Читать книгу Der Un-Magier - Drachengeheimnisse - Christopher Golden - Страница 8
Kapitel drei
ОглавлениеTimothy hatte fast sein gesamtes Leben auf der Insel Geduld verbracht, wo er nur sich selbst Rechenschaft geschuldet hatte. Die Vorstellung, das Parlament könne Verlis gefangennehmen und ein Versprechen, das Timothy dem Wyrm gegeben hatte, ganz einfach außer Kraft setzen, war für den Jungen zutiefst erschreckend. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Frustration verspürt, eine solche Verärgerung, eine so vollständige, absolute Hilflosigkeit.
Aber wie konnte er sich gegen das Parlament zur Wehr setzen?
Das Unterwassergefängnis von Abaddon stellte ein Wunderwerk der Magie dar, und Timothys analytischer Verstand hätte es sehr gern gesehen, wenn der Junge noch länger hätte dortbleiben können, um das Gebäude genau zu untersuchen und herauszufinden, wie es erbaut worden war. Zwar war Timothy so voller Wut und Trauer um seinen Freund gewesen, daß er sich nicht richtig auf solche Dinge hatte konzentrieren können – aber sogar unter diesen Umständen waren ihm ein paar Details ins Auge gefallen, die er sich sofort gemerkt und in seinem Hinterkopf gespeichert hatte.
Ganz gleich wie, er würde Verlis herausholen. Das Parlament hatte ganz einfach Unrecht getan; den Wyrm in den Kerker zu werfen war ungerecht, und da anscheinend niemand Timothy wie einen Bürger der großen Nation Sunderlund behandeln wollte, sah dieser die Gesetze dieser Nation oder die Beschlüsse des Parlaments der Magi für sich auch nicht als verbindlich an.
Andererseits war der Junge durchaus kein Narr. Er wußte genau, daß er auf dieser Welt nirgendwo sicher sein würde, wenn er sich mit dem Parlament anlegte und daß er unter Umständen sogar selbst in einem der Käfige von Abaddon landen konnte.
Sobald die Kutsche mit Timothy und Leander aus dem Meer aufgetaucht war, hatte Kaiphas sie nach Süden gelenkt, immer an den Luftströmungen entlang, die sie nach Himmelshafen führen würden. Als die Festung in Sicht kam, dieses wunderbare, hoch über dem Ozean schwebende Anwesen, zitterte Timothy. So schreckliche Dinge hatte er in Himmelshafen erlebt, daß ihm bei der bloßen Erinnerung daran eine Gänsehaut über den Körper kroch. Die verzweifelten Geister, all das Blutvergießen, der unglaubliche Verrat, den Nikodemus begangen hatte – der Junge konnte nicht glauben, daß je ein Tag kommen würde, an dem diese Ereignisse aufhörten, in den Fluren Himmelshafens widerzuhallen.
Nun aber befand sich das Schloß in Leanders Händen. Als Großmeister des Alhazred-Ordens hatte der rothaarige Magier eine Funktion übernommen, nach der er nie gestrebt, die er für sich nie ersehnt hatte. Am liebsten wäre Leander an die Universität von Saint Germain zurückgekehrt, zu seinen Studenten. Auch wenn der Magier schon vor seiner Ernennung zum Großmeister im geheimen als Ermittler für das Parlament gearbeitet hatte – eine Aufgabe, von der kaum jemand etwas gewußt hatte und bei der er sich nur dem Parlament gegenüber hatte verantworten müssen –, wußte Timothy eigentlich genau, daß der Freund sich selbst immer nur als Professor Maddox sah, nie als Großmeister.
Aber ganz gleich, wie Leander sich fühlte: Er war nun einmal Großmeister. Dem Alhazred-Orden vorzustehen war keine Aufgabe, um die Timothy ihn beneidete.
Kaiphas thronte hoch oben auf seinem Sitz und lenkte die Himmelskutsche über die schwebende Festung hinweg. Unter den Reisenden flatterten Banner im Wind, und Timothy konnte Magi beobachten, die auf dem weiten Gelände innerhalb der Festungsmauern ihre Zauberkünste trainierten. Tiefgrün schimmerte der Ozean – bis Timothy ihn nicht mehr sehen konnte, da Kaiphas sein Gefährt sicher zwischen die Türme von Himmelshafen hindurch ins Innere der Festung gelenkt hatte.
