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2.

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Doktor Hirsekorn, bei dem Frida Reschke nähte, rüstete zum Umzug. Noch immer hatte die Hausdame gehofft, es würde nichts daraus werden, denn manchmal schien es dem alten Mann doch bange zu sein, sich so zu verändern. Dann war er ja auch noch so viel weiter weg von seiner Frau, das sagte Fräulein Zimmer ihm alle Tage. Hier oben von der Wilhelmstraße brauchte er nur eine Viertelstunde bis hinters Hallesche Tor, oder er konnte mit der Elektrischen fahren – ein paar Minuten, dann war er bei ihr.

Aber der Doktor sah sie mit seinen Augen, die noch immer scharf waren, halb spöttisch, halb traurig an. Als wenn ein Leib, der da im Kirchhofsgrund verwest, das einzige wäre, was an Geliebtes bindet! Die Sehnsucht nach der geistigen Gegenwart des geliebten Menschen ist überall, und gerade am Grabe wird sie übermächtig, peinvoll. Lieber draußen in Wald und Wiese, in Heide und Acker der Dahingegangenen nachspüren. »Ich hoffe, die Natur steht mir bei!«

Wie der Doktor doch so merkwürdig redete! Es wurde dem Fräulein ganz unheimlich. Sie sprach sich auch bei der Näherin darüber aus: und wie komisch er überhaupt war! Abends, wenn es ganz still wurde in der Wohnung, und sie noch einmal an seiner Stube vorbeiging, hörte sie ihn drinnen sprechen: »Gute Nacht, geliebtes Herz, schlaf wohl!« Das ging einem dann ordentlich durch und durch, ein Frösteln kroch über den Rücken. Der arme Mann! Sie mußte aber auch wirklich nett gewesen sein, die Frau Doktor!

Fräulein Zimmer war erst nach dem Tode der Frau ins Haus gekommen, bis zu ihrem letzten Tag hatte Frau Marianne die Wirtschaft selber geführt, obgleich sie schon ein paar Jahre gekränkelt hatte; nicht innerlich, da war sie gesund, aber mit den Füßen war es nicht mehr voran gegangen, sie war zu stark geworden. Der Herr hatte sie die letzte Zeit immer draußen im Rollstuhl gefahren. Und die Treppe hinauf hatte er sie mit dem Portier getragen. Sie hatte dann immer gelacht und ihm das Gesicht gestreichelt: »Bin ich dir auch wirklich nicht zu schwer, mein guter Mann?!« Wirklich, die Frau Doktor war nicht wie eine gewesen, sie so viel Geld hat. Die »Millionenwitwe« hieß sie, als der Doktor sie geholt hatte vor den Toren, draußen aus Britz. Sie stammte aus Tempelhof, da waren ihre Eltern noch simple Bauern gewesen, und ihr erster Mann auch nur ein Landmann, aber alle schwer reich durch den Verkauf ihrer Äcker. Sie aber hatte nichts Protziges an sich gehabt, sie sollte sehr bescheiden gewesen sein, eine liebe Frau. Und immer heiter. Eigentlich kein Wunder, daß der Doktor noch heute, nach zwei Jahren, so tat, als lebte er fort mit ihr. Oder ob er an Geister glaubte? An das Erscheinen der abgeschiedenen Seele in einem Astralleib?

Des Fräuleins Augen wurden ganz starr und groß. Julie Zimmer schwor darauf, daß es etwas Übernatürliches gäbe, aber die Näherin lachte sie aus: an so etwas glaubt kein Berliner Kind. Was war denn auch Wunderbares dabei, daß der Herr Doktor noch an seiner Frau hing? Sie waren doch so lange verheiratet gewesen, ihre Kinder waren erwachsen und nicht mehr im Haus, die beiden waren allein geblieben, immer zusammen Tag und Nacht; es war doch ganz natürlich, daß er manchmal glaubte, sie wäre noch da. Nur daß er sagte: »Mein geliebtes Herz«, so wie ein Verliebter spricht, das war etwas Wunderbares – so alte Leute!

»Oh,« sagte Fräulein Zimmer, »alte Männer können auch noch verliebt sein – überhaupt sich auch noch mal verlieben.« So alt war der Doktor ja doch eigentlich gar nicht! Sie hatte sich nun entschlossen, so weit sie auch anfänglich diese Zustimmung von sich gewiesen hatte, mit dem armen einsamen Mann hinauszuziehen nach der Gartenstadt.

