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Laizisten und Gläubige, ein falscher Gegensatz

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Rund um den Begriff der Laizität und seine Derivate tobt ein terminologischer Kampf, hinter dem sich ein ideologischer verbirgt. Das Verwenden eines Wortes, den man eine andere, leicht verschobene Bedeutung verleiht, als das Gegenüber ihm zuschreibt, ist ein rhetorischer Zug, der genauso verbreitet wie intellektuell unaufrichtig ist. Daher ist es so wichtig klarzustellen, in welcher Bedeutung das Wort Laizität hier verwendet wird.

Einer der geläufigsten Kniffe, um den Diskurs rund um diesen Begriff zu diskreditieren, besteht darin, die Laizität der Religion beziehungsweise der Religiosität gegenüberzustellen und »laizistisch« als Gegenteil von »gläubig« zu verwenden. So werden künstlich zwei Fronten geschaffen, die der Glaube voneinander trennt, und die Grundlagen für eine endlose Folge von Missverständnissen gelegt.

Stellen wir also klar: Der Widersacher des Laizisten ist nicht der Gläubige, sondern der Fundamentalist1, und die Trennlinie zwischen diesen beiden Fronten ist nicht der Glaube, sondern der Anspruch, dass das bürgerliche Zusammenleben gemäß den Prinzipien des (eigenen) Glaubens organisiert sein müsse und dass die Rechte des Einzelnen den Dogmen des (eigenen) Glaubens untergeordnet werden müssten. Anders gesagt, die Zäsur verläuft zwischen denen, die die (eigene) Religion über jedes andere normative System stellen und verlangen, dass sie erga omnes als absolutes Recht gelte (oder zumindest erga omnes innerhalb der eigenen »Gemeinschaft«2, was, wie noch zu zeigen sein wird, die Probleme nicht löst, sondern neue schafft), und denen, die hingegen innerhalb der Volksgemeinschaft religiöse Normen den Prinzipien der Verfassung und den Regeln unterordnen, die sich eine demokratische Gesellschaft gibt. Letzteres stellt keinen Widerspruch dazu dar, dass ein laizistischer Gläubiger sein Privatleben persönlich nach den Regeln seiner Religion ausgestaltet und dass diese Regeln in der Rangordnung seiner subjektiven Handlungsmaximen ganz oben stehen. Anders gefasst, für den Fundamentalisten ist, ob er gläubig ist oder nicht, die (eigene) Religion die Grundnorm3 der bürgerlichen Ordnung, während für den Laizisten, ob er gläubig ist oder nicht, die Grundnorm der bürgerlichen Ordnung einen konstitutionellen Pakt darstellt, der die Rechte und Freiheit aller sichert.

Der laizistische Entwurf, so Marcel Gauchet, »steht den weltlichen Ansprüchen der Kirche frontal feindlich gegenüber, nicht jedoch der Religion an sich. Das Einzige, was [er] von den Gläubigen verlangt, ist, dass sie sich ihre persönliche Hoffnung auf Erlösung für das Jenseits aufheben und sich darauf einlassen, im Diesseits das Gesellschaftsspiel der Autonomie mitzuspielen.«4 Gauchet bezieht sich hier auf die katholische Kirche, aber was er sagt, gilt natürlich für sämtliche Religionen.

Zu unserem Glück gibt es unter Gläubigen (aller Religionen) viele Laizisten, genauso wie es im Gegenzug zu unserem Leidwesen in der Welt der Nichtgläubigen von Fundamentalisten nur so wimmelt, also von Personen, die zwar nicht gläubig sind, aber nichtsdestoweniger die Meinung vertreten, dass das gesellschaftliche Miteinander und das öffentliche Leben in Übereinstimmung mit dem Moral- und Normensystem einer bestimmten kulturellen und religiösen Weltsicht organisiert sein müsse. Zu dieser letzten Kategorie gehören beispielsweise all jene, die während der Debatten über die europäische Verfassung, unabhängig vom eigenen Glauben, die Meinung vertraten, die »christlichen Wurzeln« müssten in die Grundrechtecharta der Europäischen Union aufgenommen werden. Grundwerte, die in eine Verfassung aufgenommen werden, verfügen über eine gewaltige normative Reichweite. Die christliche Kultur ist mit Sicherheit eine der vielen Wurzeln Europas, aber aus der gesamten Fülle ausgerechnet diesen einen Beitrag auszuwählen, hätte normativen Wert, nicht bloß deskriptiven. Es käme einer Proklamation gleich, dass Europa sich auf christliche Grundwerte berufen müsse.

