Читать книгу Die Osterglocken - Clara Viebig - Страница 9
ОглавлениеAuf der Bleiche
Eine Skizze
Als ich auf meiner Bleiche
Ein Stückchen Garn begoß –
(Altes Volkslied)
Doktor Erich Mühler war ernstlich verstimmt. Er hätte nicht geglaubt, daß seine kleine Frau so eigensinnig sein könnte. Ungeachtet seines Gegenredens beharrte sie darauf, morgen, trotz ihrer heftigen Erkältung, hinaus auf die Bleiche zu gehen und die Wäscherinnen selbst zu kontrollieren.
Er wies zum Himmel hinaus: »Es wird gießen, stürmen, Anna – siehst Du nicht die drohenden Wolken – und Du auf der feuchten Wiese?!«
»Ach, ich ziehe feste Schuh an.«
»Die nützen nichts! Du kennst doch Deine Empfindlichkeit; ich ängstige mich, Du bekommst Fieber.«
»Nein, meine ganze schöne neue Tisch- und Bettwäsche ist draußen, die muß tüchtig gebleicht in den Winter hinein gehen. Alle ordentlichen Hausfrauen bleichen im Herbst noch mal – was denkst Du eigentlich von mir?«
»Ich denke, es ist besser, Du gehst unverschnupft in den Winter, als die Wäsche gebleicht – ich bitte Dich, Herz, bleib’ zu Haus! Hast Du mich denn gar nicht lieb?«
»Und die Sonne scheint immer, wenn gebleicht wird. Und ich gehe doch!«, sagte sie mit der bekannten merkwürdigen Frauenlogik.
Wie gesagt, Doktor Mühler war verstimmt, ordentlich traurig und schlenderte in tiefen Gedanken durch die Gassen der alten Stadt. Der Wind, der von den Bergen jenseits der Mosel um die Ecke blies und welke Blätter vor sich hertrieb, der frühe Abendschein, melancholisch auf die grauen Dächer sinkend, das dumpfe Brummen der Domglocke, das unausgesetzte Beiern von den anderen Türmen und Türmchen machten ihn nervös. Was sollte das werden? Schon um solche Kleinigkeiten ehelicher Zwist?! Zornig polternd war er weggestürzt und hatte sie in Tränen aufgelöst zurückgelassen. Und noch kein Jahr verheiratet! Wie sollte das werden, wenn der Jugendreiz verblaßt und die Leidenschaft verschwunden war – was blieb da übrig? Befürchtungen, Zweifel, Angst stürmten auf ihn ein. Alles paßte zu seiner angebitterten Stimmung.
Dieser verwünschte Hausfrauentick, der sich nirgendwo breiter macht als in der kleinen Stadt! Weil Frau Nachbarin Linzen bleicht und Frau Nachbarin Schulze muß auch Frau Schmitz bleichen u.s.w. Und da die Bleiche der Reihe nach vermietet wird, geht schon wochenlang vorher das Buch herum und man schreibt sich ein. Früh Morgens, gleichviel ob’s passt oder nicht, ob Regen oder Sonnenschein, früh Morgens um 5 Uhr rumpelt der Karren vor; die Waschweiber, diese Eumeniden, die sich an die Fersen des unglücklichen Hausherren heften, laden die Körbe auf. Hinaus geht’s zur Olewig, dem grünen Wiesentälchen zwischen Weinbergen, das ein Bach durchströmt. Und am Nachmittag treten die Hausfrauen an, bringen den Waschweibern Kaffee und Gebäck – wehe der »Madam«, die keinen Kuchen spendiert! – in der wackligen Bretterbude mitten auf der Bleiche entwickelt sich ein Gelage, Kaffeetöpfe rauchen, aufgeweichte Fäuste strecken sich begehrlich danach aus; man hört das Geschwätz den ganzen Bach entlang. Währenddessen spaziert die Hausfrau über die Wiese, hochgeschürzt und stolz, hantiert, ungeschickt mit der schweren Gießkanne und gießt die Füße nasser als die Wäsche. So ist es seit hundert Jahren im guten alten Trier gewesen, so wird’s nach hundert Jahren auch noch sein; man ist eben konservativ in der Moselkapitale.
Potz Donner, da fiel ihm ein Tropfen auf die Nase, dick wie eine Erbse – noch einer! Der Wind schnob ihn kühl an und schlug ihm den Mantelkragen flatternd auf. Natürlich, ein Herbstschauer im Anzug! Der junge Rechtsanwalt beschleunigte seine Schritte, noch eine Gasse rechts, eine Gasse links; nun stand er vor dem Gitterpförtchen, und hinter den von buntem Weinlaub umrankten Scheiben tauchte ein weißbehaubter Alt-Frauenkopf auf und nickte zu ihm herunter.
