahl. Er mußte Verlis sehen, er brauchte die Gewißheit, daß dem Freund nichts geschehen war.
Sie näherten sich gerade dem Ende eines weiteren unendlich langen, unendlich gewundenen Ganges, als Hauptmann Simons stehenblieb, einen gutturalen Zauber murmelte und mit der Hand durch die Luft vor einer Glaskugel fuhr, die an ein riesiges Insektenauge erinnerte und in den Rahmen der Tür eingelassen war, vor der der Flur endete. Mit einem schlangengleichen Zischen hob sich die Tür, verschwand in der Decke, und die Gruppe trat auf einen Laufsteg, der quer durch einen riesigen Raum verlief. Nunmehr befanden sie sich in einer gewaltig großen Kammer, die zig Meter breit und ebenso lang war. Wohin Timothy auch schaute, überall fiel sein Blick auf Gefängnisse aus kristallisierter Magie, die schwerelos im Raum schwebten. Er spürte die Gefangenen, die ihn aus ihren Käfigen heraus mit hungrigen Augen anstarrten, die sich verzweifelt danach sehnten, von ihm gesehen, von ihm wahrgenommen zu werden. Timothy hätte nicht sagen können, ob er je in seinem Leben Bedrückenderes gesehen hatte. Als Leander ihm den kräftigen Arm um die Schultern legte, zuckte der Junge erschrocken zusammen.
„Komm’ weiter, Timothy”, drängte der Magus sanft. „Von all diesen Dingen hier solltest du nicht mehr zu sehen bekommen, als unbedingt notwendig und nicht zu vermeiden ist.”
Rasch eilten sie durch den gigantischen Raum, Hauptmann Simons immer vorneweg. Der Frau war offenbar nicht entgangen, wie sehr der Anblick ihrer Gefangenen Timothy verstört hatte. Als sie vor einer Tür am Ende des Laufstegs stehenblieb, deutete sie mit einer Handbewegung auf die Käfige.
„Es ist besser, daß sie dort drin sind und nicht frei herumlaufen!” sagte sie. „Das macht die Welt zu einem viel sichereren Ort, das kannst du mir ruhig glauben.”
Sie öffnete ein weiteres magisches Schloß, und die Tür hob sich und verschwand in der Decke, um den Besuchern den Zutritt zu einem weiteren Raum zu gewähren. Er war wesentlich kleiner als der, den sie soeben verlassen hatten. Ein einzelner Käfig ruhte dort auf einer großen Plattform, und in diesem Käfig hockte Timothys Freund.
„Mit dem hier wollten wir nun wirklich keine Risiken eingehen”, kommentierte Hauptmann Simons mit einem Blick auf den Käfig. „Wir hielten es für klüger, es vom Rest der Insassen getrennt zu halten.”
Timothy bekam die Worte des Hauptmanns kaum mit, und ihm entging auch, daß die Frau Verlis als es bezeichnete. Ohne noch groß auf etwas anderes zu achten, rief der Junge laut den Namen seines Freundes und rannte auf den Käfig zu.
„Komm’ sofort hierher zurück!” bellte Hauptmann Simons aufgebracht. „In Gegenwart der Gefangenen muß man zu jeder Zeit äußerste Vorsicht walten lassen!”
Die Wachen, die sich in der offenen Tür aufgebaut hatten, nahmen bei diesen Worten Haltung an und hoben die Fokusstäbe.
„Wartet bitte. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen!” appellierte Leander an die Uniformierten. „Die beiden sind Freunde, der Junge und der Wyrm. Verlis würde Timothy nie etwas antun.”
Je näher Timothy dem Käfig kam, in dem sein Freund hockte, desto langsamer wurden seine Schritte. Verlis’ Zelle war nicht wie die anderen Käfige aus Magie erbaut. Die Gitterstäbe hier waren aus dickem, schwarzem Metall.
„Verlis!” Erschüttert spähte Timothy durch das Gitter, und seine Stimme war nur noch ein leises Flüstern. „Ist ... ist alles in Ordnung?”
