Читать книгу Die Osterglocken - Clara Viebig - Страница 8
ОглавлениеGrundwasser
Novellette
Ja, es ist eine eigentümliche Geschichte mit dem Grundwasser! – Daß der Rhein seine Mucken hat, ist bekannt, dafür ist er eben ein alter Herr; alte Leute sind immer wunderlich. Besonders, wenn’s aufs Frühjahr geht, wenn feuchte Winde aus Westen wehen und die Märzsonne mit scharfer Zunge an Eis und Schnee leckt, daß den Bergen die Tränen übers Gesicht rinnen, dann fasst den alten Herrn eine merkwürdige Unruhe. Er dehnt sich, er reckt sich, er wächst, er schwillt, er greift übers Ufer, schier, als ob er ein ganz gemeiner Langfinger sei und kein ehrwürdiger Patriarch unter den Gewässern. Und zieht dann gar noch der Himmel seine Schleusen auf und lässt den Regen herunterströmen, was so gemeinhin »pladdern« oder mit »Mulden gießen« heißt, dann ist eben in ein paar Tagen die netteste Überschwemmung fertig, und die Menschen schreien Ach und Oh. Das kommt davon, warum setzen sie sich dem Rhein auf die Nase!
Was eine Rheinüberschwemmung heißen will, weiß jedermann, und ich werde mich wohl hüten, sie zu beschreiben. Ich lasse lieber Vater Goethe das Wort, der Band II in den Cantaten erhaben einfach spricht:
»Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,
Die Fluten spülen, die Fläche saust!«
Da kann man in kurzen Versen eine lange Geschichte lesen von Angst und Verzweiflung, Heldenmut und Aufopferung, da hört man die Wellen heranrauschen, den Sturmwind heulen, die Mauern zusammenstürzen, die Balken knicken wie dürres Rohr, da sieht man die endlose Wasserwüste und darüber den grauen trostlosen Himmel. Da kann einem wohl das Lachen vergehen!
Ich aber will gar keine solch ernsthafte Geschichte erzählen, ich bleibe bei meinem Grundwasser. Das ist auch eine Überschwemmung, aber mehr komischer als tragischer Art.
Wenn der Fluss hoch geht und drunten am Niederrhein auf den flachen Weidestrecken zur Rechten und Linken, auf denen im Sommer das fette braune Rindvieh grast und die selbst im Winter einen grünen Schimmer zeigen, das Wasser fußhoch steht, dann regt sich’s auch in den Straßen der Stadt. Liegt die auch ein Stückchen abseits, die Leute rennen doch ans Ufer und messen mit besorgten Blicken den Wasserstand, rennen dann wieder heim, steigen in ihren Keller und heben in der Ecke die Steinplatte mit dem eisernen Ringe unter »Uf« und »Oha« in die Höhe und leuchten mit dem Lichtstümpfchen am langen Stocke in die Tiefe. Au weh, es geht gar nicht mehr weit hinunter, da blinkt schon unheimlich ein regungsloses schwarzes Wasser und der Lichtschein wirft zitternde Kringel darüber! »Et kömmt«, sagt der biedere Hausvater und kratzt sich hinter den Ohren, »mer müssen uns plagen, dat mer fertig weren!« Und nun geht ein Rumoren los, daß Ratten und Mäusen die Schwänze zu Berge stehen und sie vor Angst die Wände hinanlaufen. Das Sauerkrautfaß wird die Treppe heraufgeschrotet, die Kartoffeln, der Lohkuchen, die Hobelspäne in Körben nach oben geschleppt, und ist einer ein Schlemmer, dann packt er eiligst seinen Johannisberger Kabinett oder sein Moselblümchen unter den Arm und läuft mit jeder bestaubten Flasche extra und birgt sie sicher und birgt sie warm in höheren Regionen. »Oha,« sagt der Hausherr und wischt sich den Schweiß von der Stirne, »dat war en sauer Stücksken!«, setzt sich zu seiner Frau und harrt mit Ruhe der Dinge, die da kommen sollen. Und sie kommen!
