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4.

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Doktor Hirsekorn erwartete den Besuch seines Sohnes. Der Regierungsrat kam zum ersten Mal mit Frau und Kindern; der Kleinen wegen, die früh wieder nach Hause mußten, schon zu Tisch. Fünf Personen, denn die englische Bonne mußte doch auch mitkommen, und zu Mittag, das brachte Aufregung ins Haus.

Fräulein Zimmer flatterte in einem hellen Sommerkleid mit hochgeröteten Wangen schon vom frühen Morgen an aufgeregt hin und her. Daß auch die Mädchen an gar nichts dachten! Seit die vergangenen Sonntag mit dem jungen Menschen von nebenan, dem Albert von Hippelts, aus gewesen waren, hatten sie noch die letzten paar armseligen Gedanken verloren. Natürlich beim Tanz. Glienicke, Stolpe, Birkenwerder, Schützenhaus, Schönfließ, Waldschlößchen – man sollte es nicht für möglich halten, die ganze Gegend war schon verseucht mit Tanzlokalen. Sonst trauten die Mädchen sich abends nicht mehr bis an die Gartenpforte, aber da liefen sie mitten in der Nacht durch den dicksten Forst!

Fräulein Zimmer war sehr ärgerlich; sie hatte Grund, über ihre Mädchen zu klagen. Selbst die Einäugige, in deren Zeugnis als besonderes Lob stand: »Sehr häuslich und solide«, war hier wie losgelassen. Von der siebzehnjährigen Grete, der die Augen im Kopf glitzerten, hätte man’s schon eher annehmen können – »Jotte doch, Fräulein, man will einmal die Woche doch was anderes sehen, als man bloß immer die ollen Kiefern!« – aber daß diese einäugige alte Person sich mit dem jungen Menschen von nebenan so einlassen würde! Schon wieder stand sie am Küchenfenster und schielte hinüber in den Garten, wo der Bursche mit der Gießkanne den Rasen sprengte. Einen Schlauch hatten Hippelts nicht, dazu waren sie zu geizig.

»Pst, Sie, Albert!« Die Köchin winkte ihm mit einem kalten Kotelett.

»Aber Ida!« Die Zimmer rief es sehr scharf. Und doch mußte auch sie den Albert heranrufen. Der Tisch unten im Eßzimmer, an dem sie und Herr Doktor sich gegenüber zu sitzen pflegten, genügte nicht für die vielen Menschen, eine Platte mußte eingelegt werden. Der Tisch war verquollen, vergebens strengten sich die drei Frauen an: Albert schaffte es mit einem Ruck.

Fräulein Zimmer sah erst heute, daß er ein hübscher Mensch war. Und, merkwürdig, sah er nicht trotzdem dem alten Hippelt ein wenig ähnlich? Dieselben verschlagen blickenden Augen. Worin sonst die Ähnlichkeit bestand, konnte man eigentlich nicht sagen, der junge Mensch hatte auch eine so viel größere Gestalt. Schade, daß ihm grade vorn ein Zahn fehlte! Das fiel ordentlich auf. Sollte es wirklich wahr sein, was die Mädchen neulich hatten munkeln hören: Der Diener wäre ein leibhaftiger Sohn vom reichen Hippelt?

Der Bursche stand noch da und ließ seine Augen im Zimmer umherstreichen. Da drückte ihm das Fräulein ein Trinkgeld in die Hand. »Sind Sie nicht eigentlich verwandt mit unserem Nachbar, dem Herrn Hippelt?«

Der junge Mensch lachte laut auf. Aber dann, sich zusammennehmend, verbeugte er sich: »Danke, bestens. Nein, wär ich’s man! Ich putze nur dem Alten die Stiefeln und fege seinen Dreck aus. Meine Mutter war ’ne arme Waschfrau und mein Vater –!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Leben Ihre Eltern denn nicht mehr?«

»Warum meinen Fräulein das? Weil ich hier beim alten Hippelt konditioniere? Na«, er zuckte die Achseln, »man muß doch verdienen. Viel is ’s ja nicht, aber man hofft doch, er wird zulegen. Er muß zulegen. Und denn, Fräulein –« er schoß einen auffunkelnden Blick durchs offene Fenster hinaus – »ich bin sehr für die Freiheit. Wenn Fräulein wieder mal was zu helfen haben«, schloß er unvermittelt an, »ich helfe sehr gerne. Nur daß es der Alte nicht merkt, der denkt sonst schon gleich, man stiehlt ihm was von seiner Zeit!«

Da konnte Herr Hippelt ruhig sein, sie würde seinen Diener nicht weiter in Anspruch nehmen. Fräulein Zimmer beschloß, den jungen Menschen nicht zu oft heranzuziehen; obgleich er ihr ganz gut gefiel. Und daß ein so gewandter Mensch es aushielt bei dem alten Geizkragen!