Sanft landete der verschleierte Navigationsmagus seine Kutsche sicher direkt vor dem Haupteingang des Schlosses. Während das Gefährt langsam und sacht aufsetzte, blickte Timothy aus dem Fenster und bemerkte einen dünnen Mann, der auf sie zugerannt kam. Das Gesicht des Mannes wirkte in einer merkwürdigen Mischung aus Arroganz und Beflissenheit seltsam verkniffen, als hasse er es, auf die Kutsche zulaufen zu müssen wie jeder x-beliebige Diener, obwohl er natürlich genau das war.
„Er?” fragte Timothy unfähig, sich zurückzuhalten. „Ihn hast du hierbehalten?”
Die Tür flog von ganz allein für Leander auf, doch er hielt noch einmal inne und warf seinem jungen Freund einen liebevollen Blick zu. „Carlyle ist mein wichtigster Gehilfe. Er weiß mehr über die internen Zusammenhänge des Ordens als irgend jemand sonst. Er ist für mich von unschätzbarem Wert.”
„Aber ...”, knurrte Timothy kopfschüttelnd.
Leander lächelte. „Das heißt noch lange nicht, daß ich ihn mag.”
Mit diesen Worten stieg der stämmige Magier aus der Himmelskutsche auf den Boden, wo ihm der Wind sofort Haare und Bart zerzauste. Timothy zögerte einen Moment, ehe er dem Freund folgte.
„Einen guten Tag, Großmeister. Willkommen daheim”, begrüßte Carlyle seinen Herrn, wobei er devot den Kopf neigte, eine Geste des Respekts, die Timothy als hohl und nichtssagend empfand.
Carlyle trug ein grünes Gewand, das in der Taille von einem Gürtel gehalten wurde und dessen Stoff so ordentlich fiel, als seien die Falten gemalt. Alles an dem Mann war ordentlich und exakt. Aber als sein Blick nun an Leander vorbei auf Timothy fiel, bebten seine Nasenflügel, und eine Augenbraue zuckte mißbilligend.
Diese Gefühle beruhen ganz und gar auf Gegenseitigkeit! dachte Timothy, unterließ es aber, die Worte laut auszusprechen. Momentan bereitete ihm Konstabler Grimshaw weitaus mehr Kopfzerbrechen als der arrogante, nervtötende Carlyle.
„Was ist?” fragte Leander.
Carlyle nickte. „Für Euch ist eine Botschaft vom Parlament eingetroffen. Man erteilt Euch Order, Euch sofort einzufinden. Ein Grund für diese dringende Vorladung wurde allerdings nicht genannt.”
Nachdenklich strich sich Leander über den dichten Bart. Timothy war aufgefallen, daß in Carlyles Worten eine gehörige Portion Befriedigung mitgeschwungen hatte – als sei der neue Herr des Mannes in Schwierigkeiten geraten und Carlyle freue sich darüber. Leander schien dies entweder nicht mitbekommen zu haben, oder es machte ihm nichts aus.
„Gut”, sagte er ruhig. „Ist Meister Fraxis eingetroffen?”
Carlyle runzelte die Stirn. „Ja. Aber die Nachricht vom Parlament...”
„Die kann ein klein wenig warten, schon aus Gründen der ganz gewöhnlichen Höflichkeit. Wir gehen jetzt ins Schloß, erklären unserem Besucher, warum unser Treffen mit ihm verschoben werden muß, und dann werdet Ihr dafür sorgen, daß es ihm nicht an Bequemlichkeit mangelt, bis ich zurückkomme.”
Der Gehilfe schien etwas einwenden zu wollen, überlegte es sich aber wohl anders. „Natürlich”, sagte er nur.
Als nächstes wandte sich Leander an Timothy, weswegen Carlyle den Jungen wütend anfunkelte, was dieser jedoch ignorierte.
„Ich wünschte, ich könnte dafür sorgen, daß du fühlst, was ich fühle”, sagte der Großmeister leise und traurig. „Es gibt einen Zauber, mit dem man genau das bewirken kann, aber der würde bei dir nicht funktionieren. Ich gehe jetzt ins Schloß, um meinen Besucher zu begrüßen, aber dann muß ich auch schon wieder fort.”
„Weil das Parlament dir befehlen kann, was du zu tun und zu lassen hast”, sagte Timothy, unfähig, die Bitterkeit zu unterdrücken, die er empfand und die nun ganz deutlich in seinen Worten zu hören war.