Der Wyrm antwortete nicht, sondern verharrte weiterhin reglos in der Käfigmitte. Als Timothy nähertrat, verstand er das Schweigen des Freundes. Verlis trug eine Art Maulkorb um die Schnauze – eine Vorsichtsmaßnahme gegen den Feuerodem, nahm Timothy an. Zusätzlich hatte man ihn in Ketten gelegt und ihm metallene Panzerhandschuhe über die Klauen gestreift, wohl um Magie zu unterbinden, die er mit Gesten hätte wirken können. Selbst die mächtigen Schwingen des Wyrms waren gefesselt: Man hatte sie ihm mit einem festen Metallband an den Rücken geschnallt. Das Band sah aus, als sei es aus demselben Material geschmiedet wie die Gitterstäbe der Zelle.
Timothy wurde ganz weh ums Herz. „Es tut mir so leid!” stöhnte er und klammerte sich mit beiden Händen fest an die kalten Gitterstäbe. „Aber mach’ dir keine Sorgen!” versicherte er gleich darauf entschlossen. „Leander und ich werden alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um dich hier rauszuholen!”
Er griff in den Käfig, um die Hand auf die Metallfessel zu legen, die man dem Wyrm über die Klaue gestülpt hatte. Sofort zog Verlis die Klaue zurück. Seine dunklen Augen funkelten wütend und verletzt.
„Verlis, bitte ...”, bettelte Timothy, aber der Lindwurm kehrte ihm den Rücken. Der Junge trat vom Käfig zurück, denn die abweisende Haltung seines Freundes tat ihm weh. „Ich weiß, daß du mich jetzt wahrscheinlich haßt – daß du uns alle haßt, und ich kann auch verstehen, weswegen das so ist.”
Verlis drehte sich nicht um.
„Aber ich möchte, daß du weißt”, fuhr der Junge fort, „daß ich dich hier raushole. Das verspreche ich dir.”
„Ist das so?” vernahm man da eine dröhnende Stimme, die Timothy nicht zuordnen konnte.
Der Junge drehte sich hastig um und sah eine Gestalt in einer tiefschwarzen, gestärkten Uniform und einem langen, wehenden Umhang den Raum betreten. Hauptmann Simons nahm Haltung an, und Leander tat sein Bestes, ein wütendes Stirnrunzeln zu unterdrücken. Der Neuankömmling war groß und kräftig gebaut; er hatte harte Augen und einen schwarzen Schnurrbart, der in krassem Gegensatz zu den feingemeißelten blassen Gesichtszügen stand.
„Du mußt Timothy Cade sein!” bemerkte der Fremde, indem er die Hand hob und sich die Enden seines Schnurrbartes glattstrich. „Gestatte mir, mich vorzustellen”, sagte er und schritt weiter in den Raum hinein.
„Ich bin Konstabler Grimshaw.”
„Dann seid Ihr derjenige, der Verlis hier hereingesteckt hat!” entgegnete Timothy, wobei er den Konstabler wütend anfunkelte und erregt auf die Zelle deutete, die hinter ihm aufragte.
Grimshaws Augen glitzerten stolz. „Das siehst du völlig richtig!” meinte er mit einem höflichen Lächeln, während er auf Timothy und den Käfig zuging. „Der Wyrm stellte für die Sicherheit unserer Welt eine ernsthafte Bedrohung dar, ebenso für alle Gilden im Parlament der Magi. Wir können es nicht zulassen, daß heimtückische wilde Bestien, die über Kräfte verfügen wie dieser Wyrm, frei in der Gegend herumlaufen. Das reine Chaos wäre die Folge. Aus diesem Grund hatte man die Wyrmer ja auch aus Terra verbannt.”
„Da habe ich aber anderes gehört!” murmelte Timothy ungehalten.
Der Konstabler zog eine Braue hoch und warf Leander einen mißtrauischen Blick zu. „Ach ja?” fragte er. „Es würde mich wirklich interessieren zu erfahren, wie du es denn dann gehört hast – und von wem.”