Pünktlich um zwölf war der Regierungsrat mit seiner Familie erschienen. Schon von weitem hörte man die Stimmen der Kinder; der Großvater war zur Bahn gegangen, um sie abzuholen, sie hüpften an seiner Hand. Und der Schwiegertochter war es sehr heiß: in der Bahn war es auch so unerträglich warm gewesen.

Ihr Mann reichte ihr den Arm: nein, leider, hier gab es keine Elektrische, kein Auto, nicht einmal eine Droschke.

Der Regierungsrat empfand auch die drückende Wärme der Mittagsstunde. Zwischen den Kiefern lastete die Luft; aber er mühte sich, es den Vater nicht fühlen zu lassen, welch ein Opfer dieser Besuch war.

Verstohlen drückte er den Arm seiner Frau: »Liebste Hilda, laß es ihn nicht merken, bitte! Gleich sind wir ja auch da!«

Und die schöne Frau in dem zartlila Kleid nahm sich wirklich zusammen und hatte nur ein mattes, leisspöttisches Lächeln für den Enthusiasmus, den ihr Mann sich aufzubringen mühte.

»Köstlich, wie die Kiefern jetzt duften! Da kann man schon eine Portion Hitze mit in Kauf nehmen. Ein herrlicher Geruch – das reine Fichtennadelbad!« So lobte er, bis sie im Haus am Kieferngrund waren. Aber als der Vater sie dann verlassen hatte, und er mit seiner Frau in einem kühlen, durch Läden geschützten Zimmer war, ließ er sich mit einem so tiefen Seufzer auf einen Stuhl fallen, daß die Hausdame, die der jungen Frau beim Ablegen half, sich förmlich erschreckte: fühlte der Herr Regierungsrat sich nicht wohl?

»Hören Sie mal, Fräulein Zimmer, ist das hier immer so um die Mittagszeit? Die Kiefern geben Öl und der Mensch auch. Wie hält das der Vater bloß aus?!«

»Herr Doktor ist um diese Zeit immer draußen, bei seinen Blumen. Erst nach dem Essen legt er sich ein bißchen hin.«

»Essen wir bald, Fräulein Zimmer?« fragte die ganz abgemattete Frau. »Ich werde das auch tun, mich hinlegen.« –

Es war gut gekocht, die junge Frau hätte gern gegessen, aber sie konnte nicht, die Anstrengung hatte ihr allen Appetit genommen. Und die Kinder waren schlaftrunken; als das kleine Mädchen nicht nochmals von der süßen Speise bekam, wurde es weinerlich, und der Junge schlug ungezogen auf den Tisch: »Ich will aber!«

Der Großvater machte ein undurchdringlich ernstes Gesicht. Die Mutter entschuldigte: »Die Kinder sind eben übermüdet – wir auch – wir werden alle nach Tisch schlafen!«

Nun hatte er Kinder und Enkelkinder draußen und war doch so einsam wie alle Tage! Fräulein Julie Zimmer sah dem Doktor mit Bedauern nach. Da ging er eben in den Garten, die Zeitung unterm Arm, in der Hand die Zigarrenkiste – der arme Mann! Er mochte wohl gedacht haben, der Sohn würde ihn begleiten auf sein Lieblingsplätzchen unter der breitästigen Kiefer. Aber der Regierungsrat war bei seiner schönen Frau.

Eine schläfrige Stille lag über dem Kieferngrund; nur ab und zu gurrte ein Tauber, und vom Hühnerhof her gackelte ein Huhn. Erst als der Kaffee serviert war in der Veranda, die nun im Schatten lag, kam langsam einer nach dem andern zum Vorschein.

Die Zimmer verstand es wirklich, einen Kaffeetisch herzurichten; frischgebackene Waffeln, ein Napfkuchen, reichlich mit Rosinen und Zitronat durchwürzt, und dicke süße Sahne in einem schön geblümten vergoldeten Kännchen. Der Regierungsrat hob das vorsichtig am Henkel in die Höhe und guckte nach dem Zeichen: »Altberliner Porzellan. Daß mir das nur ja in acht genommen wird!« Er lachte. »Das wollen wir mal unversehrt erben, Zimmerchen. Selten hübsch – eine Erinnerung an Alt-Berlin!«

»Und an deine Mutter«, sagte der Doktor. »Ja, wie lebhaft so ein lebloses Stück an einen geliebten Menschen erinnert!« War nicht etwas wie bitterer Hohn in des Doktors Stimme?

»Schade, daß nicht mehr davon da ist«, sagte ganz unbefangen die junge Frau. »Altberliner habe ich mir immer gewünscht; ich finde es viel hübscher als Meißner!«

»Nimm es dir nur mit!« Der Doktor schob das Kännchen über den Tisch, daß die Sahne spritzte.

»Aber lieber Papa!« Die Schwiegertochter wurde ganz verlegen: so hatte sie’s doch nicht gemeint, daß sie, weil ihr das Kännchen so gut gefiel, es auch gleich haben wollte.

Dem Sohn stieg eine leichte Röte in die Stirn: wie der Vater doch gleich so empfindlich war! Warum nur? »Hilda will dich nicht berauben«, sagte er rasch.

»Was soll ich auch mit so einem einzigen Stück!« Es war recht ungeschickt von Hilda, das zu sagen. Denn nun gab der Doktor seiner Hausdame einen Wink: »Sie wissen ja, die zwei Kuchenkörbe! Ich glaube, es sind auch noch verschiedene Tellerchen und Tassen da, die dazu gehören. Packen Sie alles für meine Schwiegertochter zusammen. Sie nimmt es mit.«

Da gab es keinen Widerspruch. Allen Redensarten machte der alte Herr rasch ein Ende mit einem: »Habt euch nicht.«

Es war wirklich nett vom Vater, sich schon bei Lebzeiten dieser hübschen Sachen zu entäußern, in einer Servante, wie sie jetzt wieder modern war, würden sie sich auch ganz anders ausnehmen, als hier in einem alten Küchenschrank. Er hätte nur liebenswürdiger geben können!

Hilda ließ es sich nicht nehmen, das Kännchen selber im Arm zu halten; das übrige durfte ihr Mann zum Bahnhof tragen. Es war ein großes Paket geworden; der Vater hatte noch ein silbernes Tablett hinzugefügt, das Hilda über alle Maßen bewunderte.

»Was ich euch jetzt schon gebe, brauche ich euch dann nicht mehr zu geben«, sagte er mit einem Lächeln, das sie sich nicht enträtseln konnten.

»Wie komisch er das sagte, fandest du nicht, Wilhelm?« fragte Hilda, als sie endlich abfuhren. Jetzt war es schöner draußen, es fing an, erquicklich zu werden; es flüsterte von Freiheit in den Kiefern, und ein großes Rosenbeet, ein Märchen im Märkischen Sand, leuchtete sanft von der milderen Sonne geküßt. Trotzdem mußten sie nach Hause, der Kinder wegen. »Du, ich hatte aber auch genug«, sagte sie.

Der Regierungsrat zuckte die Achseln. »Ja, es ist jetzt wirklich schwer mit dem Vater. Was man auch sagen mag, man stößt an!« er seufzte. »Und doch fühle ich die lebhafteste Verpflichtung gegen ihn; er ist mir immer ein guter Vater gewesen.«

»Gewiß, dem widerspricht ja auch niemand, du brauchst nicht gleich so ein ernstes Gesicht zu machen!« Die Frau nahm die Hand ihres Mannes und streichelte leicht darüber hin: »Wenn du immer so verstimmt wirst, laß ich dich gar nicht mehr heraus. Dann werde ich lieber allein fahren, gegen mich ist er ja sehr nett!« Sie nahm das Paket aus dem Netz, riß das Papier ein Stückchen auf und blickte lächelnd hinein: »Du glaubst nicht, wie ich mich über das Porzellan freue! Besonders aber über das silberne Tablett.«

»Wie die Raben«, murrte Fräulein Zimmer, als sie in dem Schrank räumte, in dem vor kurzem noch das schöne Porzellan gestanden hatte. Warum er das nur alles so weggab, sie wußten es ihm nicht einmal dank?! »Und unsereins freut sich so drüber!« Sie war empört. Sie war längst nicht so gut mehr auf Regierungsrats zu sprechen. Gott behüte, daß die öfters kamen, die schleppten einem ja die halbe Wirtschaft weg! Und die Kinder waren auch schon so: der Hans hatte durchaus ein Kaninchen mitnehmen wollen, und die Kleine hatte ein Täubchen, das sie immerwährend herumtrug, sich nur nach vielen Tränen und heftigem Sträuben von der Miß abnehmen lassen. Und ob der Doktor sehr befriedigt von dem Besuch war? Er war noch nicht vom Bahnhof zurück, er ging wohl noch spazieren. Aber heute beim Abendbrot würde sie ihm einmal auf den Zahn fühlen! Sie warf einen befriedigten Blick um sich: er war jetzt immer sehr nett zu ihr, er hatte ja auch wirklich niemanden als sie!

Doktor Hirsekorn war vom Bahnhof nicht nach Hause gegangen. Hinter den Kiefern glänzte ein großes Licht, das lockte ihn wie eine Verheißung. Was ließ er auch hier zurück? Sein Häuschen, ja, aber das stand ja auch noch, wenn er in ein paar Stunden wiederkam. Und Fräulein Zimmer konnte ihn auch nicht locken, schon heimzukehren. Sie sorgte gut für ihn, sie war nur manchmal zu freundlich; und heute fürchtete er sie. Er wußte es, sie würde ihn in ein Gespräch verwickeln, viele Worte machen: wie reizend die Frau Regierungsrat ausgesehen hatte, wie allerliebst die Kinder – aber hatte Herr Doktor denn nun auch die rechte Freude gehabt von dem Besuch?!

Der einsam Wandernde sah finster vor sich hin: er würde sich diese Frage verbitten. Aber gleich darauf schämte er sich: wie konnte er der Zimmer das übel nehmen, ihr Gedankenkreis war ja so eng, und alles drehte sich um ein bißchen Klatsch. Und um ihn. »Wie haben Herr Doktor geschlafen? Haben Sie auch wirklich gut geschlafen? Sie sehen aber gar nicht so aus, Herr Doktor – also wirklich gut?« O Gott, wie anders hatte Marianne gefragt! Ganz einfach: »Hast du gut geschlafen?« Eine ungeheure Sehnsucht erhob sich plötzlich in dem einsamen Mann. Ihm war, als müßte er die Arme ausstrecken: komm wieder!

Er merkte es nicht, daß er die Straße verlassen hatte, planlos ging er immer zwischen den Kiefern schräg durch. Das goldene Licht, das ihn gelockt hatte, schlängelte sich vor ihm her durch die rotgewordenen Stämme. Wacholderbüsche, die zuerst nur klein waren, je weiter er aber hineinkam, höher und höher wurden, mannshoch, und Farrenwedel am Rock, und ein tiefhängender Ast stieß ihm den Hut vom Kopf. Er behielt den nun in der Hand. Seine Stirn war heiß, Gedanken flatterten dahinter auf wie gescheuchte Vögel. Wie hatte er nur glauben können, daß ihn hier draußen das Denken an sein gewesenes Glück, das Sehnen nach der Verlorenen verlassen würde? Ihn wenigstens nicht so schmerzen wie drinnen in der Stadt. Seine Seele so zerzerren. Er hatte einmal zur Zimmer gesagt, als die sich wunderte, daß er so weit vom Kirchhof fortzog: »Die Sehnsucht ist überall, aber die Natur tröstet uns« – ja, die Sehnsucht war da, aber die Tröstung nicht!

Der Einsame hob den gramvollen Blick, wie suchend sah er umher: so allein, so allein! Da hatte er Kinder: eine Tochter, die zweimal die Woche an ihn schrieb, einen wohlgeratenen Sohn – es war kaum eine Stunde her, daß dieser bei ihm gewesen war – und doch so allein. Er sah sich fröstelnd um. Und er fühlte sich auf einmal ganz alt. So lange Marianne lebte, hatte er das nie gefühlt. Da war er aber auch noch kein Baum gewesen, der einer Stütze bedurfte, da hatte er gestützt. Oder hatten sie sich gegenseitig gestützt? Hatten sie sich umschlungen gehalten wie da, am Rand des Waldes, der dürr werdende Kiefernstrunk und die absterbende Birke?! Er ging darauf zu.

Wie ihn das weich machte, dieses Bild der beiden, dem Tod verfallen. Es ergriff ihn, und doch beruhigte es ihn. Nichts war um diese beiden, kein liebevoll sich rankendes Grün, nur dürre Heide. Und die Birke würde zuerst sterben, halb entwurzelt schon hing sie mit wenigen Wurzeln noch im lockeren Sand. Sie war schon tot. Hier wie dort das gleiche: in dem Leben der beiden, wie in dem seinen. Und dieses selbe Schicksal, war das nicht ein Trost?

Wie zu Gefährten trat er zu den Bäumen heran. Er legte seine Hand an die von Käfern durchnarbte, rissige Borke des Kiefernstrunkes. Noch quoll daraus eine Spur von Saft, aber nicht lange mehr, dann hörte der Lebensfluß auf zu sickern, die Käfer hatten das Mark ausgehöhlt, dann war der Tod da auch für ihn. Und das war der größte Trost.

Mit einem erhellten Gesicht schritt Hirsekorn weiter. Er fühlte es nicht, daß er schon lange gegangen war; der Wald hatte ein Ende genommen und der grüne Boden, aber er ging immer voran, auf armseliger Halde. Auf erhöhtem Bahnstrang sauste ein Zug vorüber, wie ein rascher Gruß der Welt, die sich nicht Zeit nimmt, hier anzuhalten. Durch eine Art von Tunnel, einen kleinen verwachsenen Einschnitt im Damm, kam der Wandernde jetzt hinüber auf die andere Seite des Bahnkörpers. Hier war die Heide noch armseliger. Nichts als Strandhafer, und am Boden hinkriechend hunderte und tausende von winzigen violetten und gelben Stiefmütterchen. Keine Bäume, nur ein bißchen Gestrüpp, ein mit breiten Schwertblättern und Froschlöffel halb zugewachsener Tümpel und, von einem schiefstehenden Zaun eingehegt, ein Stück umgegrabenes Land.

Eine Laube schien hier im Bau, halb fertig stand sie da, Bretter lagen noch umher; ein Bänkchen war gezimmert, Handwerkszeug verstreut. Aber kein Mensch war zu sehen. Nur dort, von der Chaussee her, die in einiger Entfernung zu sehen war, näherten sich jetzt drei Männer. Zwei ältere und ein junger. Als sie an ihm vorbeigingen, grüßten sie ihn.

Umständlich fingen sie an, ihre Joppen auszuziehen und in Hemdsärmeln hemmzugehen; sie taten aber nichts, hoben bloß einen Hammer auf und legten ihn wieder hin, rappelten mit Nägeln in einer Zigarrenkiste, rückten hier an einem Brett, jetzt da, und standen zuletzt alle drei mit untergeschlagenen Armen.

Hirsekorn war auch stehen geblieben: die schienen nicht allzu fleißig. Wenn sie sich nicht beeilten, bekamen sie ihre Laube heute nicht mehr unter Dach.

»Na, mach man, Maxe, mach man!« sagte Arthur Reschke und setzte sich auf das Bänkchen. »Hier, Nachbar!« Er streckte dem andern eine Zigarre hin. »Rauchen Se man, das vertreibt die Mücken. Mein Junge schafft das schon alleine, was Maxe? Los!«

Der junge Mensch warf einen unwilligen Blick nach den beiden, die auf dem Bänkchen nebeneinander saßen, sich mit dem Rücken an die Bretterwand lehnten und die Beine weit von sich streckten. Mißmutig entschloß er sich, langsam mit der Arbeit zu beginnen. Plötzlich schrie er: »Mutter kommt!« und trieb mit kräftigen Hammerschlägen, die die Stille förmlich erschütterten, einen Nagel nach dem anderen in die Pfosten der Laube.

Auf der Höhe der Chaussee war eine Frauengestalt aufgetaucht, umglüht von der untergehenden Sonne erschien sie unnatürlich groß – oder trug sie etwas auf dem Rücken? Über ihrem Kopf ragte es steif und schwarz in die Höhe. Hinter ihr kam noch eine, die schleppte sich auch ab.

Hirsekorn war nicht neugierig, aber an diesen Weibern nahm er Anteil, die sich abschleppten, während die Männer faulenzten. Kolonisten! Ob sie wohl etwas machen konnten aus dieser Scholle? Noch sah es traurig aus. Aber die ältere Frau, die voranging, geduckt unter einer schweren Last von Dachpappe, hatte ein ruhiges, zuversichtliches Gesicht, und das Mädchen, das hinter ihr kam – Herrgott, war das nicht das Fräulein Reschke, die Näherin, die immer zur Zimmer gekommen war?!

»Nein so was – Herr Doktor!« Frida Reschke ließ die alte Tür fallen, die sie wie ein Schild auf dem Rücken trug. Sie hatte es sonst nie gewagt, dem Herrn die Hand zu reichen, aber hier draußen wagte sie es. Hier fühlte sie nicht die gleiche Scheu vor dem über ihr Stehenden wie drinnen in der Stadt. Frei sah sie ihm ins Gesicht; die weiche weiße Rundung der Bleichsüchtigen zeigte ein leichtes Braun, nun röteten sich ihre Wangen tief. Sie schämte sich doch ein bißchen: wie sahen sie aus! Aber dann stellte sie vor: »Meine Mutter! Mutter, das ’s der Doktor Hirsekorn«, – sie verbesserte sich – »der Herr Doktor Hirsekorn!«

»Freut mer sehre!« Mine ließ sich nicht so leicht aus der Fassung bringen, herzhaft schüttelte sie dem Herrn die Hand; als er neben ihr herschritt, trabte sie munter weiter und erzählte ihm dabei, wieviel ihre Frida von ihm hielt, und daß sie sich jetzt die Laube bauten auf dem Stück Land, das sie sich gepachtet hatten. Ein Glück, daß unser Maxe früher freigekommen is von die Soldaten; er war nämlich krank geworden. Die Fridchen un ich alleene, nee, wer hätten’s doch nich geschafft. Mit ’s Bauen, das wurde nischte. Aber nu –!« Ihre Augen strahlten.

Der Doktor lächelte: Die Frau hatte Mut. Es mußte kein Leichtes hier sein.

»Sehn Se, un da kommt unser Garten hin!«

Sie waren beim Bauplatz angelangt, Frida stellte wieder vor: »Mein Vater! Der Max, mein Bruder!«

Herr Arthur Reschke erhob sich von der Bank. Der Nachbar zog die Mütze und drückte sich dann sofort; er war keiner von denen, die mit einem Vornehmen etwas zu tun haben wollen, und daß das einer von denen war, die sich den Schweiß des armen Mannes zunutze machen, das sah er ja gleich auf den ersten Blick. Aber Arthur wußte, was sich gehörte, ganz weltmännisch begrüßte er den feinen Herrn. Frida flüsterte ihm rasch zu: »Das ist der Doktor Hirsekorn, wo ich genäht habe!« Ach was, Hirsekorn oder Haferkorn, was wußte er, wo die nähte! Aber was sich gehörte, gehörte sich nun mal!

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Höflich einladend wies Reschke auf das Bänkchen, und dann stand er vor dem Gast, die Arme untergeschlagen, und pries die Reize seiner Pachtung. In Berlin war es ja zu traurig, nicht mehr auszuhalten, man bekam bloß Staub in die Lungen. Es bedurfte gar nicht der Aufforderungen in der Zeitung und der Anpreisungen, ein jeder fühlte es tief in der Brust: nur auf der eigenen Scholle findet der Mensch sein Glück. »Denn, sehn Se, mein Herr«, Arthur zog die Achseln hoch und streckte die Hände in die Hosentaschen, »Glück will jeder Mensch haben, der Arme wie der Reiche. Un wenn er sich auch bloß danach sehnt – das ’s auch schon was. Wenn ich so an meinem Fenster gestanden habe und roch bloß den Muff vom Hof – na, denn sagte ich mir: man bloß raus, bloß raus!«

Die Frau stand dabei, sie nickte bei dem, was ihr Mann sagte, und sah ihn wohlgefällig von der Seite an. Ja, ihr Arthur, der konnte es aussprechen, was sie nur fühlte! Sie wußte nicht, daß ihr Blick leuchtend sprach, wenn sie ihn hingleiten ließ über das eben umgebrochene Land, das Werk ihrer Hände; über die Laube, darin sie geborgen waren, wenn erst die Dachpappe, die sie eben herangeholt, die deckte, und die Tür, die Frida von einem alten Gartenhäuschen erstanden hatte, ihre Behausung verschloß.

Hirsekorn sah das verarbeitete Frauenantlitz aufstrahlen. Solche Gesichter hatte er früher in seiner Armenpraxis viele gesehen, aber er hatte sie schon vergessen gehabt – über eigener Freude und eigenem Leid. Nun las er wieder die ganze Geschichte solches Frauengesichtes. Er gab Mine die Hand.

Sie drückte die seine kräftig: »Besuchen Se uns ooch mal wieder, Herr Doktor, sonntags sind wer immer hier draußen. Se müssen doch sehn, wie mer’sch vorankriegen!«

Er sah sie freundlich an: »Sie lieben wohl das Land sehr, Frau Reschke?«

»Lieben – ?! Verlangert hat mich darnach mein Leben lang!«

Eine Handvoll Erde

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