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Laizität als Selbstbestimmung

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Betrachtet man Laizität in diesem Sinne, ist sie eine mentale Haltung, die jedwedes Autoritätsprinzip ablehnt, nicht bloß das des Religiösen. Laizistisch sein heißt, keine Form von Tradition ins Feld zu führen – ob religiös oder nicht ist für Laizisten vollkommen irrelevant –, um damit die Einschränkung, wenn nicht sogar die Verletzung der Autonomie und Freiheit irgendeines Menschen zu rechtfertigen. Für Laizisten steht jede einzelne Person im Mittelpunkt, jede eine individuelle Trägerin der Menschlichkeit, die »niemals bloß als Mittel« verwendet werden kann, sondern »jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst«,34 unter Wahrung ihrer vollen Autonomie.

Laizität ist demnach die Fortsetzung der Aufklärung, wie sie Immanuel Kant in seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« vorausgesagt hat: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«35

Laizisten, ob gläubig oder nicht, erkennen das Autoritätsprinzip im Leben auf dieser Erde nicht an, sondern streben auf den Spuren Kants beständig danach, aus der Unmündigkeit auszutreten, in der sie sich wiederfinden, und auf eigenen Beinen zu stehen. Dieses große aufklärerische Streben hat viele Fortschritte gemacht, seit der Vater der kritischen Philosophie es formulierte, und stand auch 1944 noch im Mittelpunkt der großen Hoffnungen, die die Autoren des Manifests von Ventotene zum Ausdruck brachten, als sie darin schrieben: »Gegen den autoritären Dogmatismus hat sich der Wert des kritischen Verstandes als fortwährend erkannt. Jede Behauptung musste vernunftgemäß erscheinen oder aber verschwinden. Der Methodik dieser unbefangenen Geisteshaltung verdankt unsere Gesellschaft die wichtigsten Errungenschaften auf jedem Gebiet.«36 Die Ablehnung des Autoritätsprinzips, sei es religiöser oder anderer Natur, ist eine der Voraussetzungen für Gleichheit. Es ist vollkommen irrelevant, was die Grundlage oder die Rechtfertigung einer Meinung, einer Tradition oder eines Brauchs sein mag; was für Laizisten zählt, ist die Kompatibilität mit der Demokratie, mit der Freiheit jedes einzelnen Menschen, mit den Menschenrechten. Keine Meinung, nicht einmal eine religiöse Überzeugung, darf sich diesem kritischen Prüfstein entziehen.

In diesem Sinne hat der Staat eine enorme Verantwortung, und eine bloß indifferente Haltung gegenüber den verschiedenen Religionen ist nicht ausreichend. Der Philosoph Charles-Bernard Renouvier schrieb im 19. Jahrhundert: »Die Überlegenheit des Staates ist notwendig, seine Verantwortung, gemessen an der der Kirche oder einer Gemeinschaft, ist universaler Natur. […] Obwohl es ihm nicht zusteht, diese Doktrinen unter dem Gesichtspunkte der religiösen oder wissenschaftlichen Wahrheit zu beurteilen, beurteilt er sie unter dem Gesichtspunkt der Moral.«37 Und der Achtung der freiheitlichen Grundrechte, möchte man hinzufügen.

Dieser Entwurf von Laizität hat folglich einen recht hohen ethischen, normativen Gehalt. Er ist zwar auf das Wesentliche beschränkt, dafür jedoch entscheidend, und er zieht den Rahmen, innerhalb dessen die Subjekte der Zivilgesellschaft sich frei bewegen können – und die Religionen mit ihnen. Dass man dabei die Empfindlichkeiten des einen oder der anderen stört und dass die eine oder andere Praktik dieser oder jener Religion sich nicht in diesen Rahmen einfügen lässt, ist nachvollziehbar. Das ist jedoch kein ausreichender Grund, um von der Laizität abzulassen. Der Rahmen muss mit fester Hand gezogen werden; es ist Aufgabe der jeweiligen Subjekte, sich ihm anzupassen, nicht andersherum.