Darauf ging der Großmeister gar nicht erst ein, sondern starrte Grimshaw lediglich herausfordernd an.
Verlis in seinem Käfig hatte sich umgedreht und beäugte nun wachsam den näherkommenden Konstabler. Von irgendwo tief in der Brust des Wyrms drang dumpfes Grollen, und Timothy sah genau, wie sein Freund versuchte, sich gegen die Fesseln zu wehren, ohne dabei allerdings Erfolg zu haben.
„Er hat niemandem etwas getan”, sagte der Junge.
„Noch nicht”, erklärte Grimshaw und reckte einen langen, dünnen Zeigefinger hoch, um seine Worte zu betonen. „Noch hat er niemandem Schaden zugefügt.” Der Konstabler verschränkte die Hände auf dem Rücken und fing an, vor Timothy auf und ab zu gehen.
„Siehst du, Tim – ich darf dich doch Tim nennen, oder?” fragte er, wobei er kurz stehenblieb, um dem Jungen einen fragenden Blick zuzuwerfen.
„Nein!” gab Timothy wütend zurück.
Grimshaw gluckste vergnügt, ehe er seinen Weg wieder aufnahm. „Ihr, junger Meister Cade, Ihr blickt auf die Bestie dort im Käfig und seht in ihr eine noble Kreatur, einen Freund sogar. Ich aber sehe etwas weit Gefährlicheres. Wenn ich den Wyrm anschaue, dann sehe ich unsere großen Städte in Flammen aufgehen, unsere Bürger verarmt und verelendet oder schlimmer noch, von den Bestien verschlungen. Ich sehe die Saat einer Bedrohung, der man Einhalt gebieten muß, ehe sie Gelegenheit erhält, Wurzeln zu schlagen.”
Der Konstabler hörte auf hin und her zu laufen und musterte Timothy mit einem kalten, berechnenden Blick. „Fragst du dich jetzt, was ich wohl sehen mag, wenn ich dich anschaue, Junge?”
In der Kammer herrschte unheimliche Stille, während Konstabler und Unmagier einander mit Blicken durchbohrten.
„Konstabler!” rief da Leander von der anderen Seite des Raumes her, und Timothy entging die Warnung nicht, die in der Stimme seines Freundes mitschwang.
„Es ist schon in Ordnung, Leander!” Auch Timothy hatte die Stimme erhoben. Er wußte, daß der Mann da vor ihm gefährlich war, aber er brachte es einfach nicht über sich, vor ihm zurückzuweichen. Die Situation erinnerte ihn an eine der zahlreichen Lektionen in der Kunst des Kämpfens, die Ivar ihm hatte zuteil werden lassen: Laß den Feind nie merken, wenn du Angst hast. In diesem Augenblick tat Timothy sein Bestes, der Maxime des Asura gerecht zu werden.
„Was seht Ihr denn, Konstabler Grimshaw?” fragte er ruhig. „Ich bin neugierig.”
Wieder hob Grimshaw die Hand, um sich die Schnurrbartenden zu glätten. „Du bist schlau, Junge!” meinte der Konstabler. „Aber ein Magus bist du nicht. Du bist auf deine Weise nicht viel anders als dieser Wyrm hier – abgesehen vielleicht von der Tatsache, daß du nicht in einem Käfig sitzt.”
Timothy biß die Zähne zusammen, um das Zittern zu unterdrücken, das ihm in die Glieder gefahren war. Die Worte, die Grimshaw nicht ausgesprochen hatte, die er aber bestimmt dachte, lagen so eindeutig in der Luft, als habe er sie ausgesprochen. Grimshaw hatte den Satz ebenso beenden wollen, wie er zuvor einen Satz beendet hatte – als von Verlis die Rede gewesen war. Noch nicht. Der Konstabler sah in Timothy dasselbe, was auch viele Mitglieder im Parlament der Magi in dem Jungen gesehen hatten, als dieser ihnen vorgestellt worden war: Sie alle sahen in ihm eine Bedrohung, etwas, wovor man sich fürchten mußte.