In der Gartenstadt, die im Norden von Berlin nach einer halben Stunde Fahrt vom Stettiner Bahnhof aus zu erreichen ist, hatte Hirsekorn sich ein Haus gekauft. Die Terraingesellschaft hatte es gerade fertig gehabt, als er es sah, und es gefiel ihm. Es lag tief in den Kiefern, ein gutes Stück vom Bahnhof ab und von der Post und dem Kaufladen. Aber das war ihm gerade recht.

Seine alte Liebe für das Land war wieder erwacht. Er hatte ja auch nichts mehr in der Stadt zu tun. Seine Praxis hatte er aufgegeben, schon die letzten Jahre vorm Tode seiner Frau, denn wer sonst sollte Marianne stützen, im Rollstuhl fahren, sie hinauf- und hinuntertragen? Und nun sie tot war, war es ihm, als sei er zu gar nichts mehr nütze auf der Welt. Die Wochen, die Monate, die geflogen waren an ihrer Seite – Stunden wie Minuten – Jahre wie Tage – die waren nun endlos. Sie dehnten sich zur quälenden Ewigkeit.

Es trieb ihn in die Straßen hinein, es trieb ihn wieder aus den Straßen heraus. Aber nicht in jene Gegend trieb es ihn, woher er sich einst die geliebte Frau geholt hatte: das Tempelhof von heute war nicht mehr der Rahmen für ihr liebes Bild. Da bauten sie Häuser wie die Kasernen, von dem einstigen Dorf war so gut wie nichts mehr da, die alten Linden kümmerten, städtische Blumenparterres wurden angelegt, Elektrische blitzten, Bahnzüge donnerten, es raste und ratterte, rollte und rasselte – für ihr blondes Haupt mit dem Flechtenkranz, für ihre weiche Gestalt mit der behaglichen Fülle war das keine Umgebung. Das weite Feld, über das er einst mit ihr geschritten war Hand in Hand in einer ersten und doch hoffnungsreichen Stunde – Marianne hatte ihre Mutter begraben, und sie selbst sollte bald Mutter werden – war jetzt eine Wüste. Und alle waren schon hingegangen, die damals mitgelebt hatten. Er allein war übrig geblieben von dieser Generation, und er hatte das Gefühl: geh auch du aus der vieltausendköpfigen Menge heraus, in der du doch so einsam bist, und suche dir für deinen Abend einen Fleck Erde, dem du noch etwas sein kannst, und der dir noch etwas ist: einen Garten, der dir blühend seine Dankbarkeit zeigt, der dankbarer ist, als ein Kind es je sein kann. Richte dir da ein Haus auf, so fern von dem Lärmen und Treiben, so wie du sie einstmals gefunden hast!

Fräulein Zimmer hatte ganz recht, der Doktor war etwas merkwürdig geworden. Das fanden auch seine Kinder. Die Tochter war in Magdeburg verheiratet; ihr Mann war Großkaufmann und sehr wohlhabend. Und sie hatte drei allerliebste blonde Kinder.

Hanna besuchte den Vater öfters, fast alle Vierteljahr, aber sie fand, daß er sich eigentlich nicht genug darüber freute. »Vater ist doch auf einmal recht alt geworden,« sagte sie zu ihrem Bruder Wilhelm, dem Regierungsrat. »Er kann sich gar nicht mehr so mit einem freuen, und wenn man wieder fortgeht, ist es ihm auch ziemlich gleichgültig. Das ist aber wohl nicht anders bei alten Leuten; die Empfindungen stumpfen sich ab.«

Der Sohn, der, obgleich er weit im Westen wohnte, aber doch alle paar Tage nach dem Vater sah, gab ihr recht. Hätte man nicht annehmen können, daß der alte Herr, nun die Mutter tot war, ganz aufgehen würde in Kindern und Enkeln?! Beide Kinder waren sich darüber einig, was sie beim Vater vermißten.