Der laizistische Staat nimmt also die Rolle des Garanten für die Autonomie der einzelnen Bürger ein. Achtung, nicht die des Schiedsrichters zwischen den Glaubensrichtungen, zwischen den »Gemeinschaften«! Das Subjekt der Rechte – das wird im fünften Kapitel näher zu beleuchten sein – ist jedes einzelne Individuum, das sich in der Ausübung seiner Rechte unmittelbar zum Staat in Beziehung setzt, ohne Mittelspersonen. Wie gesagt ist das nicht gleichbedeutend mit dem Ende der kollektiven Dimension der Religion. Es bedeutet einzig und allein, dass diese kollektive Dimension gänzlich in die private Ausübung des Glaubens seitens seiner Anhänger fällt und keine öffentliche Relevanz hat. Die Religion als solche fordert, anders gesagt, weder Anerkennung noch Rechte ein und genauso wenig die Strukturierung des öffentlichen Raums.

Dem laizistischen Staat kommt daher die Aufgabe zu, seine individuellen Bürgerinnen und Bürger mit dem kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Handwerkszeug auszustatten, um aus ihrer Unmündigkeit auszutreten. Das wiederum ist nur im Kontext strikter Laizität möglich, angefangen beim Schulsystem. Einzig dieser Rahmen ermöglicht es nämlich den Individuen, wenn sie es möchten, sich von ihrer Tradition zu emanzipieren, von ihrer Gemeinschaft, die kleinste Form eingeschlossen, die Familie.

Aus allen genannten Gründen, aufgrund all dieser substanziellen und normativen Gehalte des Konzepts ist die Laizität nicht einfach die Trennung von Kirche und Staat, sie ist genauso wenig die Sakralisierung des Staates. Aus der Geschichte sind Fälle bekannt, in denen eine strikte Trennung von Kirche und Staat herrschte, die man aber nicht im Geringsten als laizistisch bezeichnen kann, zumindest nicht nach dem Verständnis, das hier skizziert wird. Demnach ist Laizität nämlich ein anderes Wort für Gleichheit und insofern nicht mit einem autoritären Staat vereinbar. Laizität ist ein in höchstem Maße demokratisches Prinzip. Es handelt sich – um noch einmal Kant zu bemühen – um eine Möglichkeitsbedingung einer politischen Gemeinschaft, die auf den Prinzipien von Gleichheit und Freiheit gründet, also auf der Allgemeingültigkeit des Gesetzes.38

Dieses Merkmal unterscheidet sie von der bloßen Toleranz, die gerade nicht von einer vorherrschenden Gleichheit zwischen den Bürgern ausgeht, und es unterstreicht, dass die bisher gewagten Laizitätsentwürfe, einschließlich des französischen, nicht weit genug gehen, um die genannten Anforderungen zu erfüllen. Wie gezeigt hat sich die Laizität bisher eigentlich nur als bloße Trennung von politischer und religiöser Macht manifestiert, beherrscht vom Prinzip des »Dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott geben, was Gottes ist«. Das Problem wurde als eine reine Frage der Macht betrachtet. Um das zu lösen, reichte eine Trennung der Einflussbereiche. In diesem Buch wird die Frage jedoch unter ethisch-politischen Gesichtspunkten aufgeworfen: Dem »Kaiser« genügt es nicht mehr, dass »Gott« in seinem eigenen Einflussbereich bleibt. Der »Kaiser« muss auch dafür sorgen, dass »Gott« nicht gegen die Grundgesetze des demokratischen Staates verstößt.

Unmetaphorisch gesprochen: Es genügt nicht mehr, dass Staat und Kirche getrennt sind, sondern es ist der Moment gekommen, da der laizistische Staat die Verantwortung übernimmt und genau hinterfragt, was im Inneren religiöser Gemeinschaften passiert, um die Rechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.

Die Fallen des Multikulturalismus

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