Leander nickte ernst. „Ja. Genau das kann das Parlament. So geht es nun einmal zu auf der Welt. Der Orden und das Parlament – das sind neben meinem Lehrstuhl an der Universität die Dinge, um die herum ich mein Leben aufgebaut habe. Ich wünschte, du könntest das verstehen. Was Verlis widerfahren ist, tut mir sehr, sehr leid. Ich war noch nicht auf der Welt, als die Wyrmer nach Draconæ verbannt wurden, aber du kannst sicher sein, daß ich im Parlament gegen die Behandlung, die ihnen widerfuhr, aufgestanden wäre, so wie dein Vater es getan hat. Ich stimme wirklich nicht immer mit den Beschlüssen des Parlaments überein, aber ich muß mich trotzdem daran halten.”
Timothy schüttelte nur wortlos den Kopf; Leander zögerte noch einen winzigen Moment lang, drehte sich dann aber um und eilte auf den Eingang Himmelshafens zu. Mit deutlich gerümpfter Nase folgte Carlyle seinem Herrn ins Innere des Schlosses.
„Du bist ihm gegenüber ziemlich hart, mein Junge.”
Stirnrunzelnd blickte Timothy zu Kaiphas hoch. In die blauen Roben seines Standes gehüllt, thronte der Navigationsmagus auf dem Kutschbock, während Funken aus reiner Magie um seine Finger tanzten. Sehr bald schon würde Leander zurückkommen, und dann würden sich Großmeister und Navigationsmagus erneut auf den Weg machen. Zum ersten Mal, seit Timothy Kaiphas kannte, wurde dem Jungen bewußt, welch starker und geschickter Zauberer dieser Mann sein mußte, um seine Himmelskutsche den ganzen Tag über sicher durch die Lüfte zu steuern. Zwar konzentrierte sich die von ihm ausgeübte Magie auf einen ganz bestimmten Bereich, auf eine einzige, klar definierte Kunst, aber diese beherrschte er wirklich perfekt.
„Er hat es verdient”, erwiderte Timothy mit einem trotzigen Blick in die Augen, die oberhalb des Gesichtsschleiers des Navigationsmagus sichtbar waren. „Er hätte sich stärker für Verlis einsetzen müssen, er hätte wirklich kämpfen müssen.”
Kaiphas seufzte müde. Der dichte Schleier vor seinem Gesicht ließ tatsächlich nur seine Augen sehen, aber der Ausdruck in diesen Augen sprach Bände. „Er gibt sein Bestes, Timothy. Professor Maddox gibt immer sein Bestes. Derzeit ist er hin- und hergerissen. Als Großmeister zu fungieren ist für ihn eine größere Belastung, als du dir vorstellen kannst. In den letzten Tagen wurde jeder einzelne Magier des Ordens aufgefordert, in Himmelshafen zu erscheinen und sich einer Befragung zu unterziehen. Das gilt selbst für Männer, die großen Respekt genießen, wie Magister Fraxis. Bei den meisten der Befragten hat sich herausgestellt, daß ihre Loyalität eher dem Orden selbst galt als Großmeister Nikodemus. Aber ich habe auch gehört, wie der Professor – entschuldige, der Großmeister natürlich – Magier erwähnte, deren Augen von Bosheit ganz finster waren und andere, denen man einfach nicht trauen kann.
Vertrauen. Das ist in letzter Zeit ein kostbares Gut geworden, Timothy. Großmeister Maddox versucht, dem Parlament zu dienen, die Interessen seines Ordens gut zu vertreten und gleichzeitig dem eigenen Herzen zu folgen, soweit es die Belange der Universität und seine Gefühle für dich betrifft. Aber wir wissen doch beide genau, daß es völlig unmöglich ist, es allen recht zu machen. Genau das versucht er jedoch, Timothy. Darauf zumindest kannst du vertrauen. Der Großmeister wird alles in seiner Macht Stehende tun, um dich zu schützen – selbst wenn es bedeutet, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn nichts anderes möglich ist, schenke ihm doch wenigstens dein Vertrauen.”
Timothy schaute in die funkelnden blauen Augen des Navigationsmagus und schämte sich. Kaiphas hatte ja recht – Leander tat wirklich sein Bestes, natürlich tat er das. Aber die Situation war viel komplizierter, als Timothy zugeben wollte.