Wenn alles schläft, müde von der Arbeit des Tages, dann fängt unten im Keller ein merkwürdiges Etwas an. Es gluckst und gurgelt unter der Steinplatte, es quillt aus den Ecken, es rinnt feucht über den Boden – erst ein Rinnsälchen, dann ein Rinnsal – erst steht ein Tümpel – dann stehen ihrer zwei, drei – am Morgen ist der ganze Raum ein schwarzer unheimlicher See, am Mittag spült die Flut über die unteren Stufen der Kellertreppe, am Nachmittage steht sie ellenhoch!
Und draußen in den Straßen? O, da sieht’s hübsch aus! Die harmlosen Rinnsteine, die sich höchstens als einzige Extravaganz zur warmen Jahreszeit ein sanftes Duften erlauben, sind schnell zum Bache geworden. Sie erweitern sich blitzgeschwind in Buchten und Bogen, sie dehnen sich ins Unendliche; aus den Abflussröhren strömt es, von überall kommt’s gelaufen, jedes Loch ein unerschöpflicher Born, es tropft, es sickert, es quillt, es schwillt, es rinnt, es stürzt – die Straßen der unteren Stadt sind Flüsse, der Markt ein Meer, auf schwanken Brettern balanciert man über die Gasse, von einer Haustür zur anderen; wo’s hoch kommt, weiter zum Rhein hinunter, steigt man gar in einen Nachen und stößt sich mit langen Stangen vorwärts. Wer da Parterre wohnt, zieht in die Beletage zu Gast, die Väter der Stadt gondeln zur Sitzung, die gestrenge Justiz, die hohe Verwaltung dito, in manchen Straßen brennen am hellen Tage noch die Laternen, man hat sie in der Eile nicht löschen können; wer Lust hat, kann jetzt das Lied von der großen Seestadt und der Wassernot anstimmen – es paßt. Aus den Fenstern gucken die Leute und lächeln bittersüß – »Ä, Grundwasser!« – Nur die Kinder haben ihre Freude; sie sind eben wie die Bienen, die auch aus giftigen Blüten Honig saugen.
In dem freundlichen Hause, an dem hübschen Platze, unter dessen hohen Bäumen noch kein Wasser steht, nur die Rinnsteine unnatürlich geschwollen sind, blinkt auch im Keller der bewußte See. Durch die Luke fällt ein ganz schwacher Tagesschein herein auf die Mitte der stillen Flut, die Ecken bleiben dunkel; aber nun huschen zwei glitzernde Pünktchen über die schwarze Oberfläche, Kinderlachen ertönt, so fröhlich wie die Morgensonne, so traulich wie Taubengurren. Aus dem Winkel kommt langsam eine große Waschbütte geschwommen, ein Knabe steht darin und rudert mit einem Holzscheite, und neben ihm hockt ein kleines Mädchen. In jeder Hand hält sie einen Bindfaden, daran zieht sie zwei ausgehöhlte Nußschalen hinter der Bütte her; in jeder Nußschale klebt ein brennendes Wachslichtlein, das leuchtet hell und lustig wie ein Stern. Mit aufmerksamen Augen folgt das Mädchen dem Gleiten der kleinen Boote, der Knabe aber streckt das Bein über den Büttenrand, taucht ein bis weit über den Stiefelschaft und schlenkert kräftig nach rechts und nach links: »Kuckst de, das gibt Wellen!« Die Bütte schwankt, das Wasser spritzt, die Kinder jubeln laut. Weiter geht die Fahrt. »Wendekreis des Krebses!«, ruft der kühne Schiffer, daß die Wölbung wiederhallt – und nun »Wendekreis des Steinbockes!« mit majestätischer Schwenkung wird ein Lattenverschlag umfahren – »Kap der guten Hoffnung, aussteigen!« Man landet an der Kellertreppe, mit keckem Satze schwingt sich der Bube heraus, zieht mit der Linken die stolze Fregatte näher heran und hilft mit der Rechten der Gefährtin.