Das war seine Freundin; zu der wollte er. Sie saß in der altmodischen Stube auf dem Tritt am Fenster.
»Ich halte Dunkelstunde«, klang ihm ihre weiche Stimme entgegen, als er ins Zimmer trat, »seien Sie herzlich willkommen! – Nun, was bringen Sie Gutes, Sie Junger? Ei, Falten auf der Stirn?!«
Ihre kühle Hand strich ihm die verwehten Haare zurück; ein Duft ging von ihr aus, ein welker, linder Duft aus ihren Kleidern wie aus der ganzen altmodischen Stube. Er kannte diesen Duft schon, als er noch ein Knabe war – richtig, dort auf der Servante standen die beiden großen blaublumigen Potpourrivasen; jeden Herbst füllten sie sich mit Lavendel und Rosenblättern.
»Was haben Sie, lieber Freund? Stimmt nicht alles zu Hause – was macht Anna?«
Wie eine Erlösung berührte ihn diese Frage. Nun konnte er ja seinem schweren Herzen Luft machen! Und den Stuhl dicht neben den ihrigen auf den Tritt zwängend, sprudelte er hastig alles hervor, was ihn bedrückte und schloss endlich mit einem Seufzer und der Frage: »Gibt das nicht Anlaß zu ernsthaften Befürchtungen? Ist das nicht sehr traurig?«
Da lächelte sie, so fein ironisch, so liebenswürdig, daß ihr eingesunkener Mund wieder hübsch wurde, wie in vergangenen Tagen.
»Lieber Freund, Sie nehmen es ein wenig heiß, so heiß, wie man’s eben in der Jugend nimmt! Sitzen Sie nur erst so still wie ich, und sehen Sie Ihre Rosenblätter welk werden, wie die da in der Vase, dann lächeln Sie über all’ so etwas. Es ist mir gerade so gegangen, wie Ihrer Anna – sich was in den Kopf setzen, dann mit dem Kopf durch die Wand, auf keinen Vernunftgrund hören – ja, ja, so machen wir’s, dafür sind wir eben Frauen! Gefährlich wird es ja nicht gleich mit Ihrer Anna werden, ein Schnupfen, der ihr die Nase rot macht und die Augen trüb – halt, halt, sitzen Sie nur still, junger Freund, ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die können Sie Ihrer Frau wieder zum Besten geben. Die ist selbst erlebt!«
Ein Schatten ging über das liebe Altfrauengesicht, das feine Rot der Wangen verschwand, und die Stimme erhielt einen warnenden ernsten Klang, als sie fortfuhr: »Ich habe meinen Mann sehr lieb gehabt; immer gleich lieb ohne Wanken; und jetzt, wo er nur noch im Geiste mit mir lebt, ebenso lieb wie in der ersten Stunde. Und er hat mich auch geliebt. Aber verschiedener Meinung sind wir darum doch gewesen, mitunter sogar sehr; ich hatte einen furchtbar harten Kopf – »krause Haare, krauser Sinn«, sagte meine Mutter selig. Damals bleichten sie schon in der Olewig, gerade wie jetzt; und der Bach kam wie heut’, von den Matheiser-Weihern her und floß eingedämmt zwischen den Weinbergen zu Tal. Da spreizte sich die Wäsche, weiß wie Schnee, rechts und links auf den grünen Wiesen, und das Herz lachte den Hausfrauen bei dem Anblick im Leib. Es war etwas früher im Jahr wie jetzt, ein sehr trockener, sehr heißer Herbst, die Trauben fanden kaum Schutz unter welken Blättern mehr, das Laub fiel von den Bäumen. Ich erwartete mein erstes Kind, unseren armen Heinrich.«
Sie machte eine kleine Pause und strich sich mit der Hand die welken Backen entlang. Und dann mit einem Seufzer: »Da zankte ich mich mit meinem Mann. Ich wollte in die Olewig zum Bleichen, und er wollte mich nicht lassen; er zeigte mir am Himmel das drohende Schwarz, er sprach von meinem Zustand, in dem ich mich nicht jedem Wetter, jeder Anstrengung aussetzen dürfe; er ermahnte mich liebevoll, er bat mich, zuletzt verbot er mirs streng. Er kannte mich schlecht – nun gerade! Ich trotzte mit ihm, und als er am frühen Nachmittag seinem Beruf nachging, rüstete ich mich eilig zum Gang nach der Olewig; Droschken gabs damals in unserer lieben Stadt noch nicht. Dem Mädchen sagte ich: Wenn der Herr nach Haus kommt, ich bin in der Olewig.