Und was vermißte der Vater bei ihnen? Hirsekorn sagte es seinen Kindern nicht. Nicht alle ihre Interessen konnten seine Interessen sein. Ja, Marianne, ach die, die hatte es verstanden, mit den Kindern jung zu sein oder wenigstens zu scheinen! Sie war eine Mutter – eine Großmutter – und was vermöchte die nicht? Es war ihr gewiß manchmal zu viel geworden, wenn die Tochter aus Magdeburg Besorgungen auf Besorgungen schickte, die immer alle so rasch als möglich erledigt sein sollten; es war auch wenig nach ihrem Herzen, daß Wilhelms Frau von Schneiderin und Putzmacherin erzählte, als seien das die wichtigsten Personen in ihrem Leben; es griff sie sicher oft an, wenn die Enkel um ihren Sessel tobten. Aber sie war immer voller Verstehen gewesen. Wilhelms Frau war eine schöne junge Frau, es war natürlich, daß sie Wert auf ihre Kleidung legte – und Hanna bekam in Berlin alles besser und auch billiger – und wenn die Enkelkinder sie auch heute müde gemacht hatten, sie konnte ja morgen ausruhen, es war doch eine Freude, daß die Kinder so gesund und lebhaft waren.

Der Mann senkte den Kopf: ja, seine Marianne, die war eine Frau wie sie sein soll: die kann sich selber verleugnen, die kann lächeln, wenn es ihr auch zum Weinen ist, die kann Interesse zeigen, Geduld, Teilnahme auch in der größten Ermattung – aber er, er als Mann? Nein, so alt war er denn doch noch nicht, daß ihn jeder persönliche Wunsch verlassen hätte, noch nicht so ohne allen Egoismus, daß er jedes Recht seines Ichs einfach aufgab, sich den Kindern anpaßte, als hätte er vor ihnen kein Leben geführt. Er wollte auch jetzt noch sein eigenes Leben haben.

Das war der Hauptgrund, weshalb Doktor Hirsekorn sich das Haus unter den Kiefern zum Wohnplatz aussuchte.

Seine Kinder waren durch diesen Entschluß unangenehm überrascht, die Tochter war fast beleidigt. Sie schrieb an Fräulein Zimmer: konnte die es denn nicht möglich machen und den Vater bewegen, diese unglückliche Idee aufzugeben, wenn er denn schon so wenig auf seine Kinder gab? Der Regierungsrat redete aufs ernsthafteste ab, er fühlte sich verpflichtet: der alte Mann so weit draußen und so ganz allein?!

Es schien ein gewisser Eigensinn, mit dem der Doktor auf seinem Willen bestand: »Ihr tut ja, als zöge ich in eine Einöde. Laßt mich nur!«

»Du wirst aber sehr allein sein. Man kann dich beim besten Willen dann nicht so häufig besuchen. Schon allein diese Reise bis zum Stettiner Bahnhof!«

Da lächelte der Vater; es war ein feiner Spott in seinem Lächeln und zugleich etwas wie Gram: »Wenn ihr mich brauchen werdet, werdet ihr mich auch da schon zu finden wissen. Im übrigen bin ich ja nicht allein.« Er sagte das so, daß keine Erwiderung mehr am Platze war.

Die Zimmer war sehr schlechter Laune. Beide Dienstmädchen, die noch von Frau Doktors Zeiten her im Hause waren, kündigten; zwar mit Tränen, denn es wurde ihnen wirklich schwer, die gute Stelle zu verlassen. Aber die Köchin hatte einen Bräutigam, mit dem sie alle Abend unten auf und ab spazierte, und das Hausmädchen amüsierte sich gern. Beides war da draußen ausgeschlossen. »Sehen Sie, Herr Doktor«, sagte die Hausdame fast weinend, »das ist nun schon das erste!«

Es kostete viel Geld, Herumlaufen und Zureden, zwei neue Mädchen zu finden. Wenn die Mietsfrau denen auch versicherte: »Sie denken sich det draußen viel schlimmer als det in Wirklichkeit is, feine Filla, jesunde Luft, Se kriejen da schöne rote Bakken« – die meisten Mädchen waren von auswärts zugezogen, und nun wollten sie erst einmal Berlin auskosten.

Fräulein Zimmer mußte sich mit einem siebzehnjährigen Hausmädchen, das noch nichts verstand, und mit einer Köchin, die nur ein Auge hatte – das andere war ein Glasauge – begnügen. Das würde ein schöner Zustand werden!

Aber ihre Klagen verhallten ungehört. Sie hörte auch bald auf zu klagen, denn der Doktor sagte ihr eines Mittags, als sie wieder jammerte, ganz ruhig und sah sie dabei, von seinem Teller aufblickend, voll an: »Liebes Fräulein, ich will niemanden zwingen. Wenn Sie denn durchaus nicht draußen sein mögen – !«

Doktor Hirsekorns Haus, Kieferngrund Nummer zwölf, kehrte seinen Giebel der Straße zu. Der war mit blauen Schiefern ausgekleidet, und das braunrote Ziegeldach darüber und der zartrötliche Verputz des Hauses und die grünen Fensterläden gaben dem Ganzen etwas Heiteres zwischen dem Dunkel der Kiefern, die mit ihren langen Stangen wie ernste Wächter standen. Ein niedliches Haus in einem großen Garten, das mußte selbst der Regierungsrat zugestehen. Aber dahinter war der Wald: hohes Gras, Wacholderstauden, und immer dies eintönige Kieferngrün. Und die mit kleinen Kastanienbäumchen eben angepflanzte Straße zeigte nur noch ein einziges bebautes und bewohntes Grundstück.

Nebenan in Nummer elf wohnte der Rentier Hippelt. Er war als erster herausgezogen; noch verlangte die Gartenstadt keine Gemeindeabgaben, keine Kommunal-, keine Wertzuwachs- und Umsatzsteuer. Das Haus war nicht groß, ein kräftiger Bursche, in eine Art Livree gesteckt, hielt es rein; außer ihm war kein Dienstbote da.

Frau Hippelt kochte selber; sie war das gewohnt, noch von der Zeit her, als sie dem Junggesellen die Wirtschaft geführt hatte. Kinder hatten sie nicht, und man sah nie jemanden zum Besuch kommen. Nur der Schlächter auf seinem Rad kam von Hermsdorf angesaust und läutete an der Glocke des hochummauerten Garteneingangs. Wütend fuhr da der große Hund, der tagsüber dicht bei der Treppenstufe der Haustür an der Kette lag, auf und bellte mit einem wilden heulenden Bellen. Der Diener ging dann hinaus zur Straße und nahm dem Schlächter das Fleisch ab; es wurde keiner hereingelassen. Für die Nachtstunden wurde die Dogge losgemacht. Bis zu seinem Fenster herauf hörte Doktor Hirsekorn ihr heiseres Schnaufen; sie schnupperte den Zaun entlang, der die Grundstücke trennte.

Fräulein Zimmer hatte sich bitter beklagt über das unheimliche Schnaufen und das ab und zu ganz kurz herausgestoßene grimmige Knurren; das nahm ihr die Nachtruhe. Aber war es denn ein Wunder, daß das Tier so böse war? Immer an der Kette, und dazu Hunger! Die Dienstmädchen erzählten, der Freßnapf wäre immer leer.

Hirsekorn ging eines Abends noch in den Garten hinab; das Bellen war heute schier unterträglich gewesen weniger böse, als verzweifelt: Hunger, Hunger. Er trug einen Teller mit Überresten und einen großen Kalbsknochen. »Komm – da – da!« sagte er und hielt dem heranschnaufenden Tier den Knochen über den Zaun. Die rote Zunge leckte aus dem dampfenden Rachen, der Geifer lief, der Hund schnappte gierig zu. Plötzlich ließ er winselnd ab.

»Sie füttern meinen Hund? Sehr freundlich, Herr Nachbar«, sagte Rentier Hippelt. Er war herangekommen, ohne daß der Doktor ihn bemerkt hatte. Nun stand er dicht am Zaun, in dem geflickten Schlafrock mit den roten Aufschlägen, in dem man ihn tagsüber auch immer sehen konnte; keiner der Flicken paßte zu dem Mausgrau des Rockes. Rasiert schien der Mann sich auch lange nicht zu haben. Der Doktor sah mit einer gewissen Verwunderung in das graubestoppelte magere Gesicht: wie ein reicher Mann sah der nicht aus. Er würde ja wohl nicht ganz so reich sein, kein zehnfacher Millionär, wie die Zimmer sagte, aber jedenfalls doch reich genug, um sich und seinen Hund anders zu halten.

Die Dogge hatte den Knochen fahren lassen, nun hob ihr Herr ihn selber auf: »So ’n schöner Knochen! Da, friß, mein Junge, wenn der Herr Nachbar denn so freundlich ist!« Und mit einem Lächeln, das verbindlich sein sollte, das sein Gesicht aber nur in viele Falten zog, streckte er dann die Hand über den Zaun und machte eine Art Verbeugung: »Hippelt. Bin sehr erfreut, Herr Doktor, Sie kennenzulernen. Na, wie gefällt’s Ihnen hier?«

Wollte der Mann die Nacht zum Tage machen? Der Doktor kam nicht los, der Nachbar verwickelte ihn in ein längeres Gespräch, als wenn er nur darauf gelauert hätte, sich einmal auszusprechen. Er erzählte, ganz vertraulich werdend und in einem kläglichen Ton, unter dem sich aber doch ein schlecht verhehlter Stolz barg, wie sehr er es jetzt bei den schlechten Zeiten bedauere, daß ihm fast die ganze Straße hier gehöre. Seine Backen plusterten sich auf: sämtliche Bauplätze. »Links von mir – eins bis elf – alles! Wenn Sie da gekauft hätten, anstatt rechts von mir bei der Terraingesellschaft, hätten Sie besser getan. Die Quadratrute haben Sie mit hundertundsiebzig Mark bezahlt – ich hätte Sie Ihnen mit hundertundfünfzig gegeben. Ich mache ja kein Geschäft daraus. Und die Lage links von mir ist besser, viel besser, näher zum Bahnhof. Und der Kiefernbestand ist schöner!«

»Ich bin zufrieden mit dem Grundstück«, sagte der Doktor.

»Na, mir ist’s auch so recht!« Hippelt versuchte wieder das verbindliche Lächeln. »Wissen Sie, ich habe noch so viele Grundstücke in Berlin, – am Wedding, Gesundbrunnen, am Oranienburger Tor – wenn ich mir darüber immer den Kopf verkeilen wollte! Die Hauptsache ist und bleibt mir die schöne Natur. Und die haben wir ja hier, nicht wahr, Herr Doktor?«

»Ja wohl«. Jetzt kam Hirsekorn endlich los. Sie reichten sich die Hände über den Zaun, Hirsekorn fühlte, wie kalt die Hand des Mannes war. Und er fühlte diese Hand immer noch, als er schon im Bette lag.

Was der Mann wohl früher gewesen sein mochte? »Rentier« stand in der Einwohnerliste der Gartenstadt. Der Doktor hatte sich bis jetzt wenig um diese Nachbarschaft gekümmert; die Tauben, die auf seinem Dach gurrten, die weißen hübschen Tiere, die sich vom Braunrot der Ziegel und vom Dunkelgrün der Kiefern, sonnenbestrahlt, wie Vögel des Lichts abhoben, und die buntgefiederte Schar der Hühner hinten im Hühnerhof, waren ihm interessanter gewesen, als der Nachbar im mausgrauen Schlafrock. Herr Hippelt hatte eine dürftige Figur und ein alltägliches Gesicht, und doch war auf der gelblichen Stirn, in den spähenden Augen, die tief unter buschigen Brauen lagen, ein so entschlossener kalter Wille, daß der kleine Mann dadurch größer erschien. Und wenn er auch freundlich zu sein sich mühte, das kalte Blau der Augen bekam keinen wärmeren Glanz.

Der Doktor träumte in dieser Nacht von dem Mann nebenan. Der hatte eine ganz kleine Frau, und die duckte sich, wenn er etwas sagte. Alles duckte sich: Gesundbrunnen, Wedding, Oranienburger Tor. Das waren jetzt keine Stadtgegenden mehr – nicht hohe Häuser – dem unruhig Träumenden erschienen sie Personen. Menschen, die sich duckten, Menschen, die ihre Hände zu Fäusten ballten, Menschen, welche schrieen, verzweifelt schrieen.

Von einem unangenehmen Geräusch gestört, wachte Hirsekorn auf. Nebenan bellte der Hund entsetzlich; er mochte wohl eine Katze aufgestöbert haben oder ein wildes Kaninchen. Nun aber hörte man klatschende Schläge, ein jämmerliches Winseln, und dann Herrn Hippelts zornige Stimme: »Willste gleich ’s Maul halten, Lausejunge!«

»Wissen Sie’s schon, Herr Doktor«, sagte Fräulein Zimmer, als sie am anderen Morgen beim Frühstück in der Veranda, die den Blick auf das Nebengrundstück hatte, saßen, »unser Nachbar ist ja gar nicht Rentier. Er ist ein« – sie fuhr sich nach der Kehle und machte eine sehr anschauliche Gebärde. Ihre Miene drückte den größten Abscheu aus. »Nicht weit vom Stettiner Bahnhof soll er sein Bureau haben; da stehen lauter eiserne Geldschränke drin. Der Bursche, der Albert, war gestern in unserer Küche; er ist auch froh, wenn er mal mit einem Menschen reden kann. Und hier hat der Alte auch einen Geldschrank stehen, sagte er. Im Schlafzimmer, dicht neben seinem Bett.«

Eine Handvoll Erde

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