Timothy wandte den Blick von Grimshaw ab, um ihn auf die Metallstreben des Käfigs zu richten, der seinen Freund gefangenhielt. Jetzt war ihm alles vollkommen klar, und wie ein Funke hungrigen Feuers Hakka-Pulver in Brand setzt, so entfachte diese Erkenntnis in Timothy hellodernden Zorn.
„Wegen meines ... Gebrechens benutzt ihr keine Magie, um ihn gefangenzuhalten.”
Bei diesen Worten knurrte der Wyrm erneut, bäumte sich gegen seine Fesseln auf und warf einen dunklen, schrecklichen Blick auf den Konstabler. Der lächelte kalt, drehte sich um, um die Kerkerzelle zu bewundern, packte eine der Metallstreben und rüttelte daran.
„Wir haben Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um sicherzustellen, daß der Gefangene uns auch erhalten bleibt.” Grimshaw sah Timothy an. „Dabei haben wir alle denkbaren Varianten berücksichtigt. Auch kleine Jungen, die in der Lage sind, Magie zu zerstören.”
Timothy schnaubte verächtlich und funkelte den Konstabler trotzig an, ehe er sich wieder dem Käfig zuwandte, um ihn sich in allen Einzelheiten einzuprägen. Er merkte sich ganz genau jeden einzelnen Winkel der Konstruktion, achtete darauf, an welchen Punkten das Metall zusammengeschmiedet war. Einen Käfig wie diesen hier hätte auch er bauen können, wenn ihm danach zumute gewesen wäre – oder vielleicht sogar auseinandernehmen.
„Wie lange, Konstabler Grimshaw?” erkundigte sich Timothy ganz ernsthaft. „Wie lange, bis ihr versucht, mich in einen dieser Käfige zu sperren?”
Der Konstabler legte die Hand vorn auf seinen schwarzen, mit goldenen Knöpfen verzierten Uniformrock, ehe er theatralisch tief Luft holte. „Junger Meister Cade, Ihr tut mir bitter Unrecht. Man muß wirklich schon eine große Bedrohung für die Nation Sunderlund darstellen, um hier eingesperrt zu werden. Möchtet Ihr etwa andeuten, Ihr könntet eine solche Gefahr sein?”
Timothy kochte vor Wut. Er konnte sich nicht erinnern, je so wütend gewesen zu sein – oder sich derart hilflos gefühlt zu haben. Er mußte hier raus, ehe er irgend etwas sagte, was ihn oder seine Freunde in Schwierigkeiten bringen konnte.
Noch einmal steckte er die Hand zwischen den Gitterstäben hindurch in den Käfig.
„Vorsichtig, Junge!” warnte Grimshaw.
Timothy beachtete den Mann nicht, sondern legte die Hand zärtlich auf die Metallhülle, die Verlis’ Klaue umgab. Diesmal zog der Wyrm diese nicht weg.
„Ich muß jetzt gehen”, sagte Timothy leise. „Aber ich werde bald wiederkommen und dich besuchen.” Der Junge sah dem Wyrm tief in die Augen und hoffte, dieser würde die Botschaft verstehen, die in seinen Worten lag. Timothy würde alles, aber auch wirklich alles in seiner Macht Stehende tun, um den Freund zu befreien.
Mit einem letzten Nicken entfernte sich der Unmagier vom Käfig und ging hinüber zu Leander, der, umgeben von den Wachen, an der Tür auf ihn wartete. „Ich möchte jetzt gehen!” teilte er dem Großmeister mit. Der legte tröstend die Hand auf die Schulter seines jungen Freundes und geleitete ihn durch die Tür hinaus in den Flur.
„Es war mir ein Vergnügen, deine Bekanntschaft gemacht zu haben!” rief der Konstabler den beiden nach. „Ich hoffe, wir erhalten bald wieder Gelegenheit, miteinander zu plaudern!”
Ein letztes Mal drehte sich Timothy zu dem Mann um. Die Tür hatte bereits angefangen, sich hinter ihm zu schließen.
„Worauf Ihr Euch verlassen könnt!”