So machte ich mich auf, aber wohl war mir nicht zu Mut. Schon der Weg ward mir blutsauer; die Straße staubig, wie versengt, kein Luftzug, die Bäume boten keinen Schatten mehr und die Sonne stach und stach und brannte unbarmherzig auf mich nieder, dass mir die geschnürte Taille anklebte und der Krinolin mich niederzog. Mühsam keuchte ich vorwärts; wäre der krause Sinn nicht gewesen, weiß Gott, ich hätte kehrtgemacht.
So kam ich endlich erschöpft an; die Weiber empfingen mich erstaunt und machten mich dann auf den Himmel aufmerksam, der sich ganz schwarz über die Bleiche spannte, hinter den Hügeln hatten die Wolken feurige Ränder. Die alte Margret schlug ein Kreuz und faßte dann hastig nach ihrer Mütze, die ihr ein plötzlicher Windstoß vom Kopfe zu reißen drohte.
»Ech kurantören net, dat et en bös Wäder gitt – Maria, Moddergotts, bewohr uns! Hu Jessas Madam!«
Sie kreischte laut auf und packte mich um die Taille, ich taumelte zurück, fast wäre ich gestürzt – ein furchtbarer Donner dröhnte mir in die Ohren, meine Augen wurden geblendet von einem grell niederfahrenden Blitz. Und nun alles totenstill. Bleischwere trübe Beleuchtung.
Wir standen wie gelähmt vor Schreck, aber nur Augenblicke, dann gaben wir Fersengeld und rannten zum Schuppen, so rasch wie wir konnten. Dicke Tropfen fielen, nein, prasselten nieder mit einer Wucht ohne Gleichen. Weißen Segeln ähnlich blähte sich die Wäsche und fegte vor uns her; ein heulender Windstoß folgte dem anderen, in der Ferne dumpfes Dröhnen, ein unheimlicher Aufruhr in den Lüften. Uns graute. Donnern, blitzen, regnen, hageln, stürmen, kreischen, alles tobte durcheinander.
Durchnäßt kamen wir im Schuppen an; drinnen war’s stockdunkel, die Weiber trauten sich weder eine Laterne noch Feuer im steinernen Feldherd anzuzünden, sie tranken ihren Kaffee kalt und tunkten ihren Kuchen ein, aber ohne das sonst übliche Gelächter. Sie fürchteten sich; bei jedem Blitz, der uns fahl beleuchtete, kreischten sie auf und bekreuzigten sich.
Ich kauerte auf einer Bank und duckte mich ganz zusammen; das ernste Gesicht meines Mannes tauchte immer wieder vor mir auf, ich hörte seine Stimme: »Denke d’ran, denke d’ran, Du darfst Dich nicht allem aussetzen« – mir war sehr schlecht, sehr erbärmlich. Eine unbestimmte Angst kroch mir über’s Herz und ließ mich erschauern.
Das Donnern und Blitzen ließ endlich nach, nicht aber das Prasseln des Regens, das Rütteln an den morschen Bretterwänden. Ein Rieseln war um uns, ein Fluten, ein Rauschen, als seien Riesenschleusen geöffnet und ein Wasserschwall ströme mit Gewalt zu Tal. Wir lauschten, endlich öffnete eine der Frauen die Tür – ein Windstoß riß ihr den Griff aus der Hand und warf die Tür krachend zurück in ihre Angeln – eine trübe Lache schoß über die Schwelle, gierig wie ein wildes Tier, das draußen gelauert.
Kein trockener Grund mehr unter unseren Füßen, im Nu war der verschwunden, wie aufgeschlungen; unter fürchterlichem Angstschrei kletterten wir auf die Bänke und Tische. Wasser, nichts als Wasser! Zur aufgerissenen Tür heraus sah ich’s, die ganze Wiese ein grauer See, Wäschestücke, Bretter, Gießkannen trieben vorüber, eilend dahingerissen. Und immer mehr Wasser, immer höher die Flut; nichts von Wiese, nein, ein wogendes unabsehbares Meer in undurchdringlichen Nebeln verschwimmend. Und vom Himmel ein Gießen, ein Niederströmen, als sollte die Welt untergehen. Das war ein Wolkenbruch!