„Das werde ich”, flüsterte der Junge Kaiphas zu. „Das tue ich doch bereits!”
Der Navigationsmagus nickte, ehe er die Augen auf einen Punkt hinter Timothy richtete. Der Junge drehte sich um. Leander kam bereits aus dem Schloß zurück.
„Danke, das mußte mir mal gesagt werden!” sagte Timothy.
Kaiphas antwortete ihm nicht mehr.
Dann eilte der Junge auf den Schloßeingang zu, um Leander abzufangen. Die Lage, in der Verlis sich befand, wollte er im Moment nicht weiter erörtern, und Leander hatte ganz sicher ebenfalls andere Dinge im Kopf, aber Timothy hatte das dringende Bedürfnis, den großen Magus einmal ganz fest zu drücken. Dann eilte er weiter. Ivar, Sheridan und Edgar warteten bestimmt schon auf ihn.
An der Tür blieb er stehen und sah, daß Leander ihn beobachtete, ganz offensichtlich überrascht von der liebevollen Umarmung. Timothy lächelte und winkte dem Großmeister freundlich zu.
Leander winkte zurück, einen fragenden Ausdruck im Gesicht. Aber die Zeit drängte, im Parlament wartete man auf ihn. So eilte er nach einem letzten kurzen Zögern hinüber zu seiner Himmelskutsche, und schon wenig später strömte blaue Magie aus Kaiphas’ Fingern, und das prächtige Gefährt hob sich vom Boden und schwebte hinfort.
***
Was nun?
Immer wieder kehrten Leanders Gedanken zu dieser Frage zurück, während Kaiphas die Himmelskutsche hoch über die Stadt Arkanum lenkte. Normalerweise beruhigte ihn eine solche Reise. Die eleganten Türme und Zinnen der Stadt in ihren blassen Rottönen und dem glänzenden Türkis schufen eine Art elementarer Farbgebung, schienen Erde, Feuer und Wasser symbolisieren zu wollen. Der Anblick war atemberaubend. Aber die Nachwehen der von Nikodemus begangenen Verbrechen hatten so viele politische Probleme mit sich gebracht, daß es Leander so vorkam, als könne er sich einfach nirgends und nie mehr richtig entspannen.
Dabei bereiteten ihm ja nicht nur die Politik sowie diese neue Vorladung vor das Parlament große Sorgen. Auch Timothy ging dem Großmeister nicht aus dem Kopf. Der Junge meinte es gut – das tat er immer –, aber er mußte erst noch lernen, Ungerechtigkeiten des Systems von innen heraus zu bekämpfen. Kein Junge, ganz gleich, wie einzigartig er sein mochte, konnte es mit der geballten Macht des Parlaments der Magi aufnehmen. Selbst Argus Cade, der doch nun wirklich von vielen aufrichtig respektiert worden war, hatte den Haß nicht abbauen können, den das Parlament den Wyrmern gegenüber empfand. Es war ihm lediglich gelungen, die Magier davon zu überzeugen, daß Verbannung eine zivilisierte Art der Strafe darstellte und daß ein fortgesetzter, unnötiger Krieg ebenso barbarisch war wie einige der Taten, die die Magier den Wyrmern zur Last legten. Leander war erst sechsundsiebzig Jahre alt und galt von daher als Magus mittleren Alters, aber er wünschte sich oft, er hätte Argus Cade auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft erleben dürfen und wäre schon am Leben gewesen, als sein verehrter Lehrer vor dem Parlament geredet und gestritten hatte. Argus hatte die Kunst, das System von innen heraus zu verändern, bis zur Perfektion beherrscht. Seinem Sohn jedoch waren solch feine Nuancen unbekannt. Für Timothy gab es nur richtig oder falsch.
Leander seufzte. Sobald er dieses Treffen hinter sich hatte, würden Timothy und er sich einmal lange und ausführlich miteinander unterhalten müssen. Es gab mehr als eine Art zu kämpfen!
