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Meine Mutter

Ums Jahr 1835 mag es wohl gewesen sein, der Weg der vom Dorf Schwersenz nach der Stadt Posen führte, war schlecht. Sollte die Tochter Klara des Pfarrers Langner zu Schwersenz bei Posen eine etwas höhere Bildung erhalten, so mußte sie in der Stadt die Schule besuchen. Aber die Pfarre war arm, keine fette Pfründe, die es dem Vater ermöglichte, sein Töchterchen in eine Pension zu tun, man mußte die Zehnjährige der Obhut einer Milch- und Gemüsefrau anvertrauen. Unter ihren Kannen und Körben nahm sie die kleine Klara Glock fünf am Morgen nach Posen mit. Wenn aber der Nachmittag sich neigte, die Nepomucena die Produkte des Dorfes losgeschlagen hatte, wurde wieder auf den rumpelnden Karren geklettert, heim ging’s auf mühseligem Weg zwischen schaukelnden Körben und rasselnden Kannen.


Heiß war der Nachmittag. Kein Schatten, müde stehen die Ähren am Wegrand. Das Pferdchen trottet im Schlaf, die Nepomucena vorn auf dem Kutschsitz schnarcht im Schlaf, das Mädchen hinten zwischen den Körben ist auch im Schlaf, da – plötzlich liegt es unten. Der Gaul hat gescheut, einen Satz gemacht. Die Kleine hat sich wohl nicht sehr weh getan beim Sturz, aber wenn sie sich auch weh getan hätte, schon ist sie auf den Füßen, schüttelt die Erde vom Röckchen, rennt hinterm Karren drein, gibt den heißen Lauf nicht eher auf, als bis sie den Wagen wieder erreicht hat, hinten anpackt und sich mutig wieder hinaufschwingt.

Diese kleine tapfere Klara mit den langen blonden Schulmädchenzöpfen wurde meine Mutter. Und tapfer ist sie geblieben ihr ganzes Leben hindurch. Es war ein langes Leben – zweiundachtzig Jahre – »und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.« Und viel Leid war auch bei all der Mühe und Arbeit ihres Lebens, aber verzagt habe ich sie nie gesehen. Eine tapfere Gattin, die den Gatten, der beim traurigen Anblick seines zweiten, durch eine unglückselige Kinderkrankheit gelähmten und blöde gewordenen Sohnes zusammenbrach, immer wieder aufrichtete – eine tapfere Mutter, die ihren Erstgeborenen, ihren doppelt heiß geliebten ältesten Sohn ohne Träne im Jahre 1870 ins Feld schickte. Eine dunkle Erinnerung zeigt sie mir, wie sie beim Grauen des Morgens eine weiße Rose in unserem Gärtchen bricht und sie im Grauen des Abschieds meinem Bruder an den Helm steckt.


Nie hätte ich das Buch »Die Wacht am Rhein« geschrieben, dieses Stück Geschichte aus den Siebzigerjahren und ein Gedenkblatt der Stadt Düsseldorf, wären die Erzählungen meiner Mutter nicht. Ja, die konnte erzählen! Es sind die schönsten Erinnerungen meiner Kindheit, wenn ich an einem Schnupfenfieber oder an Masern oder wegen irgend eines anderen Übelbefindens im Bette liegen mußte – die Mutter erzählte ja.

»Mutter, erzähl’ doch, wie ihr euer Schweinchen geschlachtet habt und wie Wurst gemacht wurde« – »Mutter, erzähl’ mal, als der Napoleon durch euer Dorf gekommen ist auf der Flucht aus Rußland und der Vater von deinem Vater ihn an der Ecke im Schlitten halten sah, ganz bleich und vermummt« – »Mutter, weißt du das noch, wie die Polen wollten, daß die Stadt Posen ihnen gehörte und wie unser Papa oben an der Treppe stand, das Gewehr zur Verteidigung in Anschlag? Erzähl’s nochmal, aber mach’s recht lang, bitte, bitte!

Vielleicht hätte ich auch nie »Das schlafende Heer« geschrieben, ohne daß meine Mutter Bilder in mir erstehen ließ, Interessen in mir erweckte, die noch nach so vielen Jahren der Untergrund meines literarischen Schaffens wurden.


IIm Jahr 1848 kam mein Vater ins Frankfurter Parlament, meine Mutter ging mit ihm; eine weite, beschwerliche Reise, zum größten Teil in der Postkutsche, anstrengend für eine so junge Frau mit einem noch nicht einjährigen Knaben auf dem Schoß. Frankfurt am Main – Parlament – Paulskirche – Uhland, Gebrüder Grimm, Marx, Turnvater Jahn, Johann Jacobi, Robert Blum, Gagern, Eduard Simson – viele, viele berühmte Leute. Sie alle hat meine Mutter gekannt; vor ihrem unbetrüglichen Bild schwand freilich manches von jener Glorie, mit der eine leicht betrogenen Welt sie jetzt noch umgibt. Am interessiertesten hörte ich zu, wenn sie vom schönen Fürsten Lichnowski erzählte, jenem eleganten Kavalier und Damenliebling, den Frankfurter Pöbel bei seinem Spazierritt am Morgen vom Pferde riß und den hochmütigen Aristokraten dann weit draußen auf der Heide mit Steinen und Knütteln wie einen Hund zu Tode schlug.