Die Laizität ist also keinesfalls der Feind des Glaubens. Im Gegenteil, in einer komplexen Gesellschaft ist die Laizität der wertvollste Verbündete des Glaubens, besser der Glaubensrichtungen. Auch die Gläubigen, alle, nicht bloß die Anhänger der großen Konfessionen, profitieren von einem sozialen Kontext, in dem die Religion Privatsache ist und der Staat allen, nicht bloß den verbreitetsten, mächtigsten, am besten organisierten und reichsten Glaubensrichtungen, die Freiheit zusichert, den eigenen Glauben zu zelebrieren oder auch gar keinem Glauben anzuhängen, und zwar indem der Staat, allgemeiner gesprochen, jedem, ganz gleich ob gläubig, andersgläubig oder nicht gläubig, Grundrechte gewährleistet – eine Aufgabe, die, wie noch zu zeigen sein wird, den Einflussbereich des Staates nicht einschränkt, sondern eher erweitert.

Die Religion in die Privatsphäre eines und einer jeden zu verlagern bedeutet keinesfalls, dass die kollektive Dimension des Glaubens unmöglich gemacht wird. Vielmehr gehen damit zwei Dinge einher: Erstens dürfen weder eine bestimmte Religion noch Religionen im Allgemeinen den öffentlichen Raum strukturieren, also den Raum, in dem allgemeine und gemeinsame Regeln gelten, was andernfalls einer Diskriminierung von Andersgläubigen und Nichtgläubigen gleichkäme. Zweitens darf keiner Religion – wie auch keiner politischen, philosophischen und spirituellen Haltung – zugebilligt werden, die Grundrechte der einzelnen Mitglieder der politischen Gemeinschaft zu verletzen; gemeint sind damit die einzelnen Bürger, ungeachtet ihres Glaubens, einschließlich der Mitglieder der eigenen »Gemeinschaft«.

Die Aufgabe des laizistischen Staates besteht darin, einerseits den öffentlichen Raum und andererseits die Rechte der und des Einzelnen zu schützen. Diese Auslegung der Laizität erfordert es, dass eine Reihe politischer Maßnahmen ergriffen werden, angefangen bei der Schul- und Kulturpolitik, um diese beiden Ziele zu erreichen. Es geht also für den Staat nicht darum, eine bloß gleichgültige Haltung gegenüber den diversen Konfessionen einzunehmen, genauso wenig darum, eine vermittelnde Schiedsrichterrolle zwischen ihnen zu spielen, sondern vielmehr darum, all jene Voraussetzungen zu garantieren – und es sind nicht wenige –, die es jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger ermöglichen, das eigene Leben und den eigenen Wertehorizont autonom zu gestalten.

Laizität wird hier folglich als eine transzendentale Voraussetzung der Demokratie verstanden, nicht als der eine Pol einer Symmetrie, sondern als vorpolitische Notwendigkeit für das zivile Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft, in der ein Weber’scher »Polytheismus der Werte« herrscht, ein Hilfsmittel, das »einen konstitutionellen Raum [kennzeichnet], der allen Zusammenleben und Austausch ermöglicht«.5

Unbestreitbar muss der oder die Gläubige, wenn er oder sie das Prinzip der Laizität akzeptiert, in einem gewissen Maß die Relativität des eigenen Glaubens anerkennen und auf fast schon kantianische Weise zugestehen, dass der Glaube ein »nur subjektiv zureichend[es …] Fürwahrhalten«6 darstellt, aber, im Gegensatz zum Wissen, nicht für alle unwiderlegbar ist. Dieses Zugeständnis ist vollkommen kompatibel mit einem starken Glauben: »Der Ausdruck des Glaubens ist […] ein Ausdruck der Bescheidenheit in objectiver Absicht, aber doch zugleich der Festigkeit des Zutrauens in subjectiver.«7 Einen laizistischen Standpunkt einzunehmen bedeutet für eine Gläubige oder einen Gläubigen demnach nicht, den eigenen Glauben in Zweifel ziehen zu müssen, sondern vielmehr das Akzeptieren der Vorstellung, dass er, da er kein objektiv gültiges Fürwahrhalten ist, nicht der Maßstab für das öffentliche Leben sein kann.

Die Fallen des Multikulturalismus

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