Die Himmelskutsche neigte sich ein wenig, während sie nach links abbog. Durch das Fenster konnte Leander bereits die Gebäude des Parlaments erkennen, einen ausgedehnten Komplex mitten im Herzen der Stadt. Hier standen Steingebäude, traditionelle Arkanum-Zinnen und riesige, höhlenartige Hallen. Den Mittelpunkt des Ganzen bildete der Xerxis, das älteste Gebäude ganz Sunderlunds, das einst Xerxes als Palast gedient hatte, einem der größten der legendären Zauberer der alten Zeit. Jetzt war hier der große Versammlungssaal des Parlaments der Magi untergebracht. Aber der Xerxis war wirklich auch nur der Kern des Parlamentskomplexes. Um die Halle herum hatte man in den Jahren und Jahrhunderten so viele Gebäude errichtet, daß sich die Anlage nun über drei komplette Straßenzüge erstreckte. Hier gab es Bibliotheken, Wohngebäude, Büros und Restaurants. Die Größe der Anlage war angemessen, schließlich befand sich hier immerhin das Zentrum der Gildeninteraktion, der Politik und des Handels der gesamten Welt.
Einst, vor langer, langer Zeit, hatte die Welt aus einzelnen Ländern bestanden, und glühender Nationalstolz hatte dazu geführt, daß diese immerfort im Krieg miteinander lagen. Mit der Zeit jedoch waren die Gilden, deren Mitglieder auf der ganzen Welt verstreut lebten, immer mächtiger geworden. Mittlerweile waren Landesgrenzen quasi verschwunden. Arkanum mochte die Hauptstadt der Nation Sunderlund sein, aber solche geographischen Definitionen hatten dieser Tage so gut wie keine Bedeutung mehr.
Die Gilden wurden vom Parlament regiert, und das Hauptquartier des Parlamentes befand sich in Arkanum. Dadurch wurde die Stadt in einem sehr realen Sinn zur Hauptstadt der Welt.
Arkanum war eine große, geschäftige Stadt. Von dort aus, wo Leander sich gerade befand, erstreckten sich ihre Lichter und Zinnen, so weit das Auge reichte. Überall zischten Himmelskutschen durch die Luft, und direkt um den Parlamentskomplex herum war der Luftverkehr besonders dicht. Kaiphas brauchte mehrere Minuten – Minuten, in denen er alle Hände voll damit zu tun hatte, Zusammenstößen mit rücksichtslosen Navigationsmagiern aus dem Weg zu gehen –, bis er endlich in der Lage war, sein Fahrzeug sicher bis hin zum Eingang des Xerxis zu lenken.
Nachdem Leander aus der Kutsche gestiegen war, warf er zunächst einen Blick am Parlamentsgebäude empor, einem Turm, dessen Ecken aus steinernen Balken bestanden, die auf halbem Weg in die Höhe anfingen, sich zu biegen und spiralförmig um sich selbst zu drehen, so daß sich das Gebäude nach oben hin immer mehr zuspitzte, bis es dann hoch über dem Boden in einer Steinkuppel endete. An diesem Turm emporzuschauen half ihm stets, die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen. Der Xerxis war schon Tausende von Jahren vor seiner Geburt dagewesen und würde wahrscheinlich noch Tausende weiterer Jahre erleben. Für Leander stand der Turm für das Beste, was Magie zu leisten imstande war, für das Beste, was sich in den Herzen von Magi finden ließ. Denn die Legenden von der Weisheit und dem politischen Geschick des Xerxes waren allen Magiern Vorbild.
Leander empfand es stets als Ehre, dieses Gebäude überhaupt betreten zu dürfen. Selbst an diesem so anstrengenden Tag und trotz der Sorgen, die auf seinen Schultern lasteten, nahm er sich die Zeit, einen Moment lang der Würde und Schönheit des Hauses zu gedenken. Erst dann drehte er sich zu Kaiphas um, der oben auf dem Kutschbock seine Befehle erwartete.
„Ich weiß nicht, wie lange das hier dauern wird. Ruh’ dich aus. Besorge dir eine Erfrischung. Ich rufe dich, sobald ich bereit bin, nach Himmelshafen zurückzukehren.”
„Gewiß, Meister Maddox!” erwiderte der Navigationsmagus.
Dann glitt die Himmelskutsche hinaus in die Nacht.
Für Leander dagegen öffneten sich, sobald er sich näherte, die hohen Türen des Xerxis. Wächter musterten ihn aufmerksam, für den Fall, daß die Verteidigungszauber und Bannsprüche ihn als Eindringling identifizierten oder als jemanden, der sich nur als Leander Maddox ausgab, in Wirklichkeit jedoch ganz jemand anderes war. Nachdem er die äußeren Türen passiert und die inneren erreicht hatte, wies er sich dort noch einmal einer letzten Wächterin gegenüber aus, obwohl die Frau ihn kannte. Sie berührte erst ihre Stirn, dann die Brust mit zwei Fingern, ehe sie sich höflich verneigte.