Nach der Auflösung des Parlaments kamen meine Eltern nach Hohenzollern-Sigmaringen; die fünf Jahre dort waren die glücklichsten im Leben meiner Mutter. Kleinstadt und doch ein Fürstenhof, wunderbar schöne Umgebung, Berge, Wälder, die Donau, Schweizer Alpen so nah, und maskierte Schlittenpartien mit Glöckchengeklingel und wehenden Federbüschen in tiefen Wintern, fröhliche Picknicks auf tannenumdufteten sommergrünen Matten, Erdbeeren, Himbeeren, Forellen in Massen, so viele der Herrlichkeiten, daß meine Ohren nicht genug davon hören und meine Augen nicht genug staunen konnten.

Aus jenen Sigmaringer Tagen stammt das Porträt meiner Mutter. Ein seinerzeit berühmter Maler hat es gemalt; 1856 steht in der Ecke des Bildes. Heutzutage wird nicht mehr so gemalt, nicht mehr so die rosige Wange in die zarte Hand geschmiegt, nicht mehr so langbewimpert blickend die Augen, nicht mehr so der schönste Augenblick einer schönen Frau wiedergegeben. Und doch atmet jeder, der in mein Zimmer tritt, tief auf: »O, wie schön!« und bleibt lange stehen vor dem Bild und sieht auf zu diesem unendlich lieblichen, jugendverklärten, lächelnden Gesicht.

So schön habe ich meine Mutter nicht mehr gekannt, ich wurde erst geboren, als mein Vater als Oberregierungsrat im Jahre 1860 nach Trier an die Mosel versetzt worden war. Aber schön war meine Mutter immer noch – nicht nur in meinen Augen –, ein Gesicht so fein, so voll fraulicher Anmut, wie es die jetzige Zeit nicht mehr bildet. Von Trier an der Mosel nach Düsseldorf an den Rhein – Krieg, Krankheit, Tod, viele Sorgen, großes Leid, aber dieses Gesicht behielt seine weichen Linien, es wurde nicht hart. Und auch die Seele der Frau wurde nicht hart, sie erhärtete sich nur im tapferen Kampf mit dem Dasein als Witwe.

Das Schicksal hat meine Mutter gegen die Neige ihres Lebens wieder in die Nähe ihres Ausgangspunktes zurückgeführt. Es wurde ihr schwer, den Westen Deutschlands zu verlassen, wo das Grab des Vaters liegt und lange, schöne Erinnerungen noch lebendig blühten, aber sie opferte eigenen Wunsch dem Wunsch der Tochter; wir zogen wieder gen Osten – nach Berlin. Und so kam sie wieder jener Landstraße näher, über die sie einst im Karren gestolpert war. Die war nicht ganz mehr so, wie die Mutter sie meinen Kindheitstagen gezeigt hatte – sondern besser ausgebaut worden. Aber doch noch lange, lange nicht gut genug.

Gott sei Dank, daß meine Mutter es nicht mehr erlebt hat, daß jene Stadt, für deren Deutschtum mein sonst so friedliebender Vater den Gewehrlauf an die Backe legte und Posten auf der Treppe stand, polnisch wurde! Daß die Stätte, mit der sie erste Liebe verknüpfte, an der ihr Vater gut deutsch gepredigt hatte, daß jene unendlichen Weizenbreiten – volle Kornkammern Preußens – den Polen anheimfielen. Und dem Himmel sei Dank, daß sie schlafen ging vor dem größten aller Kriege.

Nun bin ich oft, sehr oft an ihrem Grab auf dem Kirchhof zu Zehlendorf, fern brandet Berlin, sie liegt und schläft ganz im Frieden. Aber ihre Stimme spricht noch immer zu mir; meine Mutter erzählt mir noch immer gar manches, und ich merke auf.

Als ich neulich, unfern ihrer Stätte auf einem Bänkchen still dasaß, kam ein Herr gegangen, er führte zwei Kinder mit sich und er blieb stehen vor dem Marmorgedenkstein, auf dem, was Liebe hingeschrieben, Regen und Schnee schon ein wenig verwaschen hat, auf dem nur die großen goldenen Buchstaben des Namens – Klara Viebig – noch hell leuchten, und er sagte zu dem Ältesten der Knaben: »Ah, sieh mal, da liegt die Schriftstellerin Klara Viebig!«

Nein, die Schriftstellerin Klara Viebig liegt hier nicht, es ist ihre Mutter, die Erzählerin Klara Viebig, das hätte ich ihm sagen können. Aber ich schwieg und ließ ihn vorüber. Ich war doch ein wenig bestürzt. Dann aber trat ich dichter an den Hügel heran und legte meine Hand auf dessen Efeu, und zu der Stimme, die plötzlich zu mir herauf – oder war es aus mir heraus? – etwas sprach, sprach ich wie zur Antwort: »Laß mich dereinst meinem Sohn so gegenwärtig sein, wie du mir noch immer gegenwärtig bist und stets gegenwärtig bleiben wirst – o, meine Mutter!«

Textquelle:

Linzer Tages-Post, 17. Juli 1930, S. 3–4

Die Osterglocken

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