Die Weiber kreischten: »Die Baach, Jesses, die Bach kömmt gerennt! Könner, mer han verspillt – mer han verspillt – o Jeßmarijusep!« Sie klammerten sich aneinander, sie schrien und heulten, sie beteten, sie gelobten den Heiligen dies und jenes – und dazwischen immer: »Die Baach kömmt – Könner, mir han verspillt!«
Ich konnte nicht schreien, mir war die Kehle wie zugeschnürt. Meine Lippen bewegten sich tonlos, ob sie Gebetesworte murmelten, ich weiß es nicht; mein Herz war jedenfalls nicht dabei, ich hatte nur den einen Gedanken: Mein Mann – mein Kind! Blitzschnell schoß mein ganzes früheres Leben an mir vorüber, das letzte Jahr war das sonnigste gewesen, und sobald nun schon – zu Ende!
Unter mir hob und senkte sich der Tisch vom Anprall des Wassers, ich stand auf einer Schaukel – vor meine Augen legte sich ein Schleier, in meinen Ohren ein wildes Getöse, alles Blut drang mir zum Herzen und machte das rasend pochen.
»Könner, mer han verspillt – huhu – Jeßmarijusep – verspillt, verspillt!«
Nein, nein, nicht sterben – mein Mann, mein Kind – nur das nicht! – – Mechanisch griff ich über mich – ein Ruck, ein Schwanken – der Tisch hob sich, hob sich immer höher, ich klammerte mich ins Sparrenwerk des Daches – das ächzte und bog sich – ich hielt mich fest mit der Kraft der Verzweiflung, mit verklammten, halb abgestorbenen Fingern, eine Ewigkeit, so schien’s mir!
Ich wußte nicht, lebte ich, oder war ich schon tot; mein Geist war halb abgeschieden und ich irrte nur noch flüchtig durch irdische Räume. In weiter, weiter Ferne verklang das Gekreisch der Weiber; ich hörte die Stimme meines Mannes – jetzt drang sie an mein Ohr, dass mir das Herz erzitterte, sie drang zu mir bis in den Tod. Ich hatte ihn noch nie so heiß geliebt.«
Die Erzählerin schwieg plötzlich und lehnte sich erschöpft in den Sessel zurück; im Zwielicht blinkten Tränen in ihren Augen. »Und nun – dann? Weiter!«, forschte der junge Mann gespannt. »Ich wurde gerettet«, sagte sie leise, »das können Sie wohl denken, sonst säße ich ja nicht hier. Wir wurden alle gerettet. Mein Mann war nach Hause gekommen, von unbestimmter Unruhe getrieben: mich nicht finden und im Unwetter zur Olewig stürzen, war eins. Er kam gerade zurecht; an den Matheiser-Weihern war im Wolkenbruch der Damm gebrochen, der sonst so friedliche Bach stürzte mit nie geahnter Gewalt ins tiefgelegene Wiesental. Beim Fischer machte man schnell einen Kahn flott, mein Mann legte sich wie ein Rasender in die Ruder; brave Leute halfen ihm, sie kamen an, als das erste Brett des Schuppens stürzte. Sie luden die entsetzten Frauen in den Kahn, mich hielt mein Mann bewußtlos in den Armen.
Das Wasser verlief rasch, wie es gekommen, noch am selben Abend lugte ein scheuer Sonnenstrahl durch die Wolken. Ich wurde sehr krank, und unser armer Heinrich ist zeitlebens kein strammer Bursche geworden; jetzt schläft er schon lange, wie mein Mann auch.« – – -
»So, und nun gehen Sie nach Hause, junger Freund«, sagte sie mit plötzlich veränderter heiterer Stimme. »Das alles war einmal!« Sie legte ihre kühle Hand auf die seine, und der süßwelke Herbstduft der Potpourrivasen überströmte ihn wieder. »So, nun gehen Sie und grüßen Sie Ihre liebe, gute Frau recht schön von mir!«
Er ging. Eine Stunde darauf legte Anna ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn halb lächelnd, halb weinend:
»Hab’ keine Angst, Lieber, ich gehe gewiß und wahrhaftig nicht auf die Bleiche!«
Erklärungen:
Bleiche = Wiesen, auf denen die Wäsche gebleicht wird;
Olewig = heute ein Stadtteil von Trier;
Beiern = das festliche, manuelle Anschlagen der Kirchenglocken; Eumeniden (= Erinnyen = Furien) Rachegöttinnen in der griechischen Mythologie;
Servante = (frz. »Dienerin«) ein Ablagebehältnis;
Potpourrivase = Vase mit wohlriechenden Pflanzenteilen;
Krinolin = die Krinoline = Reifrock/Unterrock;
Ech kurantören net, dat et en bös Wäder gitt = Ich garantiere (nicht), dass es ein Unwetter gibt;
Könner, mer han verspillt = Kinder, wir haben verspielt;
Jeßmarijusep = Jesus Maria Josef
Textquelle:
Wiener Neueste Nachrichten von Montag, dem 6. Dezember 1897, S. 1–3