„Großmeister Maddox. Freundliche Gedanken am heutigen Tage”, begrüßte sie den Besucher.
Lächelnd erwiderte Leander den Gruß der Frau mit denselben Gesten. Das war der traditionelle Gruß, der, so sagte man zumindest, bis auf die Tage des Xerxes selbst zurückging.
„An diesem und an allen anderen Tagen”, sagte er, denn das war die traditionelle Erwiderung.
Sobald die Wächterin beiseite getreten war und ihn hatte passieren lassen, eilte Leander einen langen Flur entlang. Auf seinem Weg in die große Kammer, in der das Parlament tagte, kam er an verschiedenen Gehilfen vorbei, und es entging ihm keineswegs, daß zwei Männer bei seinem Anblick die Köpfe zusammensteckten und aufgeregt miteinander flüsterten. Nachdenklich runzelte er die Stirn. Klatsch und Tratsch waren kein gutes Zeichen. Zu seiner Neugier, den Grund für seine plötzliche Berufung an diesen Ort betreffend, gesellte sich eine leichte Verunsicherung.
Vier Wächter, zwei an jeder Seite, standen an der reichverzierten Doppeltür der Versammlungshalle. Sie öffneten die Tür, als Leander näher kam, woraufhin sich der Flur mit dem Lärm Dutzender Stimmen füllte, die alle durcheinanderredeten. Das war das Summen der Unterhaltungen, die auf der Plattform der großen Kammer stattfanden.
„Professor Maddox!” begrüßte einer der Wächter den vorbeieilenden Großmeister.
Leander war schon in der Kammer, ehe ihm bewußt wurde, wie der Mann ihn genannt hatte. Professor, hatte der Wächter gesagt – nicht Großmeister.
Die runde Kammer, die Leander betreten hatte, war riesig. Zwanzig Sitzreihen waren im Kreis um die runde Plattform angeordnet, auf der jeder stehen mußte, der sprechen, der seine Worte an die Mitglieder des Parlaments richten wollte. Diese Versammlungshalle war das Herzstück des Xerxis, und ihre Wände reichten ganz bis hinauf in die Spitze des Turms. Im unteren Bereich der Mauern gab es keine Öffnungen. Überhaupt war nur ein einziges Fenster vorhanden, ganz oben in der Turmspitze, wo eine breite, rechteckige Fläche aus Zauberglas den Blick in den Himmel gestattete. Das Tageslicht, das hindurchfiel, erreichte jedoch nur zur Mittagszeit den Boden der Parlamentskammer, und so flackerten auf allen Wandvorsprüngen und auf den Pfosten, die die einzelnen Sitzreihen markierten, Fackeln aus Geisterfeuer.
Momentan stand eine einzige Frau auf dem Podium des Parlaments, Alethea Borgia, eine silberhaarige Dame fortgeschritteneren Alters, die sowohl Großmeisterin des Tantrus-Ordens als auch Stimme des Parlaments war. Als Stimme hatte sie die Aufgabe, sämtliche Parlamentssitzungen zu leiten, sicherzustellen, daß ein bestimmtes Prozedere eingehalten wurde und die Arbeit der verschiedenen Komitees zu überwachen, die ins Leben gerufen wurden. Genaugenommen handelte es sich bei Alethea um die wichtigste Magierin auf ganz Terra.
Bei Leanders Eintritt verstummte schlagartig jegliche Unterhaltung im Saal, und aller Augen richteten sich neugierig auf ihn.
Alethea war eine Freundin Argus Cades gewesen. Es hatte sogar Leute gegeben, die den beiden – die sich schon gekannt hatten, als einige heutige Mitglieder des Parlaments noch nicht einmal auf der Welt gewesen waren – mehr als bloße Freundschaft hatten andichten wollen. Wie dem auch sei – Aletheas Loyalität galt immer und in allen Fällen zuerst dem Parlament.
„Großmeister Maddox”, sagte die Stimme. „Ich danke Euch sehr, daß Ihr so rasch gekommen seid. Es gibt eine dringende Angelegenheit, die ...”
Alethea fuhr fort, aber obwohl Leander großen Respekt vor ihr hatte, sah er sich nicht in der Lage, ihr wirklich zuzuhören. Seine Augen waren, wie es wohl ganz normal ist, hin zu seinem eigenen Sitz im Parlament gewandert, der sich in der ersten Reihe des zweiten Ganges links vom Eingang befand. Da er, Leander, noch stand, hätte dieser Platz logischerweise leer sein müssen.
Das war er aber nicht.
Auf dem Platz, der seit über einem Jahrhundert einem Großmeister des Alhazred-Ordens nach dem anderen gehört hatte, saß ein wunderschönes Mädchen, das nur wenige Jahre älter als Timothy sein konnte. Sie hatte langes, tiefrotes Haar, das im Licht der Geisterfeuer schimmerte, was ihr eine fast überirdische Schönheit verlieh. Das Mädchen war in goldene Gewänder gehüllt, auf deren Vorderseite man einen schlafenden Drachen gestickt hatte, das Symbol des Alhazred-Ordens.
Jetzt endlich war auch Alethea Borgia aufgefallen, daß Leander ihr gar nicht mehr zuhörte. Sie räusperte sich. „Großmeister Maddox?”
Das Mädchen verschränkte daraufhin die Arme vor der Brust und warf der Stimme einen ungehaltenen Blick zu. „Ich wünschte wirklich, Ihr würdet ihn nicht so nennen!” verkündete die Schöne.
„Ihr werdet jetzt erst einmal schweigen!” wies Alethea das Mädchen zurecht. „Ich habe das Wort.”
Leanders verblüffter Blick wanderte zwischen der Rothaarigen und der Parlamentsstimme hin und her. „Was hat das alles zu bedeuten, Alethea?” fragte er, womit er gegen das Protokoll verstieß, weil er sich der vertrauten Anrede mit dem Vornamen bediente.
Das Mädchen beugte sich vor, um den beiden einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Dabei fiel ihr das rote Haar so ins Gesicht, daß Leander ihre Augen nicht sehen konnte.
„Professor Maddox”, erwiderte Alethea. „Ich muß Euch mitteilen, daß Eure Ernennung zum Großmeister des Alhazred-Ordens in Frage gestellt wurde. Durch die Enkelin des vormaligen Großmeisters, die das Recht der direkten Nachfolge für sich in Anspruch nimmt.”
„Enkelin?” wiederholte Leander verblüfft und sah sich außerstande, den Blick von dem rothaarigen Mädchen zu wenden, während die Stimme weitersprach.
„Ja, Enkelin. Leander Maddox? Darf ich Euch Cassandra Nikodemus vorstellen?”
***
In der untersten Ebene Himmelshafens besaß Timothy eine Werkstatt. Dort, direkt vor der Küste Arkanums, war es für ihn viel einfacher, sich die Materialien zu beschaffen, die er für seine Erfindungen benötigte, als auf der Insel Geduld. Aber dem Jungen war in der kurzen Zeit, die er gerade auf Geduld hatte verbringen dürfen, klargeworden, daß er die einsame Werkstatt dort nach wie vor den Räumlichkeiten in der schwebenden Festung vorzog. Vielleicht gelang es Leander ja wirklich, alle schlechten Elemente aus dem Alhazred-Orden zu entfernen, aber Timothy würde die schlimmen Erinnerungen an die Zeit, als Nikodemus auf Himmelshafen das Sagen gehabt und er selbst als Gast dort geweilt hatte, nie aus seinem Gedächtnis verbannen können.
Der Junge hoffte sehr, es werde irgendwann einmal die Zeit kommen, in der sich die Dinge soweit beruhigt hatten, daß er in das Haus seines Vaters – jetzt sein eigenes Haus – zurückkehren konnte. Aber noch – das wußte er genau – waren er und seine Freunde in Himmelshafen sicherer. Zumindest die Mehrzahl von ihnen – für Verlis gab es, wie es aussah, auf der Welt der Magi überhaupt keinen sicheren Ort.
„Ich sollte etwas unternehmen!” knurrte der Junge, während er aufgebracht in der Werkstatt hin und her ging. Auch Sheridan, Ivar und Edgar waren anwesend, und Timothy war froh, seine Freunde um sich versammelt zu wissen. Leander hatte veranlaßt, daß Kaiphas ins Haus von Timothys Vater ging, sich der dimensionalen Tür dort bediente und die drei aus Geduld hierherbrachte. Wenn der Junge so bald nicht auf die Insel zurückkehren konnte, wollte er auf jeden Fall seine Freunde bei sich haben.
„Krah! Was kannst du denn machen?” fragte Edgar, die Krähe, die auf einer der Werkbänke hockte, den Kopf schiefgelegt hielt und Timothy aus schwarzen Augen musterte. „Das Parlament hat seine Entscheidung getroffen. Dein Vater pflegte zu sagen, das Parlament sei eingerichtet worden, um auf der Welt einen Ort zu schaffen, an dem die Magi einander mit Worten, nicht mit Magie bekämpfen. Das ist zivilisiert.”
Timothy fuhr herum und starrte die Krähe wütend an. „Zivilisiert? Sie haben Verlis in ein Gefängnis unter Wasser gesperrt, weil er anders ist als sie. Ist das etwa zivilisiert?”
Der Vogel plusterte die Federn auf, enthielt sich jedoch einer Antwort.
Dafür trat nun Sheridan vor, wobei sich ein Dampfstrahl aus dem Ventil seitlich an seinem Kopf löste. Der mechanische Mann hatte an einem neuen Spielzeug für das Waffenarsenal gearbeitet, das sich in seinem Oberkörper befand: an einem Arm, den er ausfahren und mit dem er jemandem einen Rammstoß versetzen konnte. Mit blaßrot glühenden Augen sah der Mann aus Metall Timothy an.
„Nein. Es ist nicht zivilisiert. Aber es kam nicht gänzlich unerwartet. Dein Vater brachte immer Bücher nach Geduld. Darunter auch viele Geschichtsbücher. Wir beide haben diese Bücher doch auch gelesen. Die Magier haben schon immer Lebewesen dadurch definiert, wie sie sich untereinander unterschieden, und daraus haben sich oft Konflikte ergeben.”
Timothy seufzte. „Ich weiß. Aber richtig wird es dadurch noch lange nicht.” Erregt schritt er hinüber zum großen Werkstattfenster und sah hinaus auf das tosende Meer. Hell glitzerten Sonnenstrahlen auf den Wellen. Der Tag war wunderschön, aber die mißliche Lage, in der sich sein Freund befand, erlaubte es Timothy nicht, sich über diese Schönheit zu freuen.
Hinter sich hörte er Federn rascheln und Flügel schlagen. Dann hockte sich Edgar auf das Fensterbrett. „Natürlich ist es nicht richtig. Aber bis das Parlament das versteht ...”
Die Krähe sprach den Gedanken nicht zu Ende.
Timothy schüttelte wortlos den Kopf.
„Was ist, wenn sie es nie verstehen?”
Der Junge blickte auf. Genau das hatte er selbst auch gerade gedacht, aber nicht er hatte die Worte ausgesprochen. In einer schattigen Ecke der Werkstatt kauerte Ivar, der gerade damit beschäftigt war, aus einem Stück Holz ein sehr realistisches Bild Verlis’ zu schnitzen, an dem alles so war, wie es sein sollte, selbst die Flügel. Timothy hatte die Anwesenheit des Kriegers fast vergessen, denn Ivar hatte sich seiner Fähigkeit, die Hautfarbe zu wechseln, bedient, um ganz mit den Schatten in der Zimmerecke zu verschmelzen.
Die Miene des Kriegers war finster. „Verlis ist Gefangener, weil er ist, was er ist. Sheridan hat recht, was die Geschichte angeht. Magi empfinden keine Liebe für die Asura. Sie rotteten meinen Stamm aus, ehe sie versuchten, dasselbe auch mit den Wyrmern zu tun. Wenn sie Verlis in den Kerker werfen, wie fern ist dann noch der Tag, an dem sie kommen, um auch mich zu holen?”
Timothy starrte den Freund an. Die Trauer in Ivars Stimme schmerzte ihn zutiefst, und sein Gesicht brannte zornesrot, so ungerecht fand er die ganze Situation.
„Das reicht!” sagte er aufgebracht. „Es reicht wirklich! Ich werde Leander bitten, das Parlament zu fragen, ob – nein! Nein. Ich werde ihm sagen, daß ich als Verlis’ Freund das Recht einfordere, ihn zu verteidigen, daß ich eine Audienz verlange. Mein Vater hat das getan, und ich werde dasselbe tun. So oder so – sie werden ihn freilassen müssen, und sie werden zulassen müssen, daß ich ihn in seine eigene Welt zurückbringe!”