Wie zierlich die kleine Mamsell sich bewegt, wie sie halb ängstlich, halb selig aufkreischt, als jetzt der Schiffsrand sich neigt und das Wasser über ihre Füßchen platscht. Nun stehen sie beide auf den schlüpfrigen Stufen, mit nassen Füßen, mit nassen Kleidern, aber seelenvergnügt. Die Wangen glühen ihnen wie rote Rosen, man glaubt selbst durch das Kellerdunkel ihre Augen glänzen zu sehen und mitten in der Moderluft den süßen Hauch der Kindlichkeit atmen. »Du, Mariechen«, sagt der größere Junge und tippt der Kleinen mit dem nassen Finger auf den blonden Krauskopf, »das war fein! Wann ich groß bin, fahr’ ich aufs Weltmeer, das is noch viel feiner.«
»Nimmst Du mich dann mit, Karlchen?«
»Ne,« antwortete er geringschätzig, »Mädchens fahren nich auf dem Weltmeere!«
»O ja,« sie verzieht das Mäulchen, »die fahren doch – ich will aber mit Dir fahren.«
»Ne, Du kannst nich!«
»O ja,« sie verzieht das Mäulchen noch mehr und nun tropft ein Tränchen aus den großen Augen. »Du ek – li – er Jung« – sie schluchzt laut, »ich – will – mit – fahren – Du – ek – li – er« – »Sei still, Mariechen,« schon umschlingt der Knabe die Gespielin und gibt ihr dann, sie loslassend, einen freundlichen Schubs, daß sie beinahe das Gleichgewicht verliert, »sei nich so dumm, Du fährst ja mit, ich heirat Dich doch – wein nich!«
Sie läßt das Weinen und blinzelt ihn unter ihrem Lockengeringel hervor fragend an; dann hebt sie das Fingerchen und sagt so ernsthaft wie eine Alte: »Wahrhaftig ins Gott, Karlchen?« »Wahrhaftig ins Gott,« bekräftigt er, »und nu –«
Da wird die Kellertür aufgerissen, »Karl, Mariechen, wo seid Ihr? – Jeses, Maria, da stehn die Kinder! So ’ne Blagen, so ’ne Puten!« Atemlos stürzt das Grittchen, die alte Magd, die Treppe herunter und zieht die Kinder unsanft mit sich die Stufen hinauf – »Marie, Karlchen, komm Du nach oben, Du kriegst Haues, un Mariechen – ne, dat Kind! Dem sein Röcksken is ja quatschennaß – mach, du Krott, daß du nach Haus kommst, Dein Mamma war als zweimal hier, die sucht dich überall!«
Die Kellertür wird zugeschlagen, die blinkenden Lichtchen drunten flackern noch einmal auf, dann verlöschen sie; es wird ganz still und dunkel.
* * *
In dem freundlichen Hause an dem hübschen Platze mit den hohen Bäumen hatte der Herr Rechnungsrat Zehrenpfennig mit Frau und Sohn viele Jahre gewohnt. Nun war er tot; am Gallenfieber gestorben, aus Ärger über seinen nichtsnutzigen Lümmel meinten die Leute, und da hatten sie so unrecht nicht.
Aus dem Karlchen, das heimlich in der Bütte fuhr und auf die nassen Hosen vom gestrengen Herrn Papa eins aufgezählt bekam, war ein großer Karl geworden. Ein hübscher, frischer Bengel, gar nicht böse, gar nicht dumm, und doch zu nichts zu gebrauchen. In der Schule saß er zu unterst und kaute gelangweilt an der Feder, jede Freistunde lag er unten am Rhein bei den Schiffern, hantierte mit denen auf ihren Kähnen herum, rauchte aus der kurzen holländischen Tonpfeife und ließ sich Wunderdinge erzählen. Die halben Nächte saß er wach im Bette und las mit pochendem Herzen und brennenden Augen die Abenteuer und Gefahren kühner Seefahrer und Entdecker.
Die Lehrer klagten, die Eltern klagten, der Junge wurde nicht anders, im Gegenteile! Eines Tages kommt er nicht zu Tische, man wartete auf ihn, die Mutter wurde schon ängstlich, der Vater machte sich selbst auf, um nach dem Karl zu sehen. Recht ärgerlich wandelte der Herr Rechnungsrat die Straße hinunter – da, ist’s möglich?! In dem Winkel, den zwei vorspringende Häuser bilden, steht das verlorene Söhnchen, den Rücken der Straße zugekehrt, ein Buch gegen die Mauer gestemmt und liest und liest unbekümmert um Lärm und Wagengerassel. Ein heftiger Schlag auf die Schulter schreckt den Versunkenen auf, im Bogen fliegt der edle Cooper in den Schmutz, unheimlich, wortkarg gehen Vater und Sohn nach Hause. Konnte man es dem Herrn Rechnungsrate verdenken, dass er daheim den Buben rüttelte und schüttelte?
»Mensch, Du bist sechzehn, sitzest noch auf Tertia, kommst nicht voran, bist größer wie ich, schämst Dich nicht vor den kleinen Jungen, die mehr wissen als Du – Mensch, Mensch, was soll aus Dir werden?!« Herr Zehrenpfennig rang die Hände.
»Vater,« hatte der Karl ganz ruhig gesagt, »lass mich Seemann werden, ich will zur See.«
»Du – Du –«, der Herr Rechnungsrat schnappte nach Luft und lachte dann krampfhaft. »Du und Seefahrer? Natürlich! Bummler, Nichtstuer, Abenteurer – daraus wird nichts. Du machst die Schule durch und würdest Du dreißig darüber, und dann studierst Du und wirst, was ich geworden bin – verstanden?!«
»Nein, Vater,« – der Junge sah in dem Augenblicke merkwürdig erwachsen aus, »das kann ich nicht. Du magst sagen, was Du willst. Ich will und muss zur See.«
»Du –« dem Herrn Rechnungsrate versagte das Wort – eine schallende Ohrfeige brannte auf des Knaben Wange. – Mach, dass Du weg kommst und tritt mir nicht mehr unter die Augen!«
Es war nicht so schlimm gemeint gewesen, aber anderen Tages war der Junge fort und kam nicht wieder. Herr Rechnungsrat Zehnerpfennig grämte sich darüber zu Tode, die Frau Rätin saß manches Jahr in ihrem einsamen Witwenstübchen und weinte sich die Augen rot. Da kam eines Tages ein Brief mit seltsam ausländischem Poststempel, Kapstadt, der verlorene Sohn schrieb, reuig, liebevoll, unsäglich rührende Worte! Er hätte nicht schreiben wollen, so lange es ihm schlecht gegangen, nun gehe es ihm gut, er wünsche nur die Verzeihung der Eltern und würde dann bald kommen, sie zu besuchen.
O diese Freude, o dieser Schmerz! Aus wunderlich gemischtem Born quollen die Tränen der Mutter – ja, es ist ein eigenes Ding um das Mutterherz! Da liegen in der engen Kammer, wie Zwillingsgeschwister in einer Wiege, Zürnen und Vergeben, bitteres Gekränktsein – unendliche Liebesfülle! Die Mutter schrieb an den Sohn, sie nannte ihn ihr böses geliebtes Kind, und sie wartete auf sein Kommen. Das neue Frühjahr sollte ihn bringen, aber das alte Jahr mußte erst scheiden, und das nahm die gute Frau Rätin mit – so geht’s mit der Pflanze, die allzulang im Schatten gestanden, rückt man sie jäh in die Sonne, so welkt sie, sie verträgt das Licht nicht mehr. Auf dem Grabe der Frau Rätin blühten unterm Schnee die weißen Sterne der Christrose, die Nachbars Mariechen mit zitternden Händen und weinenden Augen dorthin getragen.
Nachbars Mariechen! Sie war der Sonnenstrahl im Leben der einsamen Frau gewesen, sie hatte Frische, Jugend, Heiterkeit in das Witwerstübchen gebracht, mit niemandem konnte die Mutter so gut von dem Verlorenen reden wie mit der kleinen Nachbarin. Die erinnerte sich des Kindheitsgespielen so genau, die erzählte laufend lustige Streiche, die sprach von der Tanzstunde und – von dem ersten Kusse – nein, von dem sagte sie doch nichts, sie neigte nur den Kopf tiefer und die blonden Locken fielen ihr über das rosige Gesicht.
* * *
Es war ein feuchter, helldunkler Märzabend, als Karl Zehrenpfennig nach Hause kam. Er stand unter den hohen Bäumen an dem hübschen Platze und starrte unbeweglich hinüber zu dem freundlichen Hause, hinter dessen Mauern nun andere Menschen wohnten, andere Herzen schlugen. Er war zu Hause und doch so fremd. Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen. Warum war er gekommen? Er würde nur die Gräber seiner Eltern finden, eine zierliche, klare Mädchenhand hatte ihm das geschrieben. »Mariechen!« Für einen Augenblick flog ein freundlicher Schein über das tiefernste Männergesicht, dann blickte es suchend umher – wo wohnte sie doch? Richtig, dort die benachbarte Tür mit dem blanken Messingknopfe, an dem seine Kinderhand täglich geläutet! Wie sehnsüchtig hatte der Bube oft das Öffnen erwartet und ungeduldig mit dem Stiefelabsatze gepocht! Auch jetzt ging die Tür, eine schlanke Mädchengestalt schritt die Stufen hinunter, sah prüfend umher und hüpfte dann mit leichtem Satze über den Rinnstein. Der Fremde trat näher, das blonde Gelock unter der braunen Pelzmütze schimmerte so seltsam bekannt. Er lüftete den Hut: »Fräulein Mariechen?!« – Sie schrak zusammen und sah ihn einen Augenblick starr an, glühendes Rot stieg in ihr Gesicht; dann schossen ihr plötzlich die Tränen in die Augen, sie streckte ihm mit einem kleinen Schrei beide Hände entgegen: »O mein Gott – bist D – sind Sie’s?!« Er ergriff diese Hände und drückte sie herzhaft. »Ja, Mariechen, ich bin’s, der alte Karl, kennen Sie mich denn noch?«
Ob ich Sie kenne –« Röte und Blässe wechselten auf den weichen Mädchenwangen, und dann huschte ein kleiner Schalk um den roten Mund – »Sie böser Weltumsegler!« Er seufzte schwer und drückte den breiten Filzhut tiefer in die sonnenverbrannte Stirn. »Alles ist hier anders geworden – o, meine Mutter – ich bin fremder wie in der fremdesten Fremde!«
»Sagen Sie das nicht –« bat sie leise und legte zutraulich ihre Hand in seinen Arm – »Sie sind nicht fremd, bei uns sind Sie zu Hause – – ich freue mich so!«
»Gutes Mariechen!« Er preßte ihren Arm fester an sich, und nun schritten sie langsam unter den hohen Bäumen auf und nieder, hin und her, wie unendlich viel war zu fragen, wie unendlich viel zu antworten! Eine Ewigkeit hätte nicht genügt. Die weiche Mädchenstimme klang wie ein Hauch durch das abendliche Dunkel, es lauschte sich so angenehm, so längst vertraut. Was lag alles in dieser Mädchenstimme – Heimat, Kindheit, erste Jugend, Vater, Mutterwort, alles – alles!
Aus den Fenstern der Häuser, jenseits der Straße, schimmerte Lampenlicht, die Leute aßen zur Nacht. Es war still auf Platz und Gasse, kein Wagen rasselte mehr, kaum hallte ein Fußtritt, nur feuchtwarmer Wind strich kosend durch die Wipfel der Bäume, daß die braunen, träumenden Knospen an den nackten Ästen zu schwellen schienen. Von der Kaserne herüber tönte der Zapfenstreich.
»Es ist schon spät,« Mariechen hielt plötzlich erschrocken inne – »o, wie habe ich mich versäumt! Aber nicht wahr, morgen kommen Sie zu uns?« sie sah in fragend an, »wahrhaftig ins Gott?«
»Wahrhaftig ins Gott!«, der Mann fuhr wie aus tiefem Sinnen auf.
»Und nun gut’ Nacht«, sprach sie weiter, »schlafen Sie wohl, das erste Mal in der alten Heimat, ich – ich – « ihre Stimme zitterte leicht – »ich werde an Sie denken – die ganze Nacht!«
Er faßte ihre Hand und hielt sie fest. »Kommen Sie, ich bringe Sie bis an Ihre Tür.«
Schweigend schritten sie unter den Bäumen vor, die Straße hinüber, da blinkte heller Laternenschein, zeigte das liebe Mädchenantlitz, das braune, ernste Männergesicht und – einen breiten, schwarzflutenden, unüberschreitbaren Rinnstein. Was war das?! Mariechen wies mit dem Finger hin und lächelte: »Grundwasser!« Und er lächelte auch: »Ja, Grundwasser – wissen Sie noch?« Sie neigte stumm den Kopf, und nun wanderten sie hin und her und suchten einen Übergang – umsonst, wie ein Bach strömte der Rinnstein. – Kein Brett noch gelegt – da hilft nichts! Mit keckem Satz schwingt sich der Mann hinüber, und nun steht er drüben auf dem Trottoirrand und streckt dem Mädchen die Hände entgegen: »Springen Sie!« halb springt sie, halb zieht er sie, sie gleitet aus, sie strauchelt – sie liegt an seiner Brust, fest von seinen Armen umschlungen. »Mariechen, weißt Du noch«, flüstert er leise in ihr Ohr, »Mariechen, bist Du mir denn noch gut?« Sie nickt heftig, dann hebt sie das Gesicht zu ihm auf und lächelt unter Tränen: »Ja, Karl, ich weiß noch, ich weiß alles – und wie wir in der Bütte fuhren –.«
»Jetzt fahren wir nicht mehr in der Bütte«, spricht er innig, zärtlich und küßt sie wieder und wieder, »jetzt fährst Du mit mir in die weite Welt – ja mein Mariechen?«
»Ich will sein, wo Du bist,« sagt sie einfach und legt die Hand auf seine Brust. »Dein Volk sei mein Volk. Dein Gott mein Gott!«
Der Nachtwind rauscht und der Rinnstein rauscht auch, er dehnt sich bedenklich in die Breite. Über den Trottoirrand plätschert schon das schwarze Wasser und schlägt über die Füße der beiden Menschen, die da stehen und sich umschlungen halten – Grundwasser – sie achten es nicht, über ihre Seele flutet ein anderes Wasser, das Hochwasser der Liebe.
Erklärungen:
Lohkuchen = wird mit Bauernbrotmehl gebacken. Der Belag besteht u.a. aus Kartoffeln und Schmand;
Puten = hier wohl eher als Schimpfwort gemeint (dumme Puten); Trottoir = Bürgersteig
Textquelle:
Linzer Tages-Post von Mittwoch, dem 17. April 1895, S. 1 und
Samstag, dem 20. April 1895, S. 